Es belebt das Geschäft

20. Dezember 2022. Unser Kolumnist, der Ex-Kritiker, weiß um die Sensibilität seiner Ex-Zunft, wenn sie selbst mal (unsachlich) kritisiert wird. Zurecht wollen alle von allen mit Sorgfalt gelesen werden. Das Kritiker:innen-Bashing ist so alt wie die Kunst-Kritik. Aber, mal ketzerisch gefragt: Wollen wir es wirklich missen? 

Von Wolfgang Behrens

20. Dezember 2022. Manche Werkzyklen brauchen eben ihre Zeit. Vor über 56 Jahren wurde der erste Teil der grundstürzenden, auf sehr lange Dauer projektierten "Beschimpfungstrilogie" uraufgeführt, Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" nämlich. Seit drei Tagen ist nun endlich der zweite Teil in der Welt, Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung". Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie lange wir auf den abschließenden dritten Teil warten müssen, auf die "Kritikbeschimpfung". Wenn es wieder 56 Jahre dauert, werde ich es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr erleben.

Erschütterte Grundfeste

Dabei ist das Material zuhanden, das hat sich gerade im ablaufenden Jahr wieder gezeigt. Das Spiel geht eigentlich ganz einfach: Jemand schreibt eine Kritik über jemanden und lässt ein paar herabsetzende Bemerkungen fallen. Die oder der zweite Jemand ist darob erzürnt, weiß aber nicht wohin mit sich und der Wut – Kantine allein genügt nicht. Irgendwann aber kommt die Gelegenheit – ein Interview, ein zufällig auf dem Bildschirm aufploppendes soziales Medium, ein unterbeschäftigter Medienanwalt –, und sie oder er schlägt zurück. Dann ereifert sich im besten Fall nicht nur der erste Jemand, also die sofort eingeschnappte Kritikerin oder der ebenso eingeschnappte Kritiker, sondern gleich die ganze Zunft: Die Kritik werde von solchen Gegenschlägen der Künstler:innen in ihren Grundfesten erschüttert, ihre Freiheit und Unabhängigkeit seien bedroht und mit ihr das ganze Theater, das augenblicklich verschwinden werde, wenn es die Kritik nicht mehr gibt.

Kill your Darlings

Doch lassen wir das Gotteshaus mal im Dorf. Okay, wenn ein Regisseur und Schauspieler einer Kritikerin zuruft: "Your time is over, Darling!", dann ist das unschön und sollte als Entgleisung benannt werden dürfen. (Andererseits, und diese Klammer sei erlaubt, habe ich schon in einigen Kritiken gelesen, das Theater dieses oder jenes Regisseurs sei definitiv vorbei – das wurde immer aufregungslos hingenommen. Aber – Vorsicht, close reading! – die eigentliche Beleidigung steckt natürlich im "Darling!") Und einem Kritiker mit dem Anwalt zu drohen, weil er ein Kunstereignis nicht als "state of the art" ansieht – so in diesem Jahr beim Kunstfest Weimar geschehen –, ist irgendwie auch nicht in Ordnung, in seiner Steindummheit allerdings auch echt lustig. Wenn wir freilich ehrlich sind, wollen wir das Kritiker:innen-Bashing doch gar nicht missen, denn es belebt das Geschäft.

Glanz und Elend

Und vielleicht haben die Kritiker:innen-Kritiker:innen ja auch ab und zu einfach recht. Klar, aus der Zeit, als ich noch ein Kritiker war, weiß ich, dass man jede allgemeine Äußerung eines Theatermenschen über Kritiker:innen (und alle allgemeinen Äußerungen von Theatermenschen über Kritiker:innen sind abwertend) sofort auf sich bezieht und empört von sich weist. Kleine Empfehlung an die Ex-Kolleg:innen: Es ist für einen persönlich viel bequemer, davon auszugehen, dass die anderen gemeint sind. Und tut nicht so, als würdet ihr die negativen Beispiele nicht kennen! Als nachtkritik-Redakteur habe ich allein für die Kritikenrundschauen so viele Kritiken gelesen, dass mir Glanz und Elend hinreichend bekannt sind – ja, auch das Elend. Wenn eine Kritikkritik ernst machen würde, dann könnte sie manchen bezahlten Rezensionsurheberinnen und -urhebern jede Menge handwerkliche Fehler um die Ohren hauen, inhaltliche Irrtümer, formale Schnitzer, sprachliches Unvermögen, von Lieblosigkeit und mangelnder Neugier auf den Gegenstand ganz zu schweigen. Alfred Kerr hielt die Kritik für eine Kunstform – sicherlich eine sehr hochfahrende Ansicht, doch als kunstnahes Produkt müsste sich Kritik, ebenso wie das Theater, viel häufiger auch harscher Kritik aussetzen. Sie könnte davon lernen.

Ein beliebtes Argument von unter Druck geratenden Kritiker:innen ist übrigens, dass sie missverstanden worden seien, weil nicht genau gelesen worden sei (was übrigens oft stimmt). Aber siehe da: Umgekehrt ist es genauso! Vor etwas über einem Jahr fielen alle über die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses Karin Beier her, weil sie auf Deutschlandfunk bezüglich Kritiken irgendetwas mit "Scheiße am Ärmel" gesagt hatte. Wenn man das heute googelt, findet man die ihr zugeschriebene Formulierung: "Die Theaterkritik ist Scheiße am Ärmel der Kunst." Ein toller Aphorismus auf jeden Fall, und wer weiß, wie viele Theatertoilettentüren (TTTs) er ziert.

Der Anfang des Gesprächs

Nur hat das Karin Beier nie gesagt. Sie hat vielmehr über ihrer Ansicht nach schlecht informierte und trotzdem massiv abwertende Theaterkritiken gesprochen und wörtlich angefügt: "Was dann leider kleben bleibt, also wirklich, wie's schön deutsch gesagt, wie Scheiße am Ärmel – denke ich: Nö, mach' ich nicht." (Kritiken lesen nämlich.) Na gut, transkribiert ist das lange nicht mehr so hübsch aphoristisch, aber vor allem bedeutet es etwas ganz Anderes als "Scheiße am Ärmel der Kunst". Karin Beier sagt da schlicht, aber bildhaft, dass es negative Kritiken gibt, die an den gemeinten Künstler:innen kleben bleiben. Wer will denn da wirklich widersprechen? Und muss man da ein Grundsatzfass über die drohende Abschaffung der Kritik aufmachen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass Kritik dann am besten ist, wenn sie nicht basht, sondern – wie es Nikolaus Merck einmal gesagt hat – sich als "Anfang eines Gesprächs" versteht. Kritik ist Rede und muss Gegenrede aushalten. Manchmal ist Kritik aber auch Bashing (was aus Unterhaltungsgründen ja auch einen gewissen Wert haben kann), und dann muss Kritik auch Gegen-Bashing aushalten. Und aus diesem Gegen-Bashing wird dann in spätestens 56 Jahren das Material zur "Kritikbeschimpfung" montiert. Ich freue mich drauf!

 

Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war

Wolfgang Behrens

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 am Staatstheater Wiesbaden tätig - zunächst als Dramaturg, inzwischen als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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