Gewalt gegen Gewalt

15. September 2021. Wie stellt man rassistische und sexistische Gewalt dar? Braucht es wirklich immer und immer wieder explizit ausgestellte Gewalt gegen nicht-weiße Körper? Es ist Zeit für andere Bilder und Geschichten.

Von Lara-Sophie Milagro

Mit Gewalt gegen Gewalt

von Lara-Sophie Milagro

14. September 2021. Jüngst schlug mir ein befreundeter Kollege eine Stückentwicklung vor, basierend auf dem Roman "Schande" des südafrikanischen Literatur-Nobelpreisträgers John Maxwell Coetzee, der 1999 erschien und noch im selben Jahr mit dem Booker Preis ausgezeichnet wurde. Im Mittelpunkt der in der Post-Apartheid-Ära angesiedelten Geschichte steht der weiße Literaturprofessor David Lurie aus Kapstadt, der nach Sexismus-Vorwürfen seine Stellung verliert und zu seiner Tochter Lucy aufs Land zieht. Dort kommt es zu einem brutalen Überfall, bei dem Lucy von drei, vermutlich Schwarzen, Männern vergewaltigt wird. Auf meine Frage, ob denn nicht die Entscheidung, sich mit Diskursen um Rassismus und Sexismus durch das Werk eines weißen Autors, mit einem weißen männlichen Protagonisten auseinanderzusetzen, exemplarisch für genau die Machtverhältnisse steht, auf denen der Roman selbst aufruht (auch wenn er sie zugleich kritisch beleuchtet), gab er sich optimistisch: "Genau das könnten wir dann ja auf der Bühne thematisieren!"

Schonend und schonungslos?

Wie stellt man rassistische oder sexistische Gewalt und Folter künstlerisch dar und wer inszeniert sie für wen aus welcher Perspektive? Ist es inhaltlich glaubwürdiger und künstlerisch spannender, über die Utopie zu diskutieren oder sie auch selbst als Ensemble und in der Besetzung widerzuspiegeln? Wie schafft man es, die Erinnerung an die Opfer und namenlosen Helden zu wahren, aufzuklären gegen das Vergessen und gleichzeitig sicher zu wandeln auf dem schmalen Grat zwischen dem Anprangern realer Gewalt durch deren schonungslose Darstellung und einer bloßen Reinszenierung des Grauens?

17 NAC Kolumne Visual Milagro V3Was Kunstschaffende und ihr Publikum als angemessene künstlerische Darstellungen von Leid und Brutalität ansehen, ist in erster Linie eine Fragen der individuellen Perspektive und daher kaum allgemeingültig zu beantworten. Dies gilt im besonderen Maße für historische Stoffe und Personen, für Geschichten, die tatsächlich so passiert sind, und Menschen, die Unfassbares durchlitten haben.

Trotzdem oder gerade deshalb haben sich Regisseur:innen immer wieder auch an solche Stoffe gewagt, wobei sowohl die Besetzung als auch die Gewichtung der Täter- bzw. Opferperspektive (einschließlich der Vorstellung davon, wer überhaupt die Täter und wer die Opfer ist) sowie die explizite Darstellung von Gewalt in den letzten 100 Jahren einen drastischen Wandel durchlaufen hat.

Während in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem dokumentarische Stummfilme aus den "deutschen Schutzgebieten" dazu dienten, ein idealisiertes Bild der deutschen Kolonialherrschaft zu zeigen und unter den Nazis in Propaganda-Filmen wie "Quax in Afrika" Schwarze als unzivilisierte Wilde dargestellt wurden, derweil ein ewig blödelnder Heinz Rühmann einen rassistischen Witz nach dem anderen zum besten gab und so vor allem verbale Gewalt verbreitete, präsentierten auch in Hollywood ausschließlich weiße Regisseure in Streifen wie "Uncle Tom's Cabin" (1903, R.: Edwin S. Porter), "The Birth of a Nation" (1915 D.W. Griffith) oder "Gone with the Wind" (1940, R.: Victor Fleming) die immer gleichen Kolonialismus verharmlosenden Narrative inklusive rassistischer Stereotype fröhlicher Sklaven und Dienstmädchen, die ihren weißen Mastern aufrichtig ergeben waren.

Hollywood goes Drastik

Im Gegensatz dazu setzen (Schwarze) Regisseur:innen des 21. Jahrhunderts in Filmen wie "Schindlers Liste" (1994, R: Stephen Spielberg), "12 Years a Slave“ (2013, R.: Steve McQueen) oder "Birth of a Nation" (2017, R.: Nate Parker) vermehrt auf die explizite Darstellung von rassistischer Gewalt bei der Inszenierung historischer Menschheitsverbrechen wie der Sklaverei oder dem Holocaust. "12 Years a Slave" wurde mehrfach preisgekrönt – unter anderem war er für 9 Oscars nominiert und gewann in drei Kategorien – und widerlegte damit nicht nur die Hollywood-Legende des kommerziell unrentablen Schwarzen Protagonisten, sondern bewies auch endgültig, dass eines der dunkelsten Kapitel amerikanischer Geschichte sich sehr wohl als Stoff für einen massentauglichen Kinofilm eignet.

Gewalt gegen nicht-weiße Körper

Spielberg, Parker und McQueen bringen als Meister ihres Fachs und Nachfahren der Gruppen, deren Martyrium sie zeigen, ganz sicherlich die Kunstfertigkeit und Empathie mit, die es braucht, um derart barbarische Ereignisse der Zeitgeschichte darzustellen. Trotzdem habe ich mich bei vielen Szenen gefragt, ob wir als Zuschauer:innen beim Anblick solchen Horrors wirklich zu moralisch-ethischen Einsichten gelangen oder eher zu Voyeuren verkommen, die auf den nächsten Tabubruch warten: wenn wir mit ansehen, wie KZ-Aufseher Amon Göth (gespielt von Ralph Fiennes) als Frühsport-Übung vom Balkon seines Hauses aus Häftlinge abschießt zum Beispiel; oder wenn wir Chiwetel Ejiofor in der Rolle des Salomon Northup dabei zuzuschauen, wie er, eine Schlinge um den Hals und an einem Baum aufgehangen, die Füße berühren gerade den Boden, stundenlang auf den Zehenspitzen tänzelt, um nicht zu sterben.

Natürlich sehe ich in diesem Moment die kolonialen Kontinuitäten, die bis ins Jahr 2021 reichen. Ich sehe George Floyd, ermordet 2020 in Minneapolis, Minnesota, Emmett Till, ermordet 1955 in Money, Mississippi, Amadeu Antonio, ermordet 1990 in Eberswalde, Li Yangjie, ermordet 2016 in Dessau. Ich sehe Eric Garner, Michael Brown, Tamir Rice, Walter Scott, Alton Sterling, Philando Castile, Ahmaud Arbery, Breonna Taylor, Oury Jalloh, Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat – die Liste ist endlos. Aber braucht es für diese Erkenntnis wirklich immer und immer wieder explizit ausgestellte verbale und / oder körperliche Gewalt gegen nicht-weiße Körper?

Wer wir sind, nicht was es bedeutet

"Wir alle wissen, was passiert, wenn ein Film über die Sklaverei auf einer Plantage spielt: Sadismus, Brutalität, sexuelle Perversion", schrieb der Kritiker und Regisseur Morgan Quaintance in seinem im 2014 im Frieze Magaine erschienen Essay "History of Violence". "Was wir nicht wissen und was nie wirklich filmisch umgesetzt worden ist: Wie lebten freie Schwarze Menschen in Amerika während der Sklaverei. Hätte [12 years a Slave] den Fokus auf einen breiteren Kontext gelegt, hätte man nicht nur die Falle der historischen Distanzierung vermieden, sondern auch die Re-Inszenierung allzu bekannter Plantagen Dramen, zeitgenössisch aufbereitet durch einen neuen Realismus der Brutalität."

"Wenn es um historische Dramen geht, dann gibt es in den USA weit mehr Filme über den Zweiten Weltkrieg als über irgendein anderes Sujet. Und Western, natürlich. Aber die Sklaverei wird übergangen", sagte Steve McQueen einmal in einem Gespräch mit der taz 2014, "weniger als 20 Filme zum Thema wurden in den USA gedreht. Ich denke, die Menschen verspüren tiefe Scham. Es ist ihnen unangenehm. Ich kann das sogar nachvollziehen." Geschichten aus der europäischen Kolonialzeit aus der Perspektive der Opfer sind im deutschsprachigen Kino und Theater bisher kaum erzählt worden: zum Beispiel die des Aufstandes der Hereo und Nama (1904–1908), gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia. Oder die von Angelo Soliman, der als Kind von Sklavenhändlern nach Europa verkauft wurde, als Kammerdiener, Prinzenerzieher und hochgebildeter Gesprächspartner unter anderem für Joseph II. von Habsburg und Fürst Franz Josef von Lichtenstein tätig war, bevor er nach seinem Tod 1796 präpariert im Kaiserlichen Naturalienkabinett ausgestellt wurde.

"Es gibt zu wenige Geschichten, die sich mit unserer Menschlichkeit beschäftigen", sagte Hollywood Star Viola Davis in einem Interview 2021. "Hollywood beschäftigt sich stattdessen lieber mit der Frage, was es heißt, Schwarz zu sein ... aber für ein weißes Publikum. Ein weißes Publikum kann sich zurücklehnen und bekommt eine Abhandlung darüber, wie wir sind. Dann verlassen sie das Kino und reden darüber, was das bedeutet. Aber sie sind nicht berührt davon, wer wir sind." Ich hoffe, dass Geschichten wie die von Angelo Soliman nicht mehr über ihre Brutalität, sondern neu erzählt werden.

 

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler:innen-Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.

 

In ihrer letzten Kolumne schrieb Lara-Sophie Milagro über das Schneckentempo der Gleichberechtigung im Kulturbereich und die notwendige Umverteilung von Macht.



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Kommentare  
Kolumne Milagro: auf Anhieb
Bei Angelo Soliman fallen mir auf Anhieb Filme und etliche Theaterstücke ein, welche die Geschichte aus gänzlich unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Von Bert Gstettners Tanzversion mit seinem Tanz*Hotel (und das schon vor Jahrzehnten) bis zum Soliman Stück in Telfs und Markus Schleinzers Film, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur weil es nicht in Berlin stattfindet, gibt es diese Auseinandersetzungen schon ...
Kolumne Milagro: ohne plakative Gewalt
Lara-Sophie Milagro spricht genau an was in vielen, dem kommerziellen Erfolg gewidmeten, filmischen oder darstellenden Arbeiten der Fall ist: Verherrlichung plakativer Gewalt, umgekehrter Rassismus und Verdrängung von gesellschaftlichen Unverhältnissen. In meinen Arbeiten zu Angelo Soliman habe ich versucht die Liebe im Unterschied zu suchen.
http://www.tanzhotel.at/de/produktionen/2010-2020a/soliman-revisited
http://www.tanzhotel.at/de/produktionen/1990er-jahre/angelo-soliman
https://vimeo.com/manage/videos/216492660
Kolumne Milagro: Frage
Danke für den wichtigen Text. Sie bezeichnen Stephen Spielberg auch als „schwarzen“ Regisseur. Basiert das auf einer neuen Definition, die Rassismus-Erfahrungen der jüdischen Mit-Menschen miteinbezieht in die Definition von „Schwarz“-Sein. Ich würde eine solche Sprachregel begrüssen, da (zu oft) - nicht in schriftlichen Erzeugnissen, aber in mündlich geführten Gesprächen - zu hören war, der Holocaust ja sei eine Geschichte „unter Weissen“ und deshalb nicht für alle Menschen von gleicher Wichtigkeit. Fusst diese neue Defintion auf einer Diskursgeschichte, die irgendwo nachzulesen ist? Besten Dank wenn sie hier evtl weiterhelfen können.
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