Besitz und Innerlichkeit

23. Dezember 2021. Das Fest der Liebe ist auch das Fest der bürgerlichen Norm – und erfüllt hier eine klare, stabilisierende Funktion, bei aller Kerzenscheinromantik. Puderzucker beiseite blicken wir auf ein Fest, das auch nur eins unter vielen ist.

Von Esther Slevogt

23. Dezember 2021. Jetzt ist also Weihnachten. Das Fest der Liebe, der Familie und der Besinnlichkeit. Aber Weihnachten ist auch die Feier des Mainstreams und der Norm. Wer hier nicht hereinpasst, hat es in diesen Tagen schwer: weil der ganze Lichterglanz überall womöglich immer nur eins signalisiert: du gehörst nicht dazu. Weil du aus einer anderen Kultur stammst oder eine andere Religion hast. Oder weil du grundsätzlich anders bist und aus dem Raster fällst, das die bürgerliche Norm bestimmt. Denn Weihnachten leuchtet allenthalben auch das bürgerliche Heldenleben in strahlendstem Glanz.

Die heilige Familie

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass das Weihnachtsfest, wie wir es noch immer kennen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert entstand. Als das Bürgertum sein mächtiges Klassenbewusstsein und daran gebundene Lebensformen und Kulturtechniken entwickelte, zu denen bekanntlich auch das Theater gehört. Damals, im Biedermeier, das auf die Restauration nach den Befreiungskriegen und die gescheiterten Revolten des Vormärz folgte, entstand die (heilige) bürgerliche Kleinfamilie als Ideal und Keimzelle von Gesellschaft und Wirtschaft. Und in Abgrenzung zum Adel und seinem ausschweifenden Lebenswandel, für den etwa die Ehe lediglich der Sicherung der Blutlinie diente, aber sonst keinerlei weitere Verpflichtungen mit sich brachte.

Kapitalismus und Moral

Auch gegen die verwahrlosten Lebensumstände des mit der Industrialisierung jener Zeit entstehenden Proletariats, das sein Klassenbewusstsein erst noch entwickeln musste, ging das Projekt bürgerliche Kleinfamilie in Stellung. Das Weihnachtsfest, das im Mittelalter noch auf den Straßen mit Umzügen und Prozessionen gefeiert wurde, verknüpfte den Kapitalismus mit Religion und Moral, mit radikalem Rückzug aus jeder Form von Öffentlichkeit. Damit kam das Bürgertum in gewisser Weise auch den Bedürfnissen der Obrigkeit nach, die nach der Französischen Revolution und ihr nachgefolgten Bewegungen genug von öffentlichen Umzügen hatte. Jetzt wurden Besitz und Innerlichkeit gefeiert. Und die neue bürgerliche Lebensform.

Weil alle es feiern

Doch für just diese Lebensform riskieren bis heute Tausende von Menschen an jedem einzelnen Tag im Jahr ihr Leben: flüchten aus Kriegsgebieten und Diktaturen, aus Gegenden des Mangels, des Hungers und der Verzweiflung – wo eben ein solches Leben nicht möglich ist. Und sterben nicht selten unterwegs. Denn alle wollen in geordneten Staatswesen leben, die das eigene Leben samt kleiner Besitztümer in ausreichendem Maße schützen. Und haben auch das Recht darauf. Wollen Bürger:innen Europas sein, wo die Lebensform noch immer das größte Versprechen ist, die sich selbst in diesen Tagen feiert. Dabei wurde der bürgerlichen Lebens- und Familienbegriff inzwischen erweitert und bereits ein wenig aus seiner erstickenden Enge befreit. Es gibt Patchworkfamilien mit mehreren Müttern und Vätern aus unterschiedlichsten Geschlechtern. Denn Spießer:in-sein ist ein Menschenrecht.

Weihnachtkritik

Und so könnte Weihnachten eigentlich das große Fest der Inklusion sein. Weil alle es feiern wollen. Und es oft selbst dann feiern, wenn sie keine Christ:innen sind. Weil Weihnachten auch für die zivilisierende Kraft des (gemäßigten + ökologisch verträglichen) Konsums steht. Weil letztlich jede:r in der Lage sein will, in ausreichendem Maße auch seinen Lieben kleine Zeugnisse der eigenen Kaufkraft unter den Baum zu legen und sich daher Staats-und Gemeinwesen wünscht, die eben dies ermöglichen. 

 

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. Außerdem ist sie Miterfinderin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

In ihrer letzten Kolumne fragte sich Esther Slevogt: Was wissen eigentlich Kritiker:innen?

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: christliche Diskurshoheit
Eine mutige, eine riskante, eine durch und durch richtige Kolumne. Die Abwehrreaktionen sind vorhersehbar. Tragisch ist, dass, was als selbstverständlich gelten sollte, als Regelverstoß empfunden wird. Deshalb möchte ich einen Aspekt hinzufügen. Jahr für Jahr beeilen sich meine agnostischen Klassenkamerad*innen jüdischer Herkunft von einst, Weihnachtswünsche zu versenden, also die Geburt Jesu zum Anlass ihrer rhetorischen Pflichtübungen zu nehmen, die Geburt jenes Kindes, dessen spätere Ermordung zwei Jahrtausende hindurch den Juden zur Last gelegt wurde und für die heute noch mancherorts die Juden verantwortlich gemacht werden. Dies, mehr noch aber die Unterwerfungsgeste von Juden unter die christliche Diskurshoheit, nicht die Kritik an Israels Politik, die nicht antisemitischer ist als die Kritik am Vatikan antichristlich, belegt das Fortleben des Antisemitismus. Sie bescheinigt den Juden, leider auch durch Juden selbst, mit der Formulierung von Esther Slevogt: "du gehörst nicht dazu". Und nun: beste Wünsche an alle. Unabhängig vom 24. Dezember.
Kolumne Slevogt: schön für alle
Sehr geehrter Herr Rothschild,
um Himmels Willen, welche "Unterwerfungsgeste von Juden" soll es sein?
Und was soll das mit Israelkritik zu tun haben?
Sicher hängt alles mit allem irgendwie zusammen. Aber Sie rühren hier eine Soße, die mir gar nicht schmeckt.
Ich habe schon ganz oft Weihnachtsfeste in Deutschland erlebt, die sehr christlich geprägt waren, mit Baum, Krippe, Mitternachtsmesse und Chor, an denen auch Jüdinnen und Juden teilgenommen haben. Und der Mainstream war schön für alle.
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