Schaurige Gedanken

6. Juni 2023. Immer mehr Menschen wählen die AfD. Immer weniger Menschen finden den Weg ins Theater. Gibt's da Zusammenhänge? Und vor allem: Was können wir tun?

Von Janis El-Bira

6. Juni 2023. Zwei Umfragen haben die Menschen in der vergangenen Woche beschäftigt. Die eine zeigt, dass 18 bis 19 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung in Deutschland bei der nächsten Bundestagswahl die AfD wählen und sie auf diesem Weg, gleichauf mit der SPD, zur zweitstärksten Partei im Land machen würden. Die andere, wahrgenommen gleichwohl eher von einer Nische, dass rund zwei Drittel der hierzulande lebenden Menschen sich "wenig bis gar nicht" für Theateraufführungen interessieren und vier von fünf der Befragten (ja, das sind 80 Prozent) aussagen, eine solche in den letzten 12 Monaten konsequenterweise auch nicht besucht zu haben.

Nun könnte man die Statistik natürlich auch freundlicher drehen. Indem man etwa entgegenhielte, dass Umfragen keine Wahlen sind und dass auf der anderen Seite nicht weniger als 76 Prozent der Befragten die öffentliche Förderung von Kulturinstitutionen gutheißen, obwohl sie an ihnen persönlich kein großes Interesse haben. Aber das wäre Zahlenkosmetik. Tatsache ist: Das Ergebnis nagt, weil es zeigt, dass etwas nicht stimmt. Dass etwas gerade dabei ist, sich hier wie dort zu entkoppeln.

Letzte Schwellen abbauen

Schnell bei der Hand ist man dementsprechend mit Erklärungsversuchen und Gegenmaßnahmen. Deren putzigste lieferte verlässlich CDU-Chef Friedrich Merz, als er den brühwarmen Gedanken durchs Hirn und sogleich auch die sozialen Medien rauschen ließ, gegenderte Nachrichtensendungen trieben den Stimmenanteil der AfD in die Höhe. Oliver Reese, Intendant am Berliner Ensemble und wahrscheinlich nicht happy darüber, in diesem Text nur wenige Zeilen entfernt von Friedrich Merz aufzutauchen (sorry!), erklärte hingegen stellvertretend für die Betroffenen des Nischenthemas, an seinem Haus wolle man nun unter anderem die Kosten für Garderobe und Programmhefte abschaffen, um letzte Schwellen abzubauen. Auf dass kommen möge, wer bislang weggeblieben war.

Während wir von Merz‘ Kausalschwäche freundlich schweigen wollen, finde ich Reeses Ideen, zu denen auch eine öffentliche Kantine und die Erlaubnis zum Mitbringen von Getränken in den Saal gehören, eigentlich grundsympathisch. Weil er, wie es gute Theatertradition ist, so schön wundenstochernd das Versagen bei sich selbst vermutet. Wenn die Leute nicht kommen, dann sind die Themen die falschen, ist die Garderobe zu teuer und die Kehle beim Zuschauen zu trocken. Dreht man an diesen und ähnlichen Schrauben, dann kommen bestimmt auch die 80 Prozent mal wieder vorbei, die es im vergangenen Jahr kein einziges Mal "geschafft" haben. Wetten?

Jenseits der Sonntagsfrage

Gerne würden auch die Politiker*innen gerade so denken dürfen, wenn sie von Wähler*innen-Wanderung, dem schlechten Image der Regierung oder dem Unvermögen der "großen Parteien" sprechen, die Menschen an sich zu binden. All das, so war in den Tagen nach Veröffentlichung der Sonntagsfrage öfter zu lesen, trage zum starken Abschneiden der AfD bei. Die Menschen seien eigentlich gar nicht rechts, sondern lediglich enttäuscht. Stimmt nicht, halten Extremismusforscher*innen beharrlich dagegen: Menschen wählen rechts, weil sie sich mit rechten Programmen identifizieren. Sie zurückzuholen gestalte sich immer ausgesprochen schwierig.

Wir wollen uns vor unzulässigen Parallelisierungen hüten. Aber was, wenn das, thematisch angepasst, auch fürs Theater gilt? Was, wenn ein ganz signifikanter Anteil der Bevölkerung sich wirklich und ehrlich nicht oder allenfalls noch extrem punktuell fürs Theater interessiert? Wenn die Theater noch so sehr rödeln, ihre Spielpläne anpassen, Kantinen aufsperren und Programmhefte verschenken mögen – und viele trotzdem niemals kommen werden? Schauriger Gedanke, aber man sollte ihn trotz gerade wieder besser gefüllter Häuser nicht verdrängen.

Bitte beim Aus- und Einsteigen helfen

Der Eindruck bleibt: Es stimmt etwas nicht, hier wie dort. Vielleicht braucht es, wo es Aussteiger*innenprogramme gibt, auch Einsteiger*innenprogramme: Wann haben Sie das letzte Mal jemanden mit ins Theater genommen, der oder die sonst niemals gehen würde? Bei mir ist es auch schon eine ganze Weile her.

Machen wir uns doch mal wieder nützlich.

Kolumne: Straßentheater

Janis El-Bira

Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.

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Kommentare  
Kolumne El-Bira: Bildung für alle
Ich hätte da eine Idee... Theater-Bildungsgutscheine für alle, so ähnlich wie es glaube ich in Frankreich gemacht wird... Die Bildschirme sind einfach zu stark...
Kolumne El-Bira: Theobald Tiger
Vielleicht ist es aber auch einfach so:

"Es laufen vor Premieren
Gerüchte durch die Stadt:
Nun kommt, was man in Sphären
noch nicht gesehen hat.
Doch hat der Rummel sich gelegt
– so aufgeregt, so aufgeregt –
dann frag ich still, so leis ich kann:
»Und dazu ziehn Sie 'n Smoking an –?«

Es steigen große Bälle,
und die Plakate schrein.
Man muß auf alle Fälle
da reingetreten sein.
Der Sekt ist warm, die Garderobe kalt.
»Ich glaube, Lo, nun gehn wir bald . . . «
Zu Hause sehn sich alle an:
»Und dazu ziehn wir 'n Smoking an –?«

(...)

Und überhaupt das Leben,
es ist gemeinhin so:
Erst viel Geschrei und mächtiger Zimt.
Sieh nur, wie alles Karten nimmt!
Aber mehrstenteils, o Smokingmann:
Zieh ihn gar nicht erst an! Zieh ihn gar nicht erst an –!"

Theobald Tiger
Die Weltbühne, 18.02.1930
Kolumne El-Bira: Nichts entkoppelt
Es ist besonders schwierig, wenn eine Institution, die sich als psychisch offen für alles und ästhetisch Maßstäbe setzend präsentiert weil so begreift, über Jahre Menschen nicht bedingungslos (abgesehen vom Ticketkauf) in sich hineinlässt. Die bekomt dann - vollkommen zurecht - ein Glaubwürdigkeitsproblem, das größer ist, als sie sich je vorstellen könnte! Und zwar ebenso bei denen, die aus Liebe zum Theater das Masken-, G123- , Onlineissowiesozeitgemäßer- und Abstands-Theater ab 2020 mitgemacht haben wie bei denen, die das schneller gecheckt haben und sich dem Theater schon allein aus politischen Gründen wegen seines Erfüllungsgehilfen-Habitus verweigert. Hier ist absolut gar nichts entkoppelt, sondern ganz und gar natürlich zusammenhängend menschlich: Synergie zwischen Individuum einerseits und Gesellschaft andererseits. Man sollte vielleicht Bildungsgutscheine für Theater-IntendantInnen verteilen. Oder auch für KritikerInnen, was das als ehernes Lebensgesetz angeht...
Kolumne El-Bira: Anstecken
Gute Idee, ich werde beim nächsten Mal jemanden mitnehmen und auch mal wieder Karten verschenken.
Kolumne El-Bira: Getränke mitbringen?
Die Kosten für Programmhefte abzuschaffen - gerne!
Kaufen tu ich die schon lang nicht mehr - zu teuer und nahezu inhaltsleer, zumindest hier in HH. Da werde ich über 'nachtkritik' weitausaus besser informiert.
Aber eine Erlaubnis zum Mitbringen von Getränken - och nö, soweit muss die Anbiederei nicht gehen. Wenn da dauernd meine Nachbarn zur Flasche greifen, deren Inhalt ich nicht kenne, gegebenenfalls aber rieche...dann fehlen nur noch Popcorn und mitgebrachte Brote und alle, bis auf die Schauspieler, haben's so richtig hyggelig.
Kolumne El-Bira: Elitär
Die Anziehungskraft des Theaters erwächst aus dem Elitären, nicht aus dem Egalitären. (Es stoßen sich nur die voneinander verschiedenen, zudem sich gegenseitig mißtrauenden Eliten im Raum. In Großstädten mit mehreren Ensembles kann das funktionieren).
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