Sie schreiben, wir lesen

Unsere Leser:innen schreiben Kritiken zu Inszenierungen, ergänzende, entgegen gesetzte, zustimmende oder kritische Kritiken zu Inszenierungen die nachtkritik.de besprochen hat, aber auch zu Premieren, die nachtkritik.de nicht auf dem Plan stehen hat: weil sich an einem Tag die Premieren ballten, weil wir andere Aufführungen an diesem Tag wichtiger fanden oder aus anderen Gründen.

Die aktuellsten Leser:innenkritiken stehen ganz unten:

 

Kommentare  
Leserkritik: Money talks von Arty Chock am Landestheater Marburg
Theater an der Grenze des Unergründlichen: Wohin verschwindet das Geld?
MONEY TALKS - Eine performance noir vom Frankfurter Kollektiv Arty Chock uraufgeführt am Hessischen Landestheater Marburg

Als ich nach knapp vier Minuten die schäbige Kabine des Pornofilmverleihs mit ihrem roten Plastiksitz verlasse, zwängt sich schon der nächste Kunde an mir vorbei hinein in den beengten Raum des Begehrens. Ich denke kurz, dass es doch mehr als diese eine Kabine geben muss, wundere mich dann aber nicht weiter über die Vorstellung, dass es besonderes Vergnügen bereiten mag, sich die Multi-Video-Sex-Show auf vorgewärmtem Sessel reinzuziehen. Doch jener Mann, der eben noch nach mir in die Kabine gegangen ist, steht wenige Sekunden später vor mir auf der Straße, als ich den Erotikschuppen verlasse. Der Mann blickt mir in die Augen, ich handele wie angewiesen und stecke meine Kopfhörer ins Ohr. Die vertraute Stimme meiner Gedanken wiegt mich in Sicherheit – obgleich ich angetreten bin, eine massive Glaubenskrise zu durchleben. Ich folge jener Macht, die das Denken und Handeln der globalisierten Welt bestimmt: dem Geld. Dabei habe ich schon lange den Überblick verloren. Seit Spaniens Immobilienkrise und dem Kollaps der Lehman Brothers frage ich mich, wohin das Geld verschwindet. Doch zu kaum einer anderen Zeit als jetzt könnte dies ein komplexeres Vorhaben sein: Zypern, Griechenland, Double A und OffshoreLeaks – aber wo laufen die Fäden in Marburg zusammen?
Das Frankfurter Theaterkollektiv Arty Chock hat eine "performance noir" am Theater Marburg inszeniert, "Money Talks – Über Geld spricht man nicht" und schickt die Zuschauer einzeln auf eine zweieinhalbstündige Tour durch die nächtliche Stadt, um der Macht des Geldes auf die Spur zu kommen. Dabei führt schon ihr erster Schachzug mitten hinein in die Ästhetik des film noir: In nur wenigen Minuten nimmt der Zuschauer die Identität des etwas verwahrlosten Privatdetektivs Spencer Lux an, der in seinem Hotelzimmer auf eine reiche Ansammlung von Theorien, Zeitungsausschnitten und Hinweisen über die Macht des Geldes stößt. Dort erhält er den entscheidenden Anruf. Spätestens als ich den grauen Trenchcoat übergeworfen und mir den Hut in die Stirn gezogen habe, bin ich bereit zu glauben, dass dies mein Auftrag ist: der Spur des Geldes zu folgen.
Doch wo ist das Geld geblieben? Jage ich nur einem Phantom nach oder ermittele ich gegen die Grundbedingung unserer gesellschaftlichen Realität? Stimmt es, wenn die Finanzindustrie und mit ihr die Politik behauptet, das Geld aus der Krise sei verbrannt, verpufft, verschwunden? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Finanzkrise zwar riesige Vermögen vernichtet hat, die Milliarden aber nicht verschwunden, sondern längst neu verteilt werden? Aber wohin? Arty Chock lotst mich durch eine mir unbekannte Stadt, vorbei an den Machtzentralen der Kapitalindustrie, die gleich neben den Geisterstädten der Immobilienkrise liegen, auf einen kurzen Besuch in die heiligen Hallen der Kirche, hinein in die Welt der ewigen Glücksversprechen: Was hat es mit der Geschichte des Sterntalermädchens auf sich? Und warum ist diese ökonomisch völlig irrationale Geschichte ausgerechnet auf dem wichtigsten Schein der alten BRD? Und wo wir gerade bei der Zahl Tausend sind: Woher rührt die Macht der Zahl Null? "Geld ist unangreifbar, denn einen Wert hat es nicht" – tönt es über die Kopfhörer in meine Gedankenwelt.

Der Mann aus dem Pornofilmverleih folgt mir. Sollte mich das irritieren? Hatte mich das Wesen des Geldes nicht schon längst infiltriert, dass ich diesem schmierigen Typen nicht über den Weg traue? Hatte ich nicht eben noch auf die Verführungen der Erotikindustrie und deren Verstrickungen mit dem Geld, in das mich ein anderer Performer versucht hatte hinein zu ziehen, eiskalt "Liebe ist kälter als das Kapital" geantwortet? Arty Chock legt ein dicht gesponnenes Verweissystem über die Stadt und gibt keine einfachen Antworten, sondern erweckt in mir das Begehren, dem Gespenst des Kapitals immer noch einen Schritt hinein in das Unergründliche folgen zu wollen. Trotzdem: irgendetwas stimmte hier nicht. Doch dem Theater zu glauben, hatte ich das nicht schon vor einiger Zeit aufgegeben? "Nicht auf das Gewinnen kommt es an, sondern auf die Möglichkeit des Verlierens" – ruft mir meine innere Stimme ins Gedächtnis. Das ist die radikale Herausforderung an den ko-produzierenden Zuschauer. Denn am Ende ist nichts geklärt. Das Geld ist der Anfang und das Ende. Aber nie gleich viel.
Weitere Aufführungen in Planung.
Leserkritik: Ein Floh im Ohr von Georges Feydeau im Berliner Ensemble, 20. Mai 2013
Nobody called? - Feydeaus "Floh im Ohr" bleibt in der eher gebremsten Regie von Philip Tiedemann am Berliner Ensemble merkwürdig anschlusslos.

Gute Unterhaltung ist Mangelware an den Theatertempeln der subventionierten deutschen Hochkultur. Obwohl man sich schon hin und wieder mal am gut gemachten Boulevard versucht. Neben zeitgenössischen deutschen Autoren wie David Gieselmann und Lutz Hübner, dem Briten Alan Ayckbourn oder auch der Meisterin des französischen Edelboulevards Yasmina Reza, die in ihren Komödien aber immer auch eine tiefere Metaebene einziehen, eignen sich dabei besonders die französischen Autoren der Belle Époque wie Eugène Labiche oder sein Bewunderer Georges Feydeau, der das Vaudvilles immer gegen die Hochkultur verteidigt hatte.

Um der Hölle der bürgerlichen Freiheit zu entkommen, ging der vergnügungssüchtige Familienvater von jeher gerne in den Puff und daheim zum Lachen in den Keller, oder eben auch ins Boulevardtheater. Da war es fast schon zwangsläufig Bedingung, dass neben dem festgefügten bürgerlichen Weltbild auch die Hosen ordentlich ins Rutschen geraten durften. Dazu bedarf es natürlich, um nicht auch noch das Niveau allzu tief sinken zu lassen, eines glücklichen Regiehändchens und einer gut geschmierten Theatermaschinerie vor und hinter den Kulissen. Was leicht wie Schmiere aussieht, ist also durchaus handwerkliche Schwerstarbeit, und davor steht natürlich noch der mit der nötigen Begabung fürs Feine und Grobe versehene Autor, der in seinen Stücken das Uhrwerk so genau einzustellen weiß, dass es auch an den richtigen Stellen gongt, sprich Witz und Situationskomik überhaupt erst zünden können.

Und so ein Meister der guten Theaterschmiere ist eben der bereits erwähnte Georges Feydeau. Dabei durchlebte er seine, die Doppelmoral des Bürgertums entlarvenden Komödien, geradezu am eigenen Leib. Je nach Erfolg seiner Stücke bewegte sich der Autor in gehobeneren oder weniger solventen Kreisen, und beendete sein Leben als geschiedener Mann, der die letzen Jahre seines Lebens in einem Hotel verbrachte, infolge einer Syphiliserkrankung geistig umnachtet. Feydeaus bekanntestes und auch immer wieder auf den Spielplänen der subventionierten Stadttheater stehende Stück ist die schwankhaft-groteske Komödie „Der Floh im Ohr“.

Das Berliner Ensemble öffnet sich damit nun auch ganz offiziell dem breiteren Publikumsgeschmack. Was nicht weiter erwähnenswert wäre, würde man hier nicht geradezu immer wieder den Hort der politischen Widerständigkeit gegen jegliche programmatische Verflachung ausrufen. Mit Regisseur Philip Tiedemann hat man dann auch den Mann gefunden, der bereits mehrfach bewiesen hat, siehe seine Inszenierungen der Schillerversion „Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen“ nach der Komödie des Franzosen Picard oder von Bernhards „Immanuel Kant“, dass er einer boulevardesken Figurenzeichnung nicht abgeneigt ist, und den Spagat zwischen E und U mühelos hinbekommt.

Philip Tiedemann befindet sich mit seiner Idee Feydaus Klamotte „Floh im Ohr“ auf die große Bühne des BE zu hieven in prominenter Gesellschaft. Wie bereits Martin Kušej 2004 am Thalia Theater Hamburg und Dieter Dorn 2006 am Resi in München verwendet er dabei die moderne Übersetzung von Elfriede Jelinek. Die französische Boulevardkomödie hat tatsächlich einen gewissen Reiz auf die österreichische Autorin ausgeübt, und sich mit Sicherheit auch in den oft endlos kalauernden Wortkaskaden ihrer Theatertexte niedergeschlagen.

Die scharfe Kritikerin bürgerlicher Abgründe ist von Detailreichtum, Komplexität und Zeichenhaftigkeit der Sprache gleichermaßen fasziniert, wie von der rasanten Schnelligkeit und der Tatsache, das nach dem kurzen Durchrütteln der bürgerlichen Konventionen alles wieder auf den Ausgangspunkt zuläuft. Der Bürger als Hamster im Rad der gesellschaftlichen Konventionen, wie sie es beschreibt. Die Komik speist sich bei Feydeau aus der Verzweifelung der Figuren, mit der sie ihre Fehltritte zu vertuschen suchen, um dabei doch nur in Höchstgeschwindigkeit scheinbar immer tiefer im Strudel um die eigenen Lügen zu versinken.

Der „Floh im Ohr“ von Raymonde (Swetlana Schönfeld), der Ehefrau des Rechtsanwalts Victor-Emmanuel Chandebise (Joachim Nimtz), ist die irrige Annahme, dass ihr Gatte, der sie scheinbar absichtlich vernachlässigt, eine Affäre haben muss. Beweis sind ein paar Hosenträger, die ihr aus dem berüchtigten Etablissement „Zur Zärtlichen Miezekatze“ mit der Post zugeschickt wurden. Ihr Plan ist es, mit Hilfe eines anonymen Liebesbriefs, den ihre Freundin Luceinne (Marina Senkel) schreiben muss, den untreuen Ehemann zu überführen. Daraus ergeben sich naturgemäß die allerschönsten Verwicklungen. Die verklemmte Moral wirft im Verborgenen ihre Hosenträger ab und stolpert sogleich über die heruntergelassenen Hosen.

Der eigentliche Besitzer der Chandebise’schen Hosenträger ist allerdings der Cousin des Hausherrn Camille, der überdies einen veritablen Sprachfehler besitzt (Thomas Wittmann beherrscht das konsonantenlose Sprechen praktisch wie aus dem Effeff), und ohne Hilfsmittel des zwielichtigen Dr. Finache (Uli Pleßmann) nicht viel zur Aufklärung beitragen kann. Der in Liebesdingen Benachteiligte benötigt etwas erotische Nachhilfe, die er sich auf Anraten des Arztes in den Armen „zärtlicher Miezekatzen“ erhofft.

Weiterhin verwickelt sind der bisher verschmähte Verehrer von Madam Chandebise und Freund Victor-Emmanuels, Romain Tournell (Veit Schubert), der für den Vorsichtigen das Rendezvous wahrnehmen soll, und der sich ebenfalls gehörnt glaubende spanische Gatte von Luceinne, Carlos Homenides de Histangua (Jakob Schneider). Für vollkommene Verwirrung bei allen Beteiligten sorgt noch, dass der versoffene Portier des verruchten Hotels, genannt Poche, Rechtsanwalt Chandebise wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Joachim Nimtz brilliert in dieser Doppelrolle mit schnellem Wechsel von Körperhaltung, Sprache und Kostüm.

Wie in jeder richtigen Boulevardkomödie klappen nun auch am BE die Türen und Bodenluken auf und zu, drehen sich Betten und verschwinden die Figuren damit im Bühnenboden, geben sich Herrenzote und Unterleibswitz die Klinke in die Hand. Nach anfänglichem Geplänkel und Ränkeschmieden im Hause Chandebise dreht die Klamotte erwartungsgemäß im 2. Akt bei den „Zärtlichen Miezekatzen“ auf. Sehr routiniert und gut geölt läuft die Bühnenmaschinerie mit einer variabel verschiebbaren Lattenwand (Bühne: Norbert Bellen), die neben den Türen noch Platz zum Durchschlüpfen lässt und den Akteuren auch als Klettergerüst dient.

Die ganze Personage versammelt sich zum nicht ganz freiwilligen, amourösen Tänzchen im besagten Hotel. Männer stammeln, Damen kreischen. Klischee reiht sich an Klischee. Der Holzhammer regiert und Fußtritte sind noch immer probates Mittel für Schenkelklopfer. Ein riesiger Rugbyspieler gibt den nach erotischen Abenteuern gierenden Engländer gleichen Namens, der sich auf alles was noch einen Rock trägt mit eindeutiger Pose stürzt. Der eifersüchtige spanische Ehemann trägt seinen Colt wie ein mexikanischer Pistolero, und kaut dabei bedrohlich auf seinem Akzent herum.

Feydeaus frecher Floh beißt sich fest im Ohr aller Beteiligten und versucht auch den gewagten Sprung ins Publikum, das bislang nur vereinzelt zu Lachen wagte. Dabei halten sich innere Abwehrhaltung und der Wille zum Amüsement vorerst die Waage. Allein das Karussell der Verwicklungen dreht sich dann doch etwas zu vorhersehbar. Man merkt dem Floh seine Jahre an, die er auf dem Buckel trägt. Der Sprung in die Gegenwart gerät leider etwas zu kurz. Tiedemann lässt der Farce auch nicht vollends ihren freien Lauf, bewahrt sie vor dem unkontrollierten Durchdrehen.

Zu durchsichtig scheint heute diese Verwechslungskomödie, als dass sich daraus die nötigen Funken schlagen ließen, um einen Hochkultur-gesättigten Bildungsbürger noch aus der Reserve locken zu können. Obwohl die moralischen Hosenträger auch weiterhin festgezurrt am Körper sitzen, scheinen uns heute das vorübergehende Ausbrechen aus starren Ehe-Konventionen oder ähnlich lächerliche Befindlichkeiten, wie die Angst vor dem Skandal, der noch die Figuren in Feydeaus Komödien antrieb, doch eher kalt zu lassen. Trotzdem ein warmer Applaus für das aufopferungsvoll kämpfende und ausgelassen hüpfende Floh-Ensemble.
Leserkritik "Floh im Ohr": Word-Watch
"Vaudeville", nicht "Vaudvilles"!
Leserkritiken: Dank
Vielen Dank Herr Steckel. Einmal stimmt's. Im Genitiv darf ich das s aber wieder anhängen, oder?
Leserkritik: Wir lieben und wissen nichts, Theater Bern, bei den ATT Berlin
Moritz Rinke: Wir lieben und wissen nichts, Theater Bern (Regie: Mathias Schönsee)

So ganz neu ist die Konstellation nicht: Zwei Paare treffen sich und schon bald nach Austausch der ersten Höflichkeitsfloskeln, fliegen die Fetzen, entstehen volatile, sich immer wieder verschiebende Konstellationen, werden Geheimnisse und Lebenslügen hervorgespült, die harmonische Fassade eingerissen. Edward Albees Who’s Afraid of Virginia Woolf? ist noch immer der Meister aller Klassen dieses Sub-Sub-Genres, Yasmina Reza feierte vor einigen Jahren damit in ihrem Gott des Gemetzels einen Welterfolg. Nun nimmt sich Moritz Rinke dieser Konstellation an und feiert mit Wir lieben und wissen nichts nach sieben Jahren Pause seine Rückkehr auf die Theaterbühne. Vieles ist bekannt: Angesiedelt ist das Stück in der gehobenen Mittelschicht, zumindest ein paar hat den üblichen Akademikerhintergrund, auch hier würfeln sich die Paare munter durcheinander, gibt es Geheimnisse aufzudecken, selbst ein (noch) nicht existierendes Kind spielt eine Schlüsselrolle. Hinzu kommt der Konflikt alt gegen jung, Konservativismus gegen Moderne aus Tschechow und auch Ibsens Lebenslügendramen dürften eine Rolle gespielt haben. Das kommt an: Schon wenige Monate nach der Frankfurter Uraufführung wird es munter auf deutschsprachigen Bühnen nachgespielt.

Die Schweizer Erstaufführung hat Mathias Schönsee am Theater Bern besorgt und im Rahmen der Autorentheatertage hat sie jetzt auch Berlin erreicht. Und hier treffen wir sie also: den Kunsthistoriker Sebastian und die Atemtherapeutin Hannah, die im Rahmen eines Wohnungstauschs auf den Ingenieur Roman und die Tierphysiotherapeutin Magdalena treffen. Womit auch schon ein wenig über die Subtilität der Versuchsanordnung gesagt ist: Beide Paare sind schön durchmischt: der Karrierist Roman, der auf das Klare und Genaue der Technik setzt und jeden neuen Schnickschnack sofort kauft, und die Atemtherapeutin, die bei Zen-Meistern lernte und ihr Wissen jetzt Bankern angedeihen lässt, stehen für die kapitalistische Wirklichkeit, für Pragmatismus, für die weltweite Vernetzung. Wo Roman die ganze Welt zu einem riesigen Informations- und Kommunikationsraum machen will, reichen Sebastian ein Stuhl und ein paar Bücher für sein leeres Arbeitszimmer, das er “Bewusstseinsraum” nennt. Er, der sich lieber mit Orgien von Renaissance-Päpsten befasst, als die Koffer zu packen, steht zusammen mit Tierliebhaberin Magdalena für den Blick zurück, für Technikskeptizismus, für die Erhaltung des Vergangenen, für Entschleunigung und Entnetzung. Natürlich kommen sich die Interessensgleichen näher und natürlich geht das nicht gut. Das ist zuweilen ein wenig plakativ und kann sich auch nicht so recht emanzipieren von den berühmten Vorbildern. Da werden genüsslich Geheimnisse ausgepackt, die auch nur selten über das übliche Repertoire hinausgehen.

Dass Wir lieben und wissen nicht dann aber doch mehr ist als eine schlechte Kopie, hat mehrere Gründe. Einige liegen im Stück selbst, andere in Mathias Schönsees Inszenierung. Dieses ist klar als Komödie angelegt, hat starke komische, auch ironische und satirische Momente. Natürlich sind diese Figuren lächerlich, vor allem die Männer: Roman in seinem Überlegenheitsgefühl, das sich durch nichts rechtfertigen lässt, Sebastian in seiner Diskrepanz aus intellektuellem Anspruch und der Tatsache, dass sich seine Autorenkarriere bislang auf Vorwörter beschränkt hat. Rinke findet eine Balance aus Ernst und Leichtigkeit, die das Stück davon abhält, ins Beliebige zu fallen. Schönsee tut gut daran, diesen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Inszenierung zu stellen, ohne dies durch oberflächliches Knallchargentum oder karikaturhaftes Überzeichnen zu tun. So gelingen wunderbare Porträts hinter der Verwirklichung des eigenen Selbstbildes oder den vermuteten Anforderungen des wirtschaftlichen und beruflichen Hamsterrads hinterherzuhecheln, aber auch hochkomische Studien des zwischenmenschlichen Kommunikationsversagens.

Fortsetzung unter: http://stagescreen.wordpress.com/http://stagescreen.wordpress.com/2013/06/09/hamsterrad-im-bewusstseinsraum/

(Sorry, aber das System sagte mir, der Beitrag sei zu lang :-))
Leserkritik: Breiviks Erklärung
Die Angst vor dem Breivik – in uns

Modernes Theater provoziert gern. Spielt mit Tabus und überschreitet unsichtbare moralische Grenzen, bis ein Theaterleiter oder Raumanbieter in die Skandalfalle tappt. Und die Stückemacher des Hauses verweist. Dann nährt der Skandal das Stück: Mediale Aufmerksamkeit statt heimlicher Zensur.

Und um Zensur und das Ignorieren mißliebiger Meinungen und Ansichten geht es in Anders Behring Breiviks Rede vom 17. April 2012. Im Verschweigen, Verdrängen, Mißachten der „anderen“ - auch seiner - Meinung in den Medien sieht der norwegische Terrorist eine undemokratische Geste und Situation, die seine Taten, die er als Notrecht versteht, heraufbeschworen haben. Seine Rede vor dem Osloer Gericht wurde vier mal von der Vorsitzenden Richterin Wenche Elisabeth Arntzen unterbrochen, wegen Ablesens („Es sind nur Zitate“), der Wortwahl („Es wird nicht schlimmer“) und zweimal wegen Zeitüberschreitung („Dann sehe ich keinen Sinn darin, mich überhaupt zu erklären!“). Zum Schluß, er hatte noch drei Seiten vor sich, unterbrach ihn die koordinierende Opferanwältin Mette Yvonne Larsen. Bei ihr hatten sich zahlreiche Betroffene darüber empört, daß Breivik Gelegenheit bekommen habe, sich so darzustellen.

Und diese Rücksicht auf die Opfer und Hinterbliebenen ist die Motivation des Tabus, Breiviks Reden zu zeigen oder aufzuführen. Doch haben die Hausherren in Weimar, München und Berlin mit dem Hinauswurf von Milo Rau mit seinem Dokumentarstück „Breiviks Erklärung“ damit wirklich auf die norwegischen Betroffenen Rücksicht nehmen wollen?

Ist es nicht eher so, daß sie – ganz wie Breivik es beschrieb – damit eine unangenehme, unbeliebte oder gar mißliebige Meinungsäußerung unterdrücken wollten? „Aus Angst vor Applaus an den falschen Stellen“, wie es der Rheinland-Pfälzische Justizminister Jochen Hartloff (SPD) nach der Aufführung am 18. Juni 2013 in Mainz ausdrückte. Der Sozialdemokrat war zudem von dem „großer Überbau“ erschrocken, und auch der Mainzer Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder zeigte sich von Breiviks „enormer Belesenheit“ überrascht.

Die Rede Breiviks verlor durch die Bearbeitung zu dem Theaterstück die dramatischen Unterbrechungsdialoge, einige Wiederholungen und Details – gewonnen hat sie dadurch aber an Klarheit in ihrer Aussage. Losgelöst vom Täter durch den Vortrag der deutsch-türkischen Schauspielerin Sascha Ö. Soydan, entfernt von den Taten in Norwegen durch die deutsche Sprache, abgekoppelt von den Fernsehbildern durch das schlichte Bühnenbild bleibt eine politische Rede übrig. Eine Rede, deren Teile so auch auf der Straße, an Stammtischen, in Zeitungen wie der „Jungen Freiheit“ oder Büchern des Sozialdemokraten Thilo Sarazzin wiederzufinden sind. Auch im Theaterpublikum fand sich spontan Zustimmung zu einzelnen Positionen Breiviks: Teile der Bevölkerung würden nicht gehört, es gäbe Angst vor den Veränderungen bis hin zu
„Davon kann ich vieles unterschreiben“.

Und das ist der Punkt, den Milo Rau mit seinem provokanten, aber nach Ansicht Kreuders gefahrlosen, Theaterstück bei den Zuschauern erreichen will: Die Erkenntnis, daß viele der Thesen Breiviks Allgemeingut sind. Die Tabuisierung der Aussagen Breiviks sind nur der Selbstschutz vor dieser Selbsterkenntnis, die Angst vor dem „Breivik in uns“.
Leserkritik: Unter Drei. Beate, Uwe und Uwe – im Ballhaus Ost Berlin
„Unter Drei. Beate, Uwe und Uwe“ im Ballhaus Ost. Ein Schauspiel zwischen medialem Kult, schwarzer Boulevardkomödie und deutscher Geschichte

Da steht er vor uns, der nackte blanke Wahnsinn, gekleidet in einen frotteeweichen, weißen Bademantel der häuslichen Normalität. Und das gleich mal drei. Das Ballhaus Ost zeigt „Unter Drei. Beate, Uwe und Uwe“. Der Leipziger Schauspielers Andrej Kaminsky ist Beate. Eva Bay und Gina Henkel geben die beiden Uwes. Regisseurin Mareike Mikat und Autorin Olivia Wenzel haben ein Theaterstück erarbeitet über die Zwickauer Terrorzelle, die gemeinsam sieben Jahre lang den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) bildete und seit dem spektakulären Doppelselbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Schlagzeilen durch die bundesdeutsche Presse geistert. Übrig geblieben ist der weibliche Teil des Trios, Beate Zschäpe, die gerade im Begriff ist, im Zuge des NSU-Prozesses ihre zweite Medienkarriere zu beginnen. Der Teufel im Look einer Beate Mona Lisa.

Die von der Presse kreierte Bezeichnung „Döner-Morde“ schaffte es 2011 sogar zum Unwort des Jahres. Für den halbwegs vernunftbegabten Mensch wird es da schwierig Hintergründe zu deuten und Begriffe richtig einzuordnen oder gar die Wahrheit hinter all den Schlagzeilen, Spekulationen und angeblichen Fakten zu erfassen, die hier noch einmal auf uns niederprasseln. Die drei Täter fläzen dabei auf einem bequemen Sofa und werfen dem Publikum ihre ganze Verachtung entgegen. Sie haben gehandelt, während wir in unserer verkackten Mittelmäßigkeit allabendlich vor dem Laptop sitzen. Ihre Botschaften sind so simpel wie gefährlich. Was letztlich im Spiegel der Medienberichte davon übrig bleibt, ist ein von jeglichen Inhalten befreiter, medial aufbereiteter Brei aus schwarzem Boulevard und sexueller Fantasie. Wie geschaffen für die theatrale Verwurstung. Sieg geil!

Die Hasstiraden der drei werden mit einem fast spießigen Familienleben zu dritt konterkariert. Beate kocht für ihre Jungs. Hm, ganz köstlich. Und Böni, der noch beim Kaffeetrinken mit der Großmutter von „Negerschweiß“ redet, zieht daheim OP-Überzieher über seine Springerstiefel. Jährlich fährt das Trio in den Sommerurlaub nach Fehmarn und täuscht unter den Namen Lisa, Max und Garry für Wochen ein normales Leben vor. Auf der Videowand sieht man Meer und Strand, die Darsteller wiegen sich im Wind und amen Möwen nach. An den Wänden hängen gehäkelte Verballhornungen dieser deutschen Gemütlichkeit. Auch Goethe kommt zu Wort und Adorno. Sein „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ bekommt hier noch mal eine ganz andere Dimension. Oder sogar die einzig richtige.

Das Stück lässt nichts aus. Es greift viele, vielleicht zu viele Themen auf, stellt aber auch unbequeme Fragen. Was ist eigentlich los mit den Ostdeutschen, was wollen die und wer sind die? Der unbekannte Osten als Keimzelle des Rechtsradikalismus? Der ewige Ossi mit dem viel zu kleinen Pimmel, der gegenüber dem dicken Schwanz des Wessis immer den Kürzerer zieht und sich über den Mustafa im BMW wundert. Der Türke im „Baader-Meinhof-Wagen" hat einen Schwanz mit Vanillegeschmack, die Skorpiens singen „Wings of Change“ und Moral ist die kollektive Wahnvorstellung einer Mehrheitsgesellschaft. Das ist der Theaterstoff für viele Jahre und ganz großes Kino mit Moritz Bleibtreu, Daniel Brühl und Nora Tschirner in ihrer ersten ernsthaften Rolle. Die Tränen von Iris Berben sind ihnen gewiss. Der Rest ist das Schweigen der Beate Z, der stolzen Nazi-Witwe.

Obwohl die Truppe mit Uwe Mundlos, der trotz der langen Haare sogar Meese mag, so etwas wie einen gebildeten Kopf besitzt, gibt es eigentlich keinen wirklich intellektuellen Hintergrund. Genau wie bei Anders Breivik werden nur die altbekannten Vorurteile einer faschistisch chauvinistischen Ideologie reproduziert. Und das ist bei allen schrecklichen Gemeinsamkeiten wohl der große Unterschied zum anderen Terrortrio der bundesdeutschen Geschichte. Im Gegensatz zur Baader-Meinhoff-Gruppe fehlt es ihnen an einer echten Utopie. Dass die finsteren Gedanken aber direkt aus unserer Mitte entspringen, lässt noch einmal eine der früheren Bekannten des Trios erkennen, die klar zwischen guten Ausländern, die wie Deutsche grillen und ackern, und schlechten in Asylbewerberheimen unterscheidet. Für sie wird Beate Zschäpe immer ihre Lisa bleiben, dieser herzensgute Mensch.

Die Opfer erscheinen zunächst nur als geisterhafte Schattenrisse hinter einer Wand aus Pergament. Als Slapstick-Spiel des Unvorstellbaren beleuchten Eva Bay und Gina Henkel nun als Süleyman, Mehmet oder Halit die verwirkten Leben der sogenannten Kanaken, die das Mord-Trio wie nebenbei aus ihrer Lebensmitte geschossen hat. Sie ringen hier in verzweifelt komischer Gestalt um Kontur und ihre verblassende Geschichte. Selbst die ermordete Polizistin Michéle Kiesewetter a.D. liefert sich mit dem in seinem Internetcafé in Kassel praktisch vor den Augen eines Verfassungsschutzmitarbeiters mit dem Spitznamen „Klein Adolf“ erschossenen Halit Yozgat einen wahnwitzigen Dialog über Zuständigkeiten und eine katastrophale Polizeiarbeit.

Am Ende aber wird die diffuse Wand rissig und die Gestalten verlassen ihr Schattendasein für kurze Zeit. Sie treten ins Rampenlicht und übernehmen die ihnen bisher vorenthaltene Deutungshoheit. Ein fiktiv utopisches Gedankenspiel um Mitleid, Rache und Vergebung. Man träumt von einer neuen Mordserie gegen Nazis und will den NMU (Neuer Migrantischer Untergrund) gründen. Letztendlich wird mit den gesammelten Nägeln niemand ans Kreuz geschlagen. Verziehen werden kann nicht, einer Rache bedarf es aber ebenso wenig. Die Diskussion darüber wird weitergehen. Die im Premierenpublikum sitzende Schauspielerin Sascha Ö. Soydan, Darstellerin in Milo Raus „Breiviks Erklärung“, machte später im Hof des Ballhaus Ost schon mal einen Anfang.
Leserkritik: Das Tagebuch der Anne Frank in Bad Hersfeld
Leserkritik: Das Tagebuch der Anne Frank, Bad Hersfeld
Premiere 1.7.2013: Von Stiftsruine bis Stiftshütte: Theater in der Hersfelder Martinskirche. Bad Hersfelder Festspiele "Das Tagebuch der Anne Frank" mit ausdrucksstarker Maddalena Hirschal.

"Wo gestern im Gottesdienst noch das Taufbecken stand, und drei Kinder aus der Taufe gehoben wurden, steht heute eine dreigeschossige Bühne in Nachbildung des Hauses in der Prinsengracht Amsterdam, in der sich Anne Frank versteckt hielt und ihr Tagebuch führte", sagt Pfarrer Karl-Heinz Barthelmes von der Martinskirche Bad Hersfeld anlässlich der Premiere des Theaterstücks "Das Tagebuch der Anne Frank" mit der Wiener Schauspielerin Maddalena Noemi Hirschal und Heinrich Cuipers. Der Kirchenvorstand willigte ein, dass die Theaterproduktion der Bad Hersfelder Festspiele auf Bitte des Intendanten Holk Freytag aus technischen vom Buchcafé in die Kirche verlegt werden konnte. "Eine weise Entscheidung", wie Holk Freytag nach der erfolgreichen Premiere bemerkte.

"Nathan und seine Kinder" in der Fassung der Autorin Mirjam Pressler waren bereits zuvor ein in der Konfirmanden- und Gemeindearbeit aufgenommene Aufführung der Festspiele. Der Pfarrer war erstaunt, dass nun die neue Konfirmandengruppe "Das Tagebuch der Anne Frank", dessen autorisierte Fassung ebenfalls von Mirjam Pressler stammt, zum großen Teil bereits gelesen hat. Nach einer Gemeindereise nach Krakau und Auschwitz ist seine Überzeugung gewachsen, dass es nicht nur die Aufgabe der Kirche ist, sich für Versöhnung der Völker einzusetzen. Dieses Theaterstück an diesem Ort sei ein Stück aktiver Versöhnungsarbeit. Kurz nach dem Krieg im Oktober 1945 formulierte der Rat der Evangelischen Kirche die Stuttgarter Schulderklärung, die an die damaligen Vertreter des Ökumenischen Rates des Kirchen gerichtet war: "Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Die Stunde des neuen Anfangs ist nun vorüber. Der Geist der Gewalt und Vergeltung will jedoch immer neu mächtig werden. Deshalb ist es ein Grund zur Freude, wenn durch ein solches Theaterstück im Raum der Kirche in der lebendigen Sprache eines heranwachsenden Mädchens und in Gestalt einer professionellen Schauspielerin, Mahnung, Buße und Umkehr zu neuem Leben und Handeln ein lebendiges Gesicht und neues Gehör geschenkt bekommen. Die sorgsame Inszenierung einer Pubertät unter den Bedingungen einer unterdrückten Existenz in einem Mansardenversteck im Zeitalter der Menschenverachtung spricht Bände. Zugleich nimmt die Inszenierung Menschen wie den Gemüsehändler mit in den Blick, der abgeholt wird, weil er Juden versteckt hat und zeigt den Unterschied von unternehmerischem Risiko und Zivilcourage. Wenn Anne in der Schlussszene ihren "Kreuzweg“ weg vom Kreuz in den sicheren Tod von Bergen Belsen geht, bleibt kein Besucher ungerührt.

"Das Haus", so nennt Maddalena Hirschal ganz schlicht ihren Arbeitsplatz, den sie mit Hilfe der Bühnen-, Licht- und Tontechniker in Theatern und Schulen errichtet, erinnert mit den drei Ebenen an Shakespeares Globe Theatre. In der Martinskirche wird ein anderer Vergleich wachgerufen: die Kirche des Heiligen Franz von Assisi: "Spontan leuchtete die Porziuncola in der Basilika S. Maria degli Angeli im italienischen Assisi vor dem inneren Auge auf, jene kleine Kapelle, über der eine große Kirche gebaut wurde." Dieses Theaterstück in der Kirche macht die Martinskirche zu einem besonderen Zelt der Begegnung, die Bühne zu einer "Wächterhütte im Gurkenfeld", wie es beim Propheten Jesaja gesagt wird. "So ein Stück gehört in die Kirche!", ist der Pfarrer überzeugt. Schließlich fuße unser christlicher Glaube auf dem Judentum. Die lange Geschichte reiche vor Ort von der Großmutter der Stiftsruine und den Anfängen am Frauenberg in Bad Hersfeld über die Stadtkirche als Mutter bis eben zu der Martinskirche als einer der jüngeren Töchter der Kirchengemeinden in der Stadt, in dessen Quartier noch heute zwei jüdische Friedhöfe liegen. Die Martinskirche Bad Hersfeld wurde von dem Marburger Künstler Jochen Spies entworfen und 1968 nach den Plänen des Orlamünder Architekten Günther Gundermann realisiert. Es folgen noch vier Aufführungen, am 7.7., 9.7., 12.7. und 2.8.2013.

© Pfr. Karl-Heinz Barthelmes Ev. Martinskirchengemeinde Schlippental 39 36251 Bad Hersfeld martinskirche.bad-hersfeld@ekkw.de
Leserkritik 2.10.2013: HAU, Black Bismarck, andcompany & co, HAU
andcompany&Co.: Black Bismarck, Hebbel am Ufer, Berlin

Ein weißer, gezackter Tisch, ein D-Pult mit Bismarck-Porträt davor, ein Turm eine weiße Leinwand, den roten Marmorwänden der Berliner U-Bahnstation Mohrenstraße nachempfundene Wandstücke: Zeichen, sind das, erzählt uns Simone Dede Ayivi zu Beginn der gut eineinhalbstündigen Performance, in der das Künstlerkollektiv andcompany&Co. Den Spuren des Kolonialismus in Deutschland nachgehen – den sichtbaren wie den verborgenen, die sich meist als die hartnäckigeren erweisen. Das beginnt mit Bismarck: Wir erfahren von den 140 Bismarck-Türmen im Land, der Kongo-Konferenz 1884/85, in der Afrika unter den Kolonialmächten aufgeteilt wurde, der Ehrerbietung, die der Reichskanzler bis heute erfährt. Später führt der Abend mit erhöhtem Videoeinsatz und streckenweise äußerst komisch zu dem, was von der Kolonialmacht Deutschland übrigblieb: ein afrikanisches Viertel im Wedding mit nach brutalen Kolonialverwaltern benannten Straßen, der U-Bahnhof Mohrenstraße in Berlins Mitte, das ehemalige Feriendorf Neu-Afrika in Brandenburg. Schnell wird zweierlei klar: Die deutsche Kolonialgeschichte gehört wohl zu den am meisten vergessenen – oder sollt man sagen, verdrängten? – Kapiteln jüngerer deutscher Geschichte. Und sie hat – vom Kolonialwarenladen bis zur Afrika-Romantik Spuren hinterlassen, die bis heute kaum hinterfragt werden. Wie viele von uns haben sich je beim U-Bahn-Halt in der Mohrenstraße Gedanken gemacht, wofür dieser Name ein Zeichen sein könnte?

Es gehört zu den Stärken dieses Abends, dass andcompany&Co. , verstärkt unter anderem durch zwei Afrodeutsche und einen Belgier kongolesischer Herkunft, solchen Zeichen nachspürt, sie mit der verdrängten Bedeutung auflädt und sichtbar macht, was sich zu lange verbarg. Er tut dies auf äußerst spielerische Weise: mit Videoeinspielern, Musik, narrativen Passagen und Spielszenen – und viel Ironie. Das beginnt schon beim Titel: Denn eigentlich geht es hier nicht ums Schwarzsein, nein, hier wird der Spiel um gedreht. Was heißt „weiß“, wofür steht das, was beinhaltet es, drückt es aus, gibt es eine weiße Identität? Die Frage nach der „Weißheit“ steht im Mittelpunkt der Performance. Da verkleidet sich Dela Dabulamanzi als deutsche Birke, spielt die weiße Leinwand eine Schlüsselrolle, wird mit Freud – dessen Blick auch als ein kolonialer (das weibliche Unbewusste als dunkler Kontinent!) entlarvt wird – über das weiße „man“ als das Unmarkierte, das alles andere markieren muss, philosophier. Alexander Karschnia übt sich mit Zebrastreibenmetaphorik im Unsichtbarwerden –„weiß“ ist hier das Unbestimmte, die Nichtidentität, die doch allem anderen Identität verleiht und so seinen Herrschaftsanspruch manifestiert.

Fortsetzung (die Kritik ist zu lang für dieses Kommentarfeld :-)) unter: http://stagescreen.wordpress.com/2013/10/01/zeichen-und-wunden/
Leserkritiken: Danke, Sascha Krieger
Eine echte Sascha Krieger-Kritik: danke!
Leserkritik: People, ein Einsamkeits-Initiationsritual, Pathos München
Theater, das so klein ist, dass es fast niemand wahrnimmt:

"Auf der Bühne steht ihr eigenes, privates Bett, und nicht viel sonst. Sie selbst ist die einzige Spielerin. Ihre Performance nennt sich „People“ Untertitel „Ein Einsamkeits-Initiationsritual“, und jeder, der schon einmal richtig einsam war, sich allein zuhause weggeschlossen hat von der Welt, wird sich sofort darin wiedererkennen. S. liegt in Bett, bewegt sich nicht, zappt durch ihre Musiksammlung, ohne je ein Lied richtig anzuhören, macht sich einen Kaffee, ohne ihn zu trinken, dreht sich eine Zigarette ohne sie zu rauchen. Die Einsamkeit in dieser Performance ist groß und stark, und doch fühlt man sich nie bedrängt, nie gezwungen einer Performerin bei ihrer Selbsttheraphie zuzusehen, alles bleibt auf merkwürdige Weise leicht. Am Ende öffnet sich das Bett, und heraus kriechen unzählige Strohwesen, krude und liebevolle kleine Puppen, die S. den ganzen Sommer über gebastelt hat, und leisten der vereinsamten Performerin Gesellschaft. Mit zwei engagierten Mithelfern und ein paar Gefallen aus der Münchner Theaterszene ist aus dem, was anfangs schien wie die Verzweiflungstat einer unterbeschäftigten Regisseurin, ein kleines Ereignis geworden."

http://istinalog.net/2013/10/04/kunst-die-niemand-sieht/
Leserkritik: Don Karlos, Nürnberg
Don Karlos, Infant von Spanien (Schauspielhaus) ***
Von Friedrich Schiller
Inszenierung: Shirin Khodadadian

Mit „Don Karlos“, einem schweren Klassik-Brocken startet das Nürnberger Sprechtheater in die neue Saison 2013/14. Die Dilemmata sind eigentlich schon im Originaltext angelegt: man weiß nicht recht, wer die dramatische Hauptfigur sein soll, man grübelt über die recht Gewichtung von Politischem und Privatem und man verzweifelt fast an der überbordenden Konstruktionslust des Autors, was die brieflichen Verwicklungen dieser Fünfer-Beziehung betrifft. Um wie viel leichter tut man sich da mit einem „King Lear“ oder mit „Dantons Tod“! Selbst ein geradliniger Freiheitskämpfer wir der erfundene Marquis von Posa verfängt sich schließlich im Dickicht der Macht- und Liebesintrigen am Hofe.
So konnten auch die bemühte Regiearbeit von Shirin Khodadadian und das schauspielerische Engagement des Ensembles diese vom jungen Schiller veranlassten Schwierigkeiten kaum auflösen. Wenn es nach der schauspielerischen Qualität geht, ist eigentlich König Philipp II. die interessanteste Hauptfigur, weil ihm Thomas Nunner (er spielte in der Nürnberger Inszenierung von 1997 noch den Don Carlos) sehr differenzierte Züge von Machtwille und Einsamkeit verleiht. Der jugendlich stürmerische Don Carlos von Martin Bruchmann erscheint dagegen genauso klischeehaft wie die aalglatte Fratze des Machiavellismus, die Thomas Klenk (wie fast immer) seinen Figuren, diesmal dem Herzog von Alba, überstülpt. Bei den beiden Damen bleibt fast nur in Erinnerung, dass Gräfin Eboli (Louisa von Spies) permanent am ganzen Leib zittert und dass Elisabeth (Karen Dahmen - neu in Nürnberg) sich zwangsläufig mit ihrem ausladenden Reifrock in den schmalen Gängen des Bühnenbilds (Carolin Mittler) verheddert.
Die dreistündige Inszenierung versucht durch nachvollziehbare Personal-Verdünnung und durch die Einführung eines Briefe vermittelnden Pagen (Julian Keck) dem Zuschauer Hilfestellungen zu geben, die Atmosphäre der Intrige und der Überwachung im Königspalast wird durch eine teilweise verschattete Bühne mit vielen Nischen, Dreh-Hintergründen und Türen verdeutlicht. In der Gesamtoptik wirkt der Spielraum wie eine Verlängerung des Zuschauerraums. Das letztlich nur verwirrende Kaleidoskop der Brief-Botschaften führt zu viel Papier auf dem Boden, das wechselweise verstreut und wieder aufgesammelt wird. Der Jahreszeit Herbst angemessen dominieren bei den Kostümen die Brauntöne.
Bei der Premiere gibt es einhelligen Beifall, der jedoch nicht über eine gewisse Beliebigkeit dieser Theaterarbeit hinwegtäuschen kann. Somit nur ein redlich sprechender, aber kein viel versprechender Auftakt.
Leserkritik: Einige Nachrichten an das All, Nürnberg
Einige Nachrichten an das All (Kammerspiele, Nürnberg)
von Wolfram Lotz
Regie: Markus Heinzelmann

Ganz ohne Zweifel hat der preisgekrönte „Nachwuchs“-Autor Wolfram Lotz die Dramaturgie der letzen 60 Jahre eifrig studiert und in bemerkenswert eklektizistischer Weise für seinen Theatertext „Einige Nachrichten an das All“ benutzt. Da findet man also Beckettsche Absurditäten, Handkesche Sprach- und Meta-Theater-Spielereien, Straußsche Dialogführung und nicht zuletzt Jelineksche Grobtext-Brocken. Das Ganze verläuft auf mehreren „Handlungs“-Ebenen, wobei die Stationen-Talkshow des „Leiters des Fortgangs“ eine Art Grundgerüst bietet. Relativ sinnfrei hat Lotz in seinen Test noch zahlreiche Fußnoten eingestreut.
Eine prächtige Spielwiese also für einen Regisseur, auf der man natürlich grob scheitern (wie nach Meinung der Kritiker in Weimar) oder herzhaft brillieren (wie die Kritiker in Wien konstatierten) kann.
Die Aufführung im Nürnberger Staatstheater (Kammerspiele), gestaltet durch Markus Heinzelmann, nähert sich dem Stück vor allem auf komödiantische Weise. Der Leiter des Fortgangs wird zu einer Johannes-B.-Kerner-Charaktermaske (Stephan Willi Wang), der seinen Gästen ein Wort für die Ewigkeit entlocken will - und am Schluss selbst das Substantiv „Unterhaltung“ (Untertitel: „Nur keine Leere aufkommen lassen“) auf Band spricht. Die Gäste sind eine dicke Frau aus dem Nachmittags-Talk, der Naturforscher Rafinesque, Heinrich v. Kleist (Stefan Lorch) und - lokal umgedeutet - Heimatminister Markus Söder (Marco Steger). Im Hintergrund wollen die zwei Körperbehinderten Purl und Lum beständig ein Kind haben, während ein alleinerziehender Vater (Adeline Schebesch!) sein Kind bei einem Unfall verliert. Was dies alles mit einem Weihnachtsspiel auf der onkologischen Kinderstation (als filmischer Hintergrund) und den Fußnoten von Henriette Schmidt zu tun, bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Wer sich diese Phantasie bewahrt hat und bei den Einstürzenden Kulissen nicht zu sehr erschrickt, dürfte an dem zweistündigen Abend durchaus Spaß finden.
Leserkritik: Das Himbeerreich, Nürnberg
Das Himbeerreich (Schauspielhaus Nürnberg) ****
von Andres Veiel
Regie: Petra Luisa Meyer

Die vom deregulierten Finanzkapitalismus ausgelöste Krise beschäftigt spätestens seit 2008 die Öffentlichkeit, gehört aber leider zu den Themen, die nie verständlich dem interessierten Publikum der Klein- und Bausparer erläutert wurde. Auffallend ist weiterhin, dass die politische Klasse anscheinend nicht in der Lage ist, mit gesetzlichen Maßnahmen oder Re-Regulierungen darauf zu reagieren.
Das Theater kann diese beiden Ansprüche schon gleich gar nicht einlösen, aber das neue Stück von Andreas Veiel versucht durch mehrere aus Interviews gewonnene Psychogramme die Menschen, die hinter dem abstrakten Finanzmärkten und Investmentbanken stehen, greifbar zu machen. Wie man diese anonymisierten und bearbeiteten (gekürzten) Interviews auf die Bühne bringen kann, ohne ein Hauptseminar der Neueren Finanzwissenschaft abzuhalten, demonstriert mit viel Kreativität die Inszenierung von Petra Luisa Meyer im Schauspielhaus Nürnberg. Sie beschränkt sich auf sechs markante Personen (darunter auch ein Chauffeur für die Finanzvorstände) und ergänzt eigenständig eine mal naiv, mal kritisch herumgeisternde Allegorie des Geldes (Josephine Köhler). Auf der Drehbühne erleben die Banker den Absturz von der luxuriösen Weihnachtsfeier im Nobel-Appartement zur gedemütigten Existenz im Kellerloch, sie monologisieren, sie dialogisieren und singen auch mal zwischendurch deutsche Schlager (von Bettina Ostermeier am Piano begleitet).
Aus dem spielfreudigen Ensemble ragen diesmal Nicola Lembach und der altgediente Akteur Michael Hochstrasser hervor. Am Ende hat man sich an den Dummheiten und Selbstzweifeln der Spitzen-Banker ergötzt und kann zu Hause einen letztlich unveränderten Blick auf die Kontoauszüge werfen. Ein Ausweg aus dem Billionen-Spiel ist nicht sichtbar!
Leserkritik: Expedition in die Nähe, Theater unterm Dach in Berlin
Expedition in die Nähe Theater unterm Dach in Berlin
Konzept und Regie: HOR Künstlerkollektiv

Das eigene Zimmer bereisen. Ausgehend von einem Text von Xavier de Maistre, der als roter Faden durch den Abend führt bereisen die drei Schauspieler das Theater unterm Dach, das zu einem großen Zimmer umfunktioniert ist. Der Abend ist eine sehr eigene Mischung von Videoinstallation, Performance, Sprachaufnahmen, Theater, Musik.
Man sitzt im Raum verteilt auf Stühlen, kann den Ort jederzeit wechseln und damit die Perspektive. Der Raum wird durch drei Leinwände definiert: aus einem Fenster hat man Ausblick auf die verschiedensten Ausblicke aus den verschiedensten Fenstern, aus einem Bilderrahmen beobachten uns die Schauspieler als bewegte Portraits. Und eine große Leinwand ist wie ein weiterer Spieler. Die Filme von Gabriele Nagel korrespondieren, spiegeln und konterkarieren das Spiel von Astrid Rashed, Juliane Werner und Roman Shamov. Die Schauspieler tauchen in den Filmen auf und gehen - auf der Bühne - in ihnen unter, werden als Figuren Teil des Filmes. Sie kommunizieren mit sich selbst, suchen sich und suchen die Weite im Eingeschlossensein des Zimmers. Xavier de Maistre wurde im 18. Jahrhundert zu 42 Tagen Zimmerarrest verurteilt und begibt sich trotzig auf die erste dokumentierte Reise in seinem Zimmer, „belächelt die, die von Paris oder Rom berichten“. HOR schafft den Spagat von Ernsthaftigkeit und Ironie, Poesie und Humor. Nach dem Abend betrachtet man das eigene Zimmer mit neuen Augen. Ein wunderbarer Einstieg in den langen Berliner Winter.
Leserkritiken: Ermunterung für Nordost
Wie schön, dass es diese Chance für begeisterte (oder weniger begeisterte) Theaterbesucher gibt.
Demnächst auch Berichte aus einem Theater aus dem äußersten Nordosten.
Leserkritiken: "Leerlauf" in der Box des DT Berlin
Rik van des Bos: Leerlauf, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Marvin Simon)

Leerlauf, Marvin Simons Uraufführung von Rik van den Bos' Kriegsheimkehrerstück, ist ein Abend der einfachen Bilder, der simplen Illustrationen, der Überdeutlichkeiten. Das gilt für die Regie, die mitten in einer Dialogszene das Einbrechen der Erinnerung an besagte Hausdurchsuchung markiert, in dem das Licht gedimmt und durch gespenstisch tastende Spots ersetzt wird – geht die Szene weiter, geht das Licht wieder an. Und dieser Hang zur Überdeutlichkeit prägt auch Hierses Spiel: Bis fast zur Erschöpfung hetzt er über die Bühne, reizt jeden Gesichtsausdruck bis zum Anschlag auf, brüllt, was das Zeug hält und blickt eindrucksvoll wahnsinnig umher. Da schreit das Leiden aus jeder Bewegung, als müsse es uns – und sich? – von seiner Existenz immer und immer wieder überzeugen. Jörg Pose als Bouwman, Vater eines getöteten Soldaten, ist die wahrhaftige Figur an diesem Abend, einer, der reduziert, wo Hierse als Überlebender Birke dick aufträgt, dessen knappe Sentenzen tief ins Mark treffen, wo Birkes Worte Behauptung bleiben. Das muss vielleicht auch so sein, denn eigentlich leidet Leerlauf genau an dem, was es thematisiert: der Unmöglichkeit des Verstehens. Wo Bouwmans zielloses Irren im Bedeutungssumpf nachvollziehbar ist, bleibt uns – und wohl auch Autor und Regisseur – das Leiden Birkes fremd. Ihm können sie nur mit grell plakativer Überzeichnung begegnen – und entfernen es dadurch umso mehr. Und so bleibt vor allem Jörg Poses Verständnis suchender blick, sein leises Flehen im Gedächtnis, liegt hier das Wahrhaftiges des Abends. Eines, der ebenso wie das Stück genau dort scheitert, wo er triumphiert, der die Unmöglichkeit des Verstehens eindringlich vorführt und doch eigentlich verstehen will. Und auch hier ist er bei Bouwman: Er weiß, dass er das Erlebte nie ergründen kann – und bleibt in diesem Wissen doch dabei, es weiter zu versuchen.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/11/19/leise-rieselt-der-sand/
Leserkritik: Madama Butterfly in Weimar
Der kalte Blick auf Cio-Cio-San – Madama Butterfly in Weimar
Gesehen am 09.11.2013
Auch in Weimar kann man in die Oper gehen. Zum Beispiel in Madama Butterfly. Um sich eine „Regiearbeit“ anzusehen, „die zur intellektuellen Auseinandersetzung“ anregt, wie Christoph Karner im neuen Merker schrieb. Aber man sollte besser die Einführung meiden und auch im Programm nur noch einmal die Handlung nachlesen, nicht etwa die konzeptionellen Thesen des Dramaturgen Mark Schachtsiek. Damit einem Sätze erspart bleiben wie: “Will man wie der Komponist Mitleid mit ihr [Butterfly] haben, muss man sie an ihrer absurden Liebe zu Pinkerton verrückt geworden betrachten.“ Eine Brechtsche Inszenierung von Puccinis Butterfly? Kognitive Therapie für Butterfly: Sie soll durch Wiedererleben der eigenen Geschichte von ihr befreit werden, damit sie durch Selbsterkenntnis Frieden finden kann.
Ich muss gestehen, ich verlange herzzerreißend nach genau dieser im Nichtbewältigen, in verzweifelter Sehnsucht verharrenden Cio-Cio-San, ich bewundere sie genau dafür, zumindest als Heldin einer Oper. Ich wünsche mir eine (bisher noch nicht gesehene) Inszenierung, in der der grandiose Lebensmut eines blutjungen Mädchens gezeigt wird, das sich mit aller Macht dem zynischen Schicksal des Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung entgegenstemmt, indem es den für sie bestimmten ersten Feier zur Liebe ihres Lebens erklärt und innigst hofft, dass der Funke überspringt. Cio-Cio-San ist nicht egoistisch, sondern sie nimmt – wie ich meine nicht zu unrecht – wahr, dass sie nur diese eine Chance hat.
Um so elender ist Pinkerton, dass er dieses Liebesangebot – ich würde es so sehen: gefühlskalt und brutal – ausschlägt. In dem von mir gesehenen Zynismus wird Pinkerton zu einem Siegertyp der heutigen Zeit. Wir sind den gefühlskalten, missbrauchenden, manipulierenden Pinkertons unterworfen.
Cio-Cio-San ist schwierig zu besetzen. Als zentrales Element hat Eva-Maria Höckmayr die Rolle im 2. Akt geteilt und Jana Havranova die gealterte Cio-Cio-San singen lassen, welche das Geschehen quasi kommentiert. Anders als von ihrem Dramaturgen dargestellt gelangt jene zweite Cio-Cio-San jedoch nicht zu distanzierender Selbsterkenntnis, sondern sie verzweifelt aufs Neue an ihrem so zwangsläufig unbarmherzigen Schicksal, wird daran verrückt, und findet wiederum keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung. So verschmelzen die beiden Butterfly-Figuren.
Aber die Oper beginnt mit dem 1. Akt und hier begegnen wir zunächst einem resignierten, zur Schlaflosigkeit verdammten und dem Whisky verfallenen Pinkerton, der seiner in Japan weggeworfenen Liebeschance hinterherträumt. Auch Pinkerton ist nur ein Opfer, drängt sich da auf. Mit dieser Sicht auf Pinkerton wird die Oper konturlos, aber modern. Sie wiederholt das Dilemma der heutigen Missverhältnisse, die keine Verantwortlichen oder Schuldigen mehr kennt.
Madama Butterfly braucht den atemberaubenden Kontrast zwischen einer sich haltlos hingebenden, wider als besseres Wissen blind vertrauenden Cio-Cio-San, deren Seele von der eisigen und glasscharfen Kälte eines Pinkerton erbarmungslos zerschnitten wird.
Nu so können wir selbst – mit Tränen in den Augen – zu so etwas wie Selbsterkenntnis gelangen.
Leserkritik: Die Ehe des Herrn Mississippi, Hamburg
Gelungene „Neuauflage“ eines „verstaubten“ Bühnenstückes?

Wenn in dem kurzen, erläuternden Text zu Friedrich Dürrenmatts Komödie „Die Ehe des Herrn Mississippi“, die derzeit am Hamburger Thalia Theater aufgeführt wird, auf deren Webseite von einem Bühnenstück, das „selten gespielt“ wurde und „in den letzten Jahren nur als Schulstoff Geschichte gemacht“ hat, die Rede ist, dann dürfte allein der mit dieser Feststellung gegebene Schulbezug – und das sei weder mit Ironie noch Arroganz gesagt - als Fingerzeig auf einen höheren Grad an Qualität und Gehalt, als dies in einem der auf der Webseite ebenfalls positionierten Pressekommentare mit den Worten „substanzloses Stück“ suggeriert wird, zu werten sein. Fragen, Aspekte und Probleme – und das geht auch aus dem Programmheft hervor - , die mit Ideologien, Weltanschauungen, Werten, schließlich auch mit politischen Positionen korrespondieren, sind dem vorliegenden Bühnenstück immanent und bieten manche Anlässe für Interpretationen und Diskurse, die traditionellerweise in der Schule und überhaupt in Bildungsinstitutionen ihre Entfaltungsmöglichkeiten finden.

Andererseits ist es überaus lobenswert, wenn sich das Theater dazu versteht, eher selten gespielte, im Lektürekanon von Lehranstalt und Unterricht jedoch Berücksichtigung findende Dramen ebenjenen deutschdidaktischen Interpretationsansätzen und -versuchen schulischer Provenienz, Lehrplan- und Traditionsgebundenheit – Ansätzen, die gleichwohl keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt werden sollen - zu entwinden, durch eine effektvolle Inszenierung einem größeren Publikum zugänglich zu machen und damit der inhaltlichen Substanz der jeweiligen Stücke in ihrer Komplexität, Problembezogenheit und Aussagekraft – je nachdem - einen größeren Bekanntheitsgrad und Wirkungsradius zu verschaffen.

Die von Christine Eder verantwortete Inszenierung der vorliegenden Komödie von Dürrenmatt, eine Inszenierung, die in der Vermischung von Kunst und „Boulevard“ ihre Profilschärfung sucht, verfehlt im Zuge ihrer nicht zu leugnenden Ausdrucks-, vielleicht sogar Faszinationskraft den entsprechenden Effekt auf das Publikum keinesfalls. Das Drama, das in manchen der auf der Webseite abgedruckten Kommentare und Kurzkritiken wohl eher zu Unrecht dem Verdikt des „Verstaubtseins“ anheimfällt, wird, folgt man gleichwohl dieser Einschätzung vonseiten einiger Medien, durch die Regie mit Slapsticks und akzentuierter Situationskomik, mit „wilden Tarantino- und Inspektor-Clouseau-Anleihen“ (Webseite/ Pressestimmen/ Hamburger Morgenpost) „aufgefrischt“. So dürfte sich die Inszenierung in ihrer Verschärfung und Zuspitzung der im Stück angelegten skurrilen, grotesken, z.T. absurden Elemente und damit in ihrer auf Belustigung und Erheiterung des Zuschauers, insgesamt auf „Rezipientenfreundlichkeit“ zielenden Gesamtkonzeption als eigentlicher Publikumsmagnet erweisen. Die mit den „Pressestimmen“ gebotenen Rezensionen, soweit sie der Webseite zu entnehmen sind – sie erscheinen dort z.T. nur ausschnittsweise - , kaprizieren sich größtenteils auf diesen Aspekt, mithin auf die Regie, auf Bühnenbild und Aufmachung, insgesamt auf das Spektakuläre der Inszenierung, offensichtlich ohne dass Korrelationen mit dem Gehalt der Komödie in hinreichender Weise, überhaupt die Interdependenz von Inhalt und Inszenierung als grundsätzliches Beurteilungskriterium hinlänglich berücksichtigt werden.

Die Komik steht in der aktuellen Aufführungspraxis des Dürrenmatt-Stückes am Hamburger Thalia Theater im Vordergrund und dürfte sich somit auch als tragendes Element sowie bleibende Erinnerung ins Bewusstsein der Theaterbesucher einschreiben. Dies wäre wohl nicht weiter zu bemängeln, wenn das Werk in der Comedy-Komponente seiner Präsentation aufginge, was aber nicht der Fall ist. Im Trubel der von der Art der Inszenierung z.T. akzelerierten Geschehnisse, in der streckenweise spürbar werdenden Rasanz von Sprache und Bewegung der Akteure drohen manche sinnkonstituierenden Elemente zu stranden, und es besteht die Gefahr, aus dem Blickfeld zu verlieren, dass das Drama als „bitterböse Komödie“ (Webseite des Stückes) insgesamt wohl ernster gemeint ist, als sich seiner Darbietung derzeit in Hamburg entnehmen lässt. Dabei gibt das Stück von 1952 in seiner vielschichtigen Struktur, in seinen z.T. sorgsam herauspräparierten Einzelaspekten grotesken Zuschnitts, in seiner zwar nicht ausschließlich, aber eben auch auf Störung und Beunruhigung des Rezipienten hin angelegten Gesamtkonstellation auch im Jahr 2013 Anstöße – und zwar drängender denn je - , über Sinnfragen, Orientierungen, Perspektiven, insbesondere aber über menschliches Scheitern (vgl. Programmheft, S. 25) nachzudenken, und dies alles heutzutage in einer Phase der Weltgeschichte, deren Lebens- und Wertepluralismus in manchen Breiten des Erdkreises von einem mächtigen Strom medienunterstützter Zeitgeistkompatibilität und Gesellschaftskonformität mitgerissen wird.


Die Leistung der Schauspieler stellt sich als bemerkenswert dar, besonders hervorzuheben ist die Wahrnehmung der Rolle des Grafen Bodo von Übelohe-Zabernsee durch Mirco Kreibich.

Es dürfte sich insgesamt um eine durchaus wohlwollend zu beurteilende Inszenierung handeln, die aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht erschöpfend zu einer Ausdeutung des vorliegenden Theaterstückes vordringt.


Hamburg, 20.11.2013 Dr. Michael Pleister
Leserkritik: Morning, Junges Theater Basel (R: Sebastian Nübling)
“I’m living out my life like I’m on the run”: Diese Zeile aus dem Song “On the Run” des britischen Musikers The Spaceape ist der Schlüsselsatz der neuesten Zusammenarbeit von Autor Simon Stephens und Regisseur Sebastian Nübling, die am Jungen Theater Basel entstand und im Rahmen des zweiten Premierenwochenendes zum Auftakt der neuen Intendanz am Berliner Maxim Gorki Theater gastiert. Damit das auch jeder versteht, erscheint die Zeile zum Auftakt des Abends nicht nur per Videoprojektion auf der Rückwand, zusammengesetzt aus einfliegendem Buchstabensalat – der musikalisch hochtalentierte Darsteller Lukas Stäuble darf das dazu gehörige Werk auch gleich zum Besten geben. Überhaupt lässt Nübling, Stephens’ Lieblingsregisseur, Dinge, die im wichtig erscheinen, gern wiederholen: Die gelangweilte Selbstserschießungspantomime etwa, das Verschütten weißen Staubes (Puderzucker?) aus trocken gelegten Getränkedosen, die kindischen Wutanfälle oder die zitternde Erschütterungschoreographie. Die Welt, die von den sechs jugendlichen Protagonisten bewohnt wird, ist eine, in der eine pseudo-harmonische Oberfläche (Zucker!) Verzweiflung (Erschießen!), zusammenbrechende Gesellschafts- und Familienzusammenhänge (Zittern!), Gleichgültigkeit (Wutanfälle!) und öde Leere (Staub!) ebenso unzureichend verbergen, wie die an der Rückwand aufgestellten Holzbretter die sich hinter ihnen versteckenden Jungschauspieler. Deutlichkeit, ja, Überdeutlichkeit ist das Grundprinzip von Morning.

“Erzählt” wird die Geschichte von Stephanie: Verlassen von der wegziehenden besten Freundin, gelangweilt vom nicht sehr hellen Freund und nicht klarkommend mit dem Tod der Mutter, rebelliert sie gegen alles und jeden, vernachlässigt se die Mutter, bestiehlt sie den kleinen Bruder und entäußert sich ihr ganzer Welt- und Selbstekel in immer gewalttätigerem Wechsel zwischen Liebessehnsucht und brutalen Gewaltausbrüchen. Tabea Buser, die Stephanie spielt, macht es dem Zuschauer nicht leicht: So selbstsüchtig und mitleidlos legt sie ihre Figur an, dass jegliche Identifizierung, ja selbst der Versuch, einen Zugang zu dieser Furie der Zerstörung zu finden, schwer fällt. Zu extrem geraten ihre Ausbrüche, zu wenig Raum lässt ihr auch der Text, die Brüche, die diese Figur durchziehen, offen zu legen. Da hilft ihr auch Stephens’ Genremix nicht, der Ausflüge ins Horrorfach ebenso einschließt wie eine märchenhafte Alptraumstimmung. Das schonungslose Aufzeigen dessen, was passiert, wenn Jugendliche sich selbst überlassen werden (es gibt im Stück keine Erwachsenen!), verträgt sich nicht zu recht mit diesen reichlich dick aufgetragenen Distanzierungsmitteln.

Wie so oft bei Nübling strukturieren rhythmisch akzentuierte (auch eine Trommel gibt es, gespielt von Joshua Brunner als Bruder Alex) Choreographien und diesmal zumeist aus der elektronischen Musik stammende Lieder das Stück, lassen es aber dadurch auch fragmentarischer werden, als es ihm gut tut. Die Atmosphäre, die sie erzeugen sollen, wird konterkariert durch die Szenenbruchstücke, die kaum Raum finden sich zu entfalten. Stattdessen bleibt die sich in Gewalt und Erniedrigung, aber auch Selbstzerfleischung niederschlagende Sinnsuche verlorener junger Menschen zu oft bloße Behauptung, erstarrt die verzweifelte Suche nach Nähe immer wieder zur Pose – auch wenn gerade Buser Momente von solcher Intensität gelingen, dass sie kurzzeitig nahezugehen drohen. Doch die nächste Tanzeilage, der nächste Rhythmuswechsel folgt bestimmt und stellt die alte Distanz wieder her.

Und so bleibt trotz des großartigen jugendlichen Ensembles, in dem auch Nico Herzig als gutmütig tumber Freund Stephen zu überzeugen vermag und aus dem Tabea Buser in ihrer radikalen Unbedingtheit in Erinnerung bleiben wird, ein Abend, der zu sehr Stückwerk bleibt und zugleich zu plakativ daherkommt, der Überdeutlichkeit mit Unentschlossenheit verbindet und nicht so recht zünden will. Was angesichts des Engagements der jungen Darsteller umso bedauerlicher ist.

http://stagescreen.wordpress.com/
Leserkritik: Ivanov, Leipziger Erstaufführung (R: Michael Talke)
Vertrödelt im Hamsterrad

Was Diedrich Diederichsen, das Schlachtross eines hochgezwirbelten Popjournalismus, im Programmheft zu Tschechows „Ivanov“ zu suchen hatte, war ein Geheimnis, das die Dramaturgie vor Vorstellungsbeginn exklusiv für sich hatte. Während der Bühnenaktion ging unsereinem freilich ein Lichtlein auf, dass der oder das angesprochene Loop, über das der mittlerweile zum Popphilosophen aufgerückte Diederichsen seit geraumen Jahren auf höchstem Niveau daher schwafelt, ganz konkret die Inszenierungsidee von Regisseur Michael Talke war.

Im pflaumenweichen Hamsterrad der Depression trödelt und loopt also der Protagonist und Gutsherr Ivanov (Jonas Fürstenau) mitsamt der ihn umschwirrenden Langweilermischpoke herum, ohne recht vorwärts zu kommen. Es geht sowieso bloß um Geld und Weiber, und wenn’s hoch kommt eben noch um junges Gemüse wie der kleinen Sascha. Aber eben ganz ohne Schwung und Finesse, sondern halt aus einigermaßen gut situierter Dumpfheit heraus, die mit Schnaps und anderem Zeugs mit hängenden Flügeln ein bisschen beflügelt werden will. Vieles, wenn nicht gar alles ist jedoch umsonst. Selbst der angestrebte Selbstmord misslingt Ivanov aus purer Müdigkeit und Schlaffheit, aus der er zwei lange Stunden sowieso nie herausguckt. In Zadeks berühmter Wiener Inszenierung kippte der wenigstens am Ende mausetot vom Stuhl.

Nicht gerade eine Mordsidee, das triste Alltagsblabla zu verloopen, aber immerhin ein halborigineller Gedanke, der durchaus ausbaufähig gewesen wäre. Bühnenbild (Hugo Gretler), Videosequenzen (Kai Schadeberg) und Musik (Tobias Vethake) taten dann auch ihr Bestes, dem Ganzen atmosphärisch auf die Sprünge zu helfen. Aber es haperte am Schauspiel Leipzig ziemlich gewaltig an der Schauspiel- respektive Sprechkunst. Mit den Ausnahmen Ellen Hellwig (als Avdotja Nazarovna), Matthias Hummitzsch (als Sabelskij) und Pina Bergemann (als Sascha) waren der Rest der Akteure den tschechowschen Worten (Übersetzung Peter Urban) nicht so recht gewachsen.

Verhaspelte Schreiorgien machen das Kraut nicht fett. So bekam man Schablonen von Nikotinsucht (Avdotja), Fresssucht (Babakina), Spielsucht (Kosych), Geldsucht (Borkin), Trunksucht (Lebedev), Geltungssucht (Lvov) und Schwindsucht (Anna Petrovna/Sara Abramson) vorgeführt statt Lebewesen mit Problemen. Mag sein, dass dies heutzutage sowieso der digitalisierte Weltenlauf ist als Prozentzahl in der Statistik zu enden, aber theatralisch gelungen sieht eben doch anders aus.

Anton Tschechov selbst, durchaus ein genial versnobter und gleichermaßen hoffnungslos wie bestechend gleichgültiger Intellektueller in speziell russischer Provenienz, hatte folgende Idee, was gerade in diesem Stück hinten bei herauskommen sollte: “...und zum Schluss bekommt der Zuschauer eins auf die Schnauze!“

Verglichen mit dieser kernigen Aussage ging die Leipziger Erstaufführung des „Ivanov“ dann doch eher in die Hose.

Was Diedrich Diederichsen, das Schlachtross eines hochgezwirbelten Popjournalismus, im Programmheft zu Tschechows „Ivanov“ zu suchen hatte, war ein Geheimnis, das die Dramaturgie vor Vorstellungsbeginn exklusiv für sich hatte. Während der Bühnenaktion ging unsereinem freilich ein Lichtlein auf, dass der oder das angesprochene Loop, über das der mittlerweile zum Popphilosophen aufgerückte Diederichsen seit geraumen Jahren auf höchstem Niveau daher schwafelt, ganz konkret die Inszenierungsidee von Regisseur Michael Talke ist.

Im pflaumenweichen Hamsterrad der Depression trödelt und loopt also der Protagonist und Gutsverwalter Ivanov mitsamt der ihn umschwirrenden Langweilermischpoke herum, ohne recht vorwärts zu kommen. Es geht sowieso bloß um Geld und Weiber, und wenn’s hoch kommt eben noch um junges Gemüse wie der kleinen Sasa. Aber eben ganz ohne Schwung und Finesse, sondern halt aus einigermaßen gut situierter Dumpfheit heraus, die mit Schnaps und anderem Zeugs mit hängenden Flügeln ein bisschen beflügelt werden will. Vieles, wenn nicht gar alles ist jedoch umsonst. Selbst der angestrebte Selbstmord misslingt Ivanov, der wenigstens in Zadeks berühmter Wiener Inszenierung einfach tot vom Stuhl kippt, aus purer Müdigkeit und Schlaffheit, aus der er zwei lange Stunden nie herausguckt.

Nicht gerade eine Mordsidee, aber immerhin ein halborigineller Gedanke, der durchaus ausbaufähig gewesen wäre. Bühnenbild, Videosequenzen und Musik taten dann auch ihr Bestes, dem Ganzen atmosphärisch auf die Sprünge zu helfen. Aber es haperte am Schauspiel Leipzig ziemlich gewaltig an der Schauspiel- respektive Sprechkunst. Mit den Ausnahmen Ellen Hellwig, Matthias Hummitzsch und Pina Bergemann waren der Rest der Akteure den tschechowschen Worten (Übersetzung Peter Urban) nicht so recht gewachsen. Verhaspelte Schreiorgien machen das Kraut nicht fett. So bekam man Schablonen von Nikotinsucht, Fresssucht, Spielsucht, Geldsucht, Schwindsucht und Geldsucht vorgeführt statt Lebewesen mit Problemen. Mag sein, dass dies heutzutage sowieso der digitalisierte Weltenlauf ist als Prozentzahl in der Statistik zu enden, aber theatralisch gelungen sieht eben anders aus.

Anton Tschechov selbst, durchaus ein genial versnobter und gleichermaßen hoffnungslos wie bestechend gleichgültiger Intellektueller russischer Provenienz, hatte folgende Idee, was gerade in diesem Stück hinten bei herauskommen sollte: “...und zum Schluss bekommt der Zuschauer eins auf die Schnauze!“
Damit verglichen ging die Leipziger Erstaufführung des „Ivanov“ dann doch eher in die Hose.
Leserkritiken: Gegenansicht zu Ivanov
Zu Pauline Blumensteins gleich doppelt gemoppelter Kritik: Man kann das vielleicht so empfinden - mir ging es anders: Ich fand die ins-Bild-Setzung der Depression schlüssig, inklusive der schablonenhaften Figurenzeichnung, alle waren ja immer irgendwie in der Sichtweise der Hauptfigur verankert. Das war auch erhellend im Zusammenhang mit diesem Stück, das ich bis jetzt immer als Komödie gelesen und gesehen hatte, auch damals in Wien. Nicht nachvollziehen kann ich allerdings das Schauspieler-Bashing. Immer wieder geht es mit der Kritikerzunft, auch der selbsternannten, durch: Mal Noten verteilen, und mancherorts gymnasiallehrerhaft drauf hauen: "Nicht dem Text gewachsen"? Was meinen Sie damit? Tut das eigentlich gut? Fühlt man sich danach besser?
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: unmittelbar ans Herz
man kan diese gelungen aufführung gar nicht genug preisen für ihre konzeption, alle figuren aus ivanovs sicht zu beschreiben und entsprechend zu verzerren. schon in der literarischen vorlage erreicht das personal nicht die vielschichtige tiefe, wie man sie aus späteren cechov stücken kennt. dies mag ein grund sein, warum diese stück relativ selten zu seheh ist. von ivanov weiß man in leipzig schon zu beginn,daß er aufgegeben hat. nur warum möchte man wissen. eine antwort liegt an diesen unerträglichen typen und fratzen, die in der leipziger inszenierung unverbesserlich, unreformierbar,unbelehrbar und ausschließlich amüsierwillig unaufhörlich an ivanov vorbeiziehen. hier wurde eindeutig aus einer literarischen not eine inszenatorische tugend gemacht. man muß das nicht so machen, wie es gottscheff an der volksbühne gezeigt hat und kräftig gestrichen und zusammengelegt hat, aber wenn man es macht, dann so. das ensemle wurde so zum heimlichen star des abends. und die gesellschaft, die es porträtierte, war der unerträgliche grund für ivanovs scheitern. statt gegen sich hätte ivanov seine waffe gegen diese versammlung von unerträglichen richten müssen, das wäre der einzige ausweg gewesen. aber so ein ende gibt es wohl nur im märcnen. ein böser, ein gelungener abend am leipziger schauspiel! endlich! man hat lange genug darauf gewartet. und das ensemble nimmt sich diese konzeption mit großer lust und dort wo die szene stilleres erlaubt, gehen die töne unmittelbar ans herz! großes kompliment! danke!
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Ticket zurück?
Liebe Paulien Blunenstein! Hä?????? in welchem Stück/ in welcher Inszenierung waren sie denn?

"Im pflaumenweichen Hamsterrad der Depression trödelt und loopt also der Protagonist und Gutsverwalter Ivanov mitsamt der ihn umschwirrenden Langweilermischpoke herum, ohne recht vorwärts zu kommen. Es geht sowieso bloß um Geld und Weiber, und wenn’s hoch kommt eben noch um junges Gemüse wie der kleinen Sasa. Aber eben ganz ohne Schwung und Finesse, sondern halt aus einigermaßen gut situierter Dumpfheit heraus, die mit Schnaps und anderem Zeugs mit hängenden Flügeln ein bisschen beflügelt werden will. Vieles, wenn nicht gar alles ist jedoch umsonst."

Ja, diese kraftlose, nur aufs Geld fixierte, sich langweilende Gesellschaft, die so tut als gäbe es keine anderen Probleme, ging mir ebenso wie Ihnen gehörig auf den Sack! Nur kam sie mir so verdammt bekannt vor! Ich habs fast nicht ausgehalten, daß man gegen diese Freaks auf der Bühne nichts ausrichten konnte. Die sitzen in Banken, in Stadträten, in Parlamenten, unterrichten unsere Kinder, schreiben für Zeitungen, machen Theater, sitzen im Publikun und halten sich für kritisch... Dass an Ihnen ein Ivanov verreckt, wenn wunderts. Dass der Aufführung gelungen ist, das mit diesem alten Stück zu zeigen, ist ein Erfolg. Deswegen fand ich die Aufführung auch gut.
Was ich sagen will , liebe Pauline, ist, dass das, was sie Stück und Aufführung kritisch vorwerfen, der Inhalt ist. Schade, daß sie diesen verpasst haben, dann muß der Abend ja schlimm für sie gewesen sein.
Wir anderen Zuschauer nämlich waren interessiert und begeistert! Wir hatten auch den Eindruck, daß Regie, Bühne, Kostüm, Maske, Musik, Beleuchtung, Video und die Schauspieler einen dichten und hochemtionalen Totentanz erstellt haben, an dem wirklich alles zusammenfloß und zusammenkam. Und das war mehr als man von diesem Stück erwarten konnte. Dewegen haben wir am Ende auch so eindeutig gejubelt. Ich hoffe, da haben Sie sich nicht einsam gefühlt.
Naja, vielleicht nimmt die Theaterkasse das Ticket ja zurück.
Den Diedrichsen Artikel fand ich übrigens auch nicht nötig im Programmheft, aber ein Schwafler ist der Diedrichsen deswegen auch noch nicht, er kann ja nichts fürs abdrucken.

Mit freundlichem Gruß

Paul Steinblume
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: bitte googlen
Liebe Pauline,
dass Sie wie viele andere hier diese Seite nutzen, mit aller Macht die neue Arbeit in Leipzig zu bashen, ist traurig. (...)
Googeln Sie bitte nach anderen Ivanov-Besprechungen, die alle in den Jubel des Premierenpublikums einstimmen. Schauen Sie mal, wenn Sie mal tatsächlich da sein sollten, wie viele Menschen auf einmal wieder im Theater sind. Das muss Ihnen sicher alles sehr, sehr weh tun.
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: endlich ausschlafen
Dieses Theater hat in Leipzig eine Zukunft. Bei diesem Hartmann musste ich mich immer aufregen. Bei Lübbe und Kollegen kann man endlich mal ausschlafen. Und das Engagement des Theaters auf nachtkritik ist einfach klasse. Wie die hier Premierenhymnen aus dem Ärmel schütteln. So eine Sekretärin bräuchte ich auch.
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: falscher Maßstab Quote
@_@pauline... welche jubel-kritiken meinen Sie denn bitte... hochgelobtes kann ich nicht finden... eher außer lokalem so ganz wenig und nicht besonders aussagekräftig... und ein voller saal tut niemandem weh, über den freut sich eigentlich jeder... wobei das nichts über küntlerische qualität aussagt. florian silbereisen hat auch immer volle säle... sie wollen doch nicht wirklich bei einem subventionierten theater die maßstäbe der künstlerischen qualität an der quote messen... diesen fehler begehen die öffentlich rechtlichen seit jahrzehnten und man kann sehen wohin das geführt hat... für das messen an quote muß man nicht subventionieren... @_@pauline: mal abgesehen von Ihren unterstellungen hier würde bashing stattfinden; wie hat Ihnen persönlich der abend gefallen?
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: alles prima?
Ich finde es nur menschli, wenn die, die nie beim Hartmann waren aber immer draufgehauen haben, wenn die jetzt alles prima finden, das Theater ist gerettet und die Kultur ist wieder ins Lot gebracht. Das ist ganz natürlich, da kann das Theater noch so dulli sein. Es muss dann einfach gefallen und bejubelt werden. Lassen Sie doch die Leute mal. Wer jahrelang gebasht hat, der will jetzt auch mal wieder ins Theater gehen dürfen, ohne dass andere das jetzt bashen einfach soho!

(Werte Leipzig-Kommentatoren,
ehrlich gesagt, ich hege leise Zweifel daran, dass diese pauschal die Gegenseite verunglimpfenden Vorwürfe und Unterstellungen, wie sie hier von mehreren (und von beiden Seiten aus) geführt werden, wirklich einen interessanten Beitrag zur Diskussion darstellen.
Vielleicht könnten Sie stattdessen Konkretes zum "Ivanov" oder zu anderen Inszenierungen beitragen?
Freundliche Grüße,
Anne Peter)
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Frage + Antwort
Liebe nachtkritik-Redaktion,
gibt es eigentlich Neuigkeiten zum Leipziger Defizit? Danke für Infos! T.

(Lieber Tommy,
nein, gibt es noch nicht. Wir sind aber weiter an der Sache dran und informieren Sie, sobald es Mitteilenswertes gibt.
Beste Grüße,
Anne Peter)
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Ringen + Kämpfen um Inhalt
tatsächlich wird es der leipziger ivanov schwer haben, seine formensprache ist zu zurückhaltend und er besticht durch leise töne. in all dem lärm um die eröffnung findet er beinahe unbemerkt statt. aber und dass unterschiedet ihn von den bisherigen aufführungen im schauspielhaus, ihm ist sein ringen und kämpfen um einen inhalt deutlich anzumerken. und ich denke, dass macht unabhängig von seinen inszenatorischen mitteln diese aufführung so erfolgreich. erfolgreicher als seine vorgänger othello und emilia. insofern ist diese aufführung zum erstenmal seit der eröffunug der intendanu lübbe überhaupt diskussionsfähig.
Leserkritiken: Ivanov, Leipzig: Talke ist Castorfepigone
Michael Talke hätte genausogut bei Hartmann arbeiten können. Er gehört doch auch in den Club der Castorfepigonen, auch wenn er bisher weitgehend unbemerkt geblieben ist. Letzlich hat er begriffen, daß es um Inhalte geht und nicht um Vielfalt. Ich fürchte, er wird die Ausnahme in Leipzig bleiben.
Leserkritiken: es lebe das Stadttheater
zu Geier:

Regionale Kritiken sind doch auch Kritiken! Es sind doch nicht nur Idioten in Leipzig unterwegs. Es lebe das Stadttheater in seinem posititiven Sinne! Für die Stadt ist das Theater gedacht und da wird es wahrgenommen, nichr alles, was das überregionale Feuilleton nicht wahrnimmt, ist schlecht! Ich könnte mir aber gut vorstellen, daß auch einige überregionale Kritiker den Leipziger Ivanov angenommen hätten.
Leserkritiken: Leipzig-Mutmaßung
Liebe Frau Peters,
Danke für ihre Antwort. Täuscht der Eindruck, dass die Bekanntmachung der Rechnungsergebnisse sich so verschleppt. Zuerst hatte man die für letzte Woche Donnerstag angekündigt, dann für diesen Montag, jetzt ist bald eine Woche um. Kann es sein, dass die Ergebnisse nicht dem entsprechen, was die Damen und Herren in unserem Rathaus und im Theater so vollmundig in die Welt gesetzt haben und jetzt versuchen, erstmal Gras, schönes saftiges Gras drüber wachsen zu lassen????
Leserkritik: Jules und Jim, Deutsches Theater Berlin
Nach dem Roman von Henri-Pierre Roché: Jules und Jim, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Lilja Rupprecht)

Von Sascha Krieger

Ja, ja, die Liebe: Den Franzosen sagt man ja nach, sie hätten eine ganz besondere Beziehung zu ihr. Und nirgendwo wird so ausgiebig über sie philosophiert, ja, wird sie gar vom Thema zum Grundprinzip jeglicher Philosophie und Welt- wie Menschenerkenntnis wie in der französischen Kunst. Henri-Pierre Rochés Roman Jules et Jim und Francois Truffauts Verfilmung desselben sind hierfür sicher Paradebeispiele. Die Mischung aus fataler Dreiecksgeschichte, der Unerkennbarkeit von Liebe und Tod dem Spiel von Liebesbedürfnis und Abstoßung des anderen, von Sehnsucht nach Nähe und Unfähigkeit sie zuzulassen, sucht Ihresgleichen. So existenziell war Liebe nie, so selbstverständlich die Gleichzeitigkeit ihrer An- und Abwesenheit, ihrer Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Was wird hier philosophiert und psychologisiert und interpretiert und manipuliert und am Ende sind zwei tot und einer bleibt zurück. Das funktioniert im Film durch die magische Bildsprache, den traumähnlichen Sog, den Truffaut in seinem vielleicht besten Film entwickelt. Aber auf der Bühne, noch dazu einer im prosaisch-pragmatischen Deutschland?

Da bleibt die Unentrinnbarkeit, die Alternativlosigkeit, könnte man mit der Kanzlerin sagen, dieser sich selbst vernichtenden Liebe, ein seltsam verschrobener Fremdkörper. Dabei macht Regisseurin Lilja Rupprecht vieles richtig: Da ist die Fensteröffnung, aus dem der Flieder, Frühlings- und Liebesgewächs par excellence, wuchert und sich auf die Bühne ergießt wie ein opulenter Grabschmuck. Da ist der Rückblick aus dem Grab, den Johanna Matz als schon lange gestorbene Catherine mit freundlich abgeklärter Sachlichkeit liefert und über dem Ole Lagerpusch, Elias Arens und Olivia Gräser in einer leichtfüßig ineinander fließenden Mischung aus Nacherzählen, szenischen Sketchen und ausschweifenden Erklärungen das Traumgespinst dieser Liebesutopie, die zur Dystopie wird, ausbreiten. Und da ist Ole Lagerpusch, dem man den traurigen Sehnsuchtspoeten, den verzweifelt Liebessüchtigen, den philosophierenden Selbstzerstörer Jules jederzeit abnimmt und der in Elias Arens‘ trocken pragmatischem Liebessachbearbeiter Jim sein kongeniales Gegenstück findet.

Und doch bleibt das vor allem eines: leeres Gerede, Behauptung, Abklatsch. Zu gestückelt kommt das daher, zu repetitiv die Erklärungsorgien, zu angedeutet die Szenenfragmente, zu wenig ausgestaltet die Charakterisierung. Die von der Liebe Schwadronierenden bleiben hier Abziehbilder. Lilja Rupprecht erzählt nach, aber sie findet keine eigene Sicht, keine theatrale Sprache, keine Haltung. Das Dauerdudeln französischer Chansons haucht dem Geschehen ebenso wenig Leben ein wie kurze Videoeinsprengsel, die mal eben beide Weltkriege samt Shoah als Folie aufrufen. Da wirkt Lagerpusch zugegeben mit zunehmender Dauer immer schwerer erträgliche Weinerlichkeit noch einen Tick lächerlicher und kleiner, während die Ernsthaftigkeit des Behaupteten nie ins Ironische gekehrt wird. Nein, das hier ist so gemeint, doch was soll es bedeuten? Liebe ist eigentlich unmöglich und endet tödlich, aber wir können nicht anders? Sigmund Freud hat in einer seiner frühen Arbeiten einmal das Lustprinzip aus dem Todestrieb abgeleitet. Wer Jules und Jim am Deutschen Theater gesehen hat, könnte das plausibel finden.

http://stagescreen.wordpress.com/
Leserkritik: Eine Schneise von Händl Klaus, Nürnberg
Eine Schneise (Staatstheater Nürnberg, Kammerspiele)
von Händl Klaus
Regie: Stefan Otteni

Tatort Wald - der Polizist Peter ist mit kriminalistischem Instrumentarium schon vor Ort. Doch der Fall erweist sich als kompliziert: ein Brandstifter war da, der eine Schneise und 14 verkohlte Bienenstöcke hinterlassen hat. Dazu lebt in der Einöde noch die Lehrerin Kathrin, eine naturbewusste Frau, deren junger Sohn Lukas (eine Mischung aus Parzival und Simplicissimus? ein Anagramm für Klaus H.?) gerne wissen möchte, wer eigentlich sein Vater ist. Die zerstörten Bienenstöcke gehören dem Imker Wim, der früher als Kunstfehler-Arzt im Gefängnis saß und nun offensichtlich mit einer Milben-Kultur die Bienen weltweit ausrotten will. Der eigentlich Schuldige an dieser thematischen Melange aus Straftaten und Psycho-Problemen ist der kauzige Tiroler Stückeschreiber Klaus Händl alias Händl Klaus. Und der erklärt nebulös: „Alle sind dabei verdächtig: mögliche Täter, wie sie sammeln und reden. Aus ihren Spuren, die weit zurück reichen, und den Schlüssen, die sie ziehen, entsteht ein zitterndes Bild, von Bienen erwidert - die sie umkreisen.“
Die über-ambitionierte Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 2012 (damals noch unter dem Titel „Meine Bienen. Eine Schneise“) von Nicolas Liautard operierte mit einem Sängerknaben und der österreichischen Crossover-Kapelle Musicbanda Franui, missverstand das Auftragswerk als kunstgewerbliche Märchen-Oper und erntete nur Kopfschütteln und Langeweile.
Dagegen will bei der deutschen Erstaufführung in Nürnberg Regisseur Stefan Otteni (seine Regie zu Handkes „Immer noch Sturm“ bekam überregionale Zustimmung) erfreulicherweise gar nicht alle Motiv-Fallstricke des Autors entschlüsseln und präsentiert stattdessen ein auf 75 Minuten komprimiertes Rätselspiel mit einer souverän und beweglich agieren¬den Viererbande (Josephine Köhler, Elke Wollmann, Stefan Willi Wang, Thomas Nunner). Die müssen zu Anfang erst einmal die Bühne mit schwarzen Plastikfetzen ordentlich vermüllen, damit die authentische Brand-Atmosphäre aufkommt. Wechselweise nur mit hautfarbenem Ganzkörper-Trikot wie behaarte Nackt-Primaten (was bei den beiden Männern eigentlich keinen rechten Sinn macht) oder als Alltagsmenschen schmettern sie die Händlschen Sprachkörper mit verhackstückten Dialogen ins Publikum - gerne auch als enervierende Warteschleife! Die traute Wald-Foto-Kulisse wird mit schwarzem Filzstift zugemalt, ein verkohlter Baum ist in die Szene gestürzt. Am Schluss bleiben - ganz im Gegensatz zum konventionellen Sonntags-Tatort - natürlich alle Fragen offen; aber schön, dass wir darüber (worüber?) geredet haben!
Leserkritik: Die graue Stunde, Münchner Kammerspiele (R: Zino Wey)
Gelungener Start in die Laboratorium-Reihe

Irgendwo. Irgendwann. Vielleicht in einer Stadt in Ungarn, diese Vermutung legt die Biografie Ágota Kristófs nahe, die 1956, nach dem niedergeschlagenen Ungarnaufstand, gegen ihre eigenen Wünsche das Land verließ. Und vielleicht spielt die Geschichte in den 50ern oder 60ern, denn das suggerierten die Kostüme und das spartanische Bühnenbild von Davy van Gerven. Aber es könnte auch ganz anders sein und das ist auch gut so, denn die Geschichte sprengt ohnehin Zeit und Raum.

Sie ist eine Prostituierte und er, seit vielen Jahren fester Kunde, ist ein Taschendieb, ein Kleinkrimineller, der von der Hand des Gesetzes immer mal wieder aus dem Verkehr gezogen wurde. Dann begann für Sie die Zeit des Wartens und auch die Zeit des Spekulierens. Was, wenn Er nicht mehr lebte? Sie würde es nie erfahren. Sie würde warten, meint Er, Nächte durchwachen und suchen. Zum Beispiel nach „einem Gegenstand, der dich erinnert an die Bewegung, mit der ich meinen Mantel auszog. Aber ich habe nichts zurückgelassen. Wenn die Sonne aufgeht, schließt du das Fenster und legst dich hin. So immer wieder, jahrelang, Tag für Tag.“

Am Ende weiß der Zuschauer, dass es um mehr ging, als um eine sexuelle Dienstleistung. Auf dreiundzwanzig dürftig beschriebenen Textseiten erzählt Ágota Kristóf von der Tragik zweier verschenkter Leben und einer nichtgelebten Liebe. Es ist eine existenzielle Geschichte, denn es gibt in ihr auch ein Messer, das jedoch nicht zur Anwendung kommt. Allein die Aussicht, die dieses Utensil verheißt, macht das Thema zum größtmöglichen: Liebe und Tod. Weder das eine noch das andere findet statt. Für den Tod ist es zu spät und die Liebe ist erloschen. Er hat längst das Interesse an ihrem Körper verloren. Mit jedem anderen Kunden ist seine Liebe ein Stückchen gestorben. Sie ist in ihrer Sehnsucht welk geworden. Lediglich ihre Fantasie hält ihn noch. Er: „Träume von uns. Von dir und mir.“ Und bevor er am Ende in „die Morgenröte in ihrer ganzen Pracht“ nach der „grauen Stunde“ hinausgeht, stellt sie ein letztes Mal ein gemeinsames Leben in Aussicht. Vergeblich.

Die Inszenierung des 1988 geborenen Zino Wey war der Auftakt zur „Laboratorium-Reihe“. Darin kommen die Theatermacher aus der zweiten Reihe zum Zug, die Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner, die z.Z. als Assistenten an den Münchner Kammerspielen arbeiten. Eine Innovation, für die den Kammerspielen wiederum höchstes Lob gebührt. Leider hat die Bezeichnung Laboratorium einen Beigeschmack, der den einen oder anderen Theatergänger mit geringer Neigung zu Experimenten abschrecken könnte. Das wäre wirklich schade, denn die Inszenierung von Zino Wey war nicht nur eine handwerklich gestandene Arbeit, sondern darüber hinaus Bühnenästhetik vom Feinsten. Wey entwickelte eine Spielsituation, die von jeglichem Realismus abstrahierte. Die wenigen Texte wurden ohne ausufernde Expression mit höchster Intensität dargeboten. Sylvana Krappatsch und Steven Scharf fesselten mit einem extrem reduzierten Spiel. Die knapp einstündige Vorstellung lebte von den vielen, auch langen Pausen. Der erste Satz wurde zehn Minuten nach Beginn der Vorstellung gesprochen. Die Wucht, mit der die Spannung gebrochen wurde, hatte beinahe Erlösungscharakter. Beide Darsteller agierten mit minimalistischen Haltungen und Gesten, die den Abend zu einem herausragenden artifiziellen Erlebnis machten.

Ziel der „Laboratorium-Reihe“ ist die „Befragung der Gegenwart mit unterschiedlichsten theatralen Verfahrensweisen“. Bereits mit dem ersten Versuch ist den Machern ein großer Wurf gelungen. Dabei spielte die Wahl der Vorlage eine gewichtige Rolle. Es ist ein Text, der weit über jede Realität hinausgeht, dessen Substanz aber fraglos aus der Realität (und nicht nur aus der heutigen) gespeist ist. Es ist ein Kunst-Stück, das kein Verfallsdatum hat.

Zino Wey bewies Mut mit seiner Inszenierung, denn sie verstieß gegen heutige Sehgewohnheiten, die sehr stark von Film und Werbung geprägt sind. Er bewies den Mut zur Verzögerung, zu weichen Schnitten und er gab der Sprache den Vorrang. Es gab Momente im Stück, die wegen der extremen Spannung auch für das Publikum quälend werden konnten. Das hatte Beckettsche Dimensionen. Unterlegt war das Spiel von an- und abschwellendem atmosphärischen Grollen. Man hatte das Gefühl, die Zeit atmen zu hören.

Vermutlich blieb kaum jemand im Publikum unberührt von der Geschichte und dem tiefen seelischen Leid, durch das die Protagonisten unaufdringlich und dennoch deutlich sichtbar hindurchgehen mussten. Es war eine Geschichte zweier Liebenden, die, wie die Königskinder, nicht zueinander kommen konnten. Sie war zudem angefüllt mit erstaunlicher, weil nicht gängiger Poesie, die nie auch nur ansatzweise in die Nähe von Kitsch geriet. Geschichte und Inszenierung war eine gelungene Synthese, was darauf schließen lässt, dass der junge Regisseur und seine ebenso jungen Mitstreiter klare künstlerische Vorstellungen hatten, die sie auch konsequent umzusetzen wussten. Gratulation!



Wolf Banitzki
http://www.theaterkritiken.com/index.php?option=com_content&view=article&id=1134:die-grauen-stunden&catid=35:werkraum
Leserkritik: Kinder der Sonne, Gorki Theater Berlin
Nurkan Erpulat hat den Abend jetzt am Berliner Maxim Gorki Theater mit dem dortigen Ensemble nachinszeniert. Die Kritik gibt es hier: http://stagescreen.wordpress.com/2014/01/22/grau-ist-die-hoffnung/
Leserkritik Dennis Kelly "Schutt" am DT Berlin
Dennis Kelly: Schutt, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Marike Moiteaux)

Dennis Kelly gehört heute zu den meistgespielten britischen Gegenwartsdramatikern – nicht zuletzt auch im deutschsprachigen Raum. Natürlich war das nicht immer so, hat auch Kelly einmal klein angefangen, in den Nischen der Londoner Off-Theater-Szene. Hier, im Theatre503 im Stadtteil Battersea, fand 2003 die Uraufführung von Kellys Erstlingswerk Debris, zu Deutsch Schutt, statt. Das Deutsche Theater gibt in seiner Box dem Berliner Publikum jetzt Gelegenheit, dieses Frühwerk kennenzulernen. Regie führt Marike Moiteaux, bislang Regeassistentin am DT, die hier zum ersten Mal selbst Regie führt. Um Anfänge geht es auch in Kellys Zwei-Personenstück, das von zwei Geschwistern namens Michelle und Michael erzählt, die früh auf sich allein gestellt waren und sich durch das erfinden und erzählen von Geschichten einen Schutz- und Lebensraum geschaffen haben, in dem Erfindungsgeist und Vorstellungskraft und die Akzeptanz regieren, dass das Leben vom Wahnsinn regiert wird.

Und so erzählen die jetzt Erwachsenen Geschichten: vom Vater, der sich selbst gekreuzigt hat, vom Tod der Mutter, die in der Erinnerung Michelles – oder sollte man sagen: in ihrer Erfindung? – drei unterschiedliche Tode starb, vom reichen Mister Bodenschmeiß, der sie Kinder auf sein Anwesen mitnehmen wollte und dessen Beweggründe sich nur erahnen lassen, vom Kind, das Michael auf dem Müll fand und das er als seines aufziehen will. Es sind groteske, oft ins Surreale driftende Geschichten, Erzählungen, die auf dem Schutt und Müll (Schutt ist auch der Name, den Michael seinem "Sohn" gibt) einer Kindheit zwischen Verwahrlosung und Elend wachsen, die dem eigenen Überlebenswillen entspringen und die doch genau so nah an der Lebenswirklichkeit einer "lost generation", die sich geographisch schon längst nicht mehr eingrenzen lässt, sind wie sie sich von dem, was wir Realität nennen, entfernen.

Es geht um die Macht der Einbildungskraft, um die Fähigkeit des Menschen, sich neu zu erfinden, sich seiner Umgebung kreativ zu stellen und letztlich seine eigene Geschichte zu schreiben. Es geht aber auch um die Schutzmechanismen, die wir uns selbst auferlegen, über die unterschiedlichen Wege, mit der Kälte und Leere der erlebten Welt umzugehen. Während Michelle pragmatisch wie skeptisch ihre eigene Geschichte zu schreiben versucht, ist Michael ein Eskapist, der sich nur zu gern an vermeintliche Auswege klammert, der aber auch lernt loszulassen: das Kind, den Vater, die eigenen Träume, die zu oft Alpträume geworden sind.

Mehr: http://stagescreen.wordpress.com/2014/01/31/wenn-buchhalter-traumen/
Leserkritik: "dasKunst", Dschungel Wien
Verwirrspiel mit Schildkröteneinlage
„dasKunst“ feiert eine rasante Uraufführung im Dschungel Wien

Die Versuchsanordnung ist einfach: ein weißer Würfel und eine Frau, die raus will, raus aus dem Chaos und dem Wahnsinn, der durch die Türen in das sterile Theaterlabor gespült wird. Denn kaum ist eine Tür geschlossen öffnet sich eine Neue. Was hereindrängt bietet ein buntes gesellschaftliches Panorama. Der grantige Hausmeister gibt einer Putzfrau die Klinke in die Hand. Und zwischen einem koksenden Politiker und einer Innenraumausstatterin, ist kein Platz für Reflexion. Auch das Zwischenspiel mit der Psychiaterin lässt die Frau im Unklaren: Sprudeln diese Figuren nur aus ihrem Unterbewusstsein oder sind sie echt? Das kann nicht geklärt werden und darum klammert sich die Frau an den Gedanken einen Ausweg zu finden, eine Tür, die sich nur für sie öffnet. Aber wenn sie die Wände abtastet sind die fugenlos und undurchdringbar. Alev Irmak ist als Protagonistin die ganze Zeit auf der Bühne und sie hält, zwischen Wut, Verzweiflung und Unglauben hin und her gerissen, die Spannung.
Für das neue Stück „Cubus“ hat der Theaterverein „dasKunst“ Jim Hensons Film von 1969 neu ausgelegt. Darin werden die Absurdität von Kafkas Geschichten und die Fantasiewelt von Lewis Caroll verschmolzen. Das geschieht dann aber im 21. Jahrhundert und darum ist kein Platz für die Fügsamkeit von Kafkas Helden oder für die Neugier einer Alice im Wunderland. Hier prasseln die verschiedensten Eindrücke mit höchster Intensität auf die Protagonistin ein, die bei all den Begegnungen schon bald ihren eigenen Namen vergessen hat. Bernhard Mrak hat intelligent und schlagfertig getextet und Regie geführt. Heraus gekommen ist ein wildes Verwirrspiel, das von philosophischen Fragen an das Theater bis zur absurden Gesellschaftskritik reicht. Dass die verschiedensten Rollen, Puppenspieler, Polizisten, Manager, Beerdingungsgäste, eine esoterische Atemtrainerin und eine Schildkröte von nur vier Schauspielern verkörpert werden, ist beeindruckend. Besondere Intensität haben die Auftritte von Asli Kislal. Ihre Psychologin reißt in einem wilden Tick den Mund auf und ihr Hausmeister ist genauso kindlich verspielt wie streng, wenn die Protagonistin in Wut und Verzweiflung die Wände ramponiert.
Stark sind auch die surrealen Szenen. Das Körpertheater mit weißen Tiermasken und die beiden Degenfechterinnen, die sich die roten Luftballone auf ihren Köpfen zerstechen, führen auf einen psychedelischen Drogentrip, den Susanne Rietz als Ärztin eingefädelt hat. Dazwischen drängt immer wieder ein wenig Realismus in die Traumwelt. Eri Bakali zieht als Putzfrau über die Bühne und Oktay Günes durchsucht die Frau als wienernder Polizist. In diesen Momenten spielt das multi-staatsbürgerInnenschaftliche Ensemble die eigenen Akzente und Rollenbilder aus. „Wo kommen Sie her?“ fragt die Frau verdutzt den Hausmeister, der plötzlich in ihrem Würfel steht. „Meine Staatsbürgerschaft hat sie nicht zu interessieren.“, antwortet der und auf ähnliche Weise wird keine der vielen Fragen geklärt werden. Ob das alles nur ein Spiel war? Kurz scheint es am Ende so, aber das wäre ja dann doch zu einfach gewesen.

Die Uraufführung „Cubus“ des neo-ur-wiener Ensembles „dasKunst“ ist noch vom 19.-21.2. und wieder vom 8.-10.6. jeweils um 19:30 Uhr im Dschungel Wien zu sehen.
Leserkritiken: Reise durch NRW
Jeden Tag Theater! Ich bereise den gesamten Februar in einer Art Erschöpfungsperfomance die Bühnen in NRW und schreibe darüber. Unter derkritischeclaqueur.de finden sich Besprechungen zu den meisten wichtigen Theatern des Landes.
Leserkritik: "Clivia" an der Komischen Oper Berlin
Clivia, Operette in drei Akten von Nico Dostal, Komische Oper Berlin, Premiere: 8. März 2014

Die Operettenstadt Berlin – die einst, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in hoher Blüte stand – hat wahrhaft finstere Zeiten erlebt. In den 1990er Jahren gab es zwar mit dem Metropol-Theater noch ein Haus fürs Operettenrepertoire, doch ohne jede Bissigkeit oder auch nur einen künstlerischen Impuls wurde es, zuletzt unter der Intendanz René Kollos, in den plüschenen Ruin gespielt: Mit nur treuherzig restaurativen Aufführungen war kein Staat zu machen.

Wo aber die Gefahr des Untergangs dräute, wuchs das Rettende auch: Eine wunderbare Kleinkunst-Truppe namens Geschwister Pfister kaperte 1994 das Varieté-Zelt Bar jeder Vernunft und überraschte dort, verstärkt von erstrangigen Leuten wie Meret Becker, Otto Sander oder Walter Schmidinger, mit einer Operetten-Produktion, die mittlerweile Legende ist: mit Benatzkys „Im weißen Rößl“. Der Dreh der Sache war eigentlich ganz einfach: Man gehe das Ganze ein klein wenig ironisch an und werfe sich dann, von der liebevoll geschaffenen Distanz geschützt, dem gemütvollen Witz, dem Sentiment und zuletzt dem Kitsch umso freudiger an den Hals. Dem Charme dieser Aufführung konnte man sich nicht entziehen.

Schon damals soll Walter Schmidinger den Pfisters Nico Dostals „Clivia“ wärmstens anempfohlen haben, eine gekonnt zwischen südamerikanischem Exotismus, harmloser Politfarce und großem Gefühlskino aufgespannte Operette aus den 1930ern. Nun, 20 Jahre später, ist es tatsächlich zu dieser Produktion gekommen, und zwar im deutlich vergrößerten Rahmen: an Barrie Koskys Komischer Oper, die sich ganz offensiv die Operettenkunst als eines ihrer Standbeine auf die Fahne geschrieben hat.

Und siehe da: Der Ansatz von damals funktioniert noch immer prächtig, auch und gerade, wenn der Aufwand jetzt ein beträchtlich höherer ist. Die ironischen Anführungszeichen liefert die Besetzung gleich mit: Clivia, die Film-Diva, die sich in einen Gaucho verliebt, der wiederum niemand Geringeres als der Präsident der (fiktiven) Bananenrepublik Boliguay ist, diese Diva also wird von Christoph Marti alias Ursli Pfister gespielt … nein, nicht gespielt: gelebt! Jede Geste der Kunstfigur Ursli Pfister, jeder Hüftschwung, jedes Mienenspiel ist zitathaft-ironische Überhöhung und hingebungsvolle Glitzer- und Glamour-Leidenschaft zugleich. Wenn Ursli im zweiten Teil des Stücks im rauschhaft schönen Ballkleid mit Jean-Harlow-Perücke oben auf einer gleichsam alle Klischees übererfüllenden Showtreppe (Bühne: Stephan Prattes) erscheint, umrankt von riesigen Goldblütenkelchen, dann ist er die Diva der Diven, die Über-Diva schlechthin. Hingerissen applaudiert der Saal auf offener Szene. Und nimmt glücklich kichernd hin, dass diese Diva ihren Part in einem Timbre singt, das wie von Ursli Pfister erfunden scheint: in hoher Nasal-Baritonlage mit extra-offenen Vokalen und extra-schnalzenden Konsonanten.

Was um Ursli Pfisters Clivia herum passiert, ist große, von Stefan Huber routiniert inszenierte Revue samt den erprobten Überzeichnungen: Mit der ostentativen Betonung des Talmi-Glanzes wird auch die Lizenz zum Sich-Fallenlassen ins Triviale erteilt. Und so wirbeln denn adrette, von Andreja Schneider (dem Fräulein Schneider der Pfisters) angeführte und von Danny Costello fabelhaft frech choreografierte Hot-Pants-Soldatinnen durch die bonbonbunte Pappkulissen-Grenzstation des ersten Teils (Schenke, Schlagbaum und Tukan inklusive); Tobias Bonn alias Toni Pfister schmachtet sich schmonzettig durch seine Tenorpartie; Stefan Kurt intrigiert sich agil und jovial durch seine Filmproduzenten-Rolle; und das Orchester der Komischen Oper, nach der Verwandlung des ersten Bildes dekorativ neben der Showtreppe platziert, lässt sich von Kai Tietje schwungvoll durch dessen lässig federndes Arrangement führen. Und dann sind da auch noch zwei balzende Kunststoff-Schwäne, die die Grenze zum kitschigen Aberwitz endgültig überschreiten.

Scherz und schrille Ironie gibt es also viel zu bestaunen an diesem Abend – Satire oder gar tiefere Bedeutung indes wird man vergebens suchen. Was man mit einigem Recht bedauern kann. Dem Berliner Publikum aber genügte bei der Premiere die glänzende Oberflächen-Politur vollauf – und es warf sich der Divissima Ursli-Clivia begeistert zu Füßen.
Leserkritiken: Zarathustra in Köln
Schauspiel Köln: Streik, Judith, Genesis

Als Zarathustra in die Stadt Köln kam, welche am Rheine liegt, besuchte er das Schauspiel Köln; denn es war verheißen worden, daß man dort Gott uns seine Anhänger sehen solle.

Als er aber nach dem Besuch alleine war, sprach er also zu seinem Herzen; Sollte es denn möglich sein! Diese Kölner Theaterleute haben in ihrer Industriebrache noch nichts davon gehört, daß Gott tot ist.
Leserkritik: Bochum Theater unten
Schauspielhaus Bochum - Theater unten: Eine Sommernacht.
Premiere am 05.04.2014
Es ist ja zum Heulen, dass die wichtige dritte Figur des DJ Puck, dermaßen untergehen muss. Für diese Rolle ist das Timing noch wichtiger als sonst im Schauspiel. Er macht Geräusche, Soundkulisse und spricht zusätzliche Rollen. Sehr gut gemacht: Manuel Loos. So durch und durch Hipster-DJ!

Er wird aber damit leben können gegen diese überirdischen Leistungen von Kynga Prytula und Henrik Schubert, deren Rollen ja nun mal, teils die vierte Wand durchbrechend kommentierend und hauptsächlich spielend im Vordergrund stehen. Guten Schauspielern glaubt man ihre Rollen. Insofern: Alles gut!!

Der liebenswerte Kleinkriminelle, die frustrierte Anwältin und der hippe Hipster-DJ wurden treffend eingekleidet und agierten in einem nicht zu üppigen aber absolut realitätseindruckfördernden Bühnenbild. In Bochum wurde ich nie enttäuscht und oft sogar begeistert. Heute ganz locker sogar!! Führung übernahm Carla Niewöhner, die hier eine sehr gute Visitenkarte mit ihrer ersten Regiearbeit abgibt.
Gesamt möchte ich vorsichtig 8 von 10 Sternen vergeben
Leserkritiken: Geschichten von hier IV, DT Berlin
Ein Projekt von Frank Abt: Geschichten von hier IV: Was uns bleibt, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Frank Abt)

Wenn eine Serie ihre vierte Auflage erfährt, ist das gemeinhin ein Zeichen für Erfolg. Das Konzept scheint, wie es so schön heißt, angenommen zu werden, Interesse, das heißt Nachfrage, zu generieren. Regisseur Frank Abt und das Deutsche Theater würden in solchen Termini vermutlich nicht sprechen. Wenn ihr dokumentarisches Projekt Geschichten von hier jetzt in seine vierte Runde geht, hat dies vielleicht auch einen ganz profanen Grund: Die Geschichten, die sie finden, wollen einfach nicht ausgehen. Für Geschichten von hier werden Interviews mit „ganz normalen“ Menschen geführt, jeweils über ein bestimmtes Thema, die Erzählungen in einen Theatertext überführt und mit Schauspielern aufgeführt. Diesmal geht es um das Thema Familie, wie sie die nachfolgenden Generationen prägt, wie sich Familienbilder und Ansprüche an die gesellschaftliche Keimzelle verändern. Drei Familien rückt Abt in den Fokus, jeweils drei Generationen, die aus ihrer Sicht und an ihrem Beispiel Familien reflektieren. Es sind spezifisch deutsche Geschichten, welche ihren Fokuspunkt immer in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Und die de Frage aufwerfen, was denn nun eigentlich bleibt, von dem, was vor uns kam.

Jede Menge Gegenstände zunächst, die fein säuberlich gruppiert, auf der Bühne der Kamerspiele ausgelegt sind. Diese betritt der Zuschauer durch einen halb geöffneten Vorhang wie einen erinnerungsraum. Geschirr, Koffer, Fotos, Elektrogeräte, Spielzeug, Schmuck: Stumme Zeugen bewegter Leben, an denen Erinnerungen haften, die nur mit Glück noch wiederzubeschaffen sind. Vier Vertreter der Enkelgeneration treten auf, Studenten der Hochschule für Schauspiel „Ernst Busch“, gehen durch die Objektparade, nehme den einen oder anderen Gegenstand auf, erzählen, was ihnen dazu einfällt. Doch nein, hier geht es ja um Wichtiges. Und so beginnt Nils Strunk vorzulesen, aus dem Kriegstagebuch des späteres Lehrers und Politikers Wolfgang Weimar. Befremdliche Geschichten aus Verblendung, jugendlicher Abenteuerlust, heldischem Gepose, erschütternder Härte, aber auch Lebenswillen und pubertärem Liebesverlangen. Die ebenso beeindruckend komplexen wie gleichzeitig erschreckend ideologisierten Selbstreflexionen faszinieren in ihrer Direktheit – sie sind eben keine Erinnerung, sondern unmittelbar aufgeschriebenes Erlebtes. Es sind die Texte, die tragen, nicht die einfallslose Inszenierung. Da werden Szenen angedeutet, dürfen irgendwann auch die anderen lesen, denn es ist ja kollektives Gedächtnis. Der Text aber bleibt auf sich allein gestellt, verbleibt im Nirgendwo, allein gelassen.

Denn, das hatte man fast vergessen, hier soll es doch um Familie gehen. Also teilt sich das Publikum – je nach Farbe auf der Stuhllehne – auf in drei Gruppen, jeweils geführt von einem der Schauspieler, welche die Zuschauer in „ihre“ Familie mitnehmen. Drei Familien, drei Orte im DT: die Tischlerei, die Statistengarderobe, das Reinhardtzimmer. In Letzterem sind drei Generationen einer Familie deutscher Juden versammelt: die „nichtjüdische“ Großmutter, der Vater, ein Psychologe, die Tochter, Psychologiestudentin. Spannend der Ansatz, die Geschichte von hinten, vom Heute aus, aufzurollen. Und so erfahren wir von dem Wirkungen, welche die Familienhistorie auf die folgenden Generationen hatte, bevor wir die auslösenden Ereignisse kennen lernen. Viel ist von Kommunikation zu spüren, der (vielleicht viel zu) offenen heutigen und der verweigerten in der Großelterngeneration. Da wird das, was man nicht hören soll, zum Lebensinhalt und jenes, was immer wieder erzählt wird, zum genervt weggewischten. Auch Familienbilder wandeln sich. Von der alles teilenden Schicksalsgemeinschaft der ersten Generation über die Individualismusgläubigkeit der zweiten bis hin zum unaufgeregten Pragmatismus der Enkel.

Wie die Bedeutung der – nicht wenigen Schicksalsschläge – der Familie, ihrer Geschichte von Ausgrenzung und Entmenschlichung sich von Generation zu Generation wandelt, wie unterschiedliche Aspekte wichtig werden, wie der Zwang zur Erinnerung auch Reaktionen von Gegnerschaft und Verweigerung auslösen kann, ist überaus spannend. Nur leider geschieht das erneut vor allem auf der Ebene der – dokumentarischen – Texte. Das hat insbesondere damit zu tun, dass Abt seinen Figuren die Interaktion weitgehend verweigert. Es wird berichtet, aber nicht miteinander besprochen. Die verhandelten Beziehungen erscheinen dadurch eher abstrakt, nicht greif- und kaum nachvollziehbar. Die Distanz, welche die Aufbereitung der gesammelten Geschichte durch Schauspieler aufbaut – und aufbauen soll – steht wie eine Wand zwischen Zuschauer und Erzähltem. Eine Wand, die umso schmerzlicher wirkt, wenn, wie bei der Premiere, die, deren Geschichten hier erzählt werden, selbst anwesend sind. Die Schauspieler sprechen, als würde sie das alles nichts angehen. Und die verhindert, dass das Erzählte über das Individuelle hinausstrahlt, universell wird oder im zuschauer eigene Erinnerungs- und Reflexionsprozesse anstößt. Was den Zuhörenden die Frage nahelegt, was ihnen das bedeuten mag du ob die Antwort auf die Frage, was denn bleibe, nicht doch eine negative sei.

Da hilft auch der schön gedachte Epilog kaum: Da kommen die drei Gruppen wieder zusammen. Auf der Bühne ist eine Familientafel aufgebaut, es gibt Kartoffelsuppe aus dem zuvor ausgestellten Geschirr. Jetzt könnte sich der erzählraumerweitern, die passiv gehaltenen Zuschauer ihre Geschichten erzählen oder das Gehörte reflektieren. Aber nein: Räume sind an diesem Abend, dazu da, geschlossen zu werden. Und so kommen die „Familien“ zurück, stellen sich auf, und Strunk kann „seine“ Geschichte zu Ende erzählen: vom bei seiner Trauerfeier verlesenen Schuldeingeständnis Weimars, das die vorherige Unmittelbarkeit, die verstörenden Brüche der Selbstreflexion wieder angenehm einebnet und leicht verdaulich macht. Er hat seine Fehler eingesehen, also ist alles gut. Und so geht das Licht aus, man applaudiert und geht nach Hause. Der Rest ist, wie gehabt, Schweigen.

www.stagescreen.de
Leserkritik: "Dieses Grab ist mir zu klein" bei F.I.N.D 2014
F.I.N.D. 2014 – Biljana Srbljanović: Dieses Grab ist mir zu klein, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Werkstattinszenierung/Regie: Mina Salehpour)

Nein, die Weltgeschichte zu beeinflussen traut man diesen reichlich lächerlichen Gestalten wirklich nicht zu. Wie die Jungs in ihren viel zu bunten Klamotten mit ihren – zumeist erfundenen – Heldentaten prahlen, um sich erwachsen zu fühlen und natürlich einem Mädchen zu imponieren, bewegt sich irgendwo zwischen Förmchenwerfen im Sandkasten und Schwanzvergleich. Fast möchte man meinen, Herbert Fritsch würde jetzt an der Schaubühne inszenieren, zu deutlich sind die Zitaten: von der grell karikaturesken Kleidung über die weißgeschminkten Gesichter bis zu den zuweilen weit aufgerissenen Mündern und slapstickähnlichen Varieténummern. Die gefeierte Jungregisseurin Mina Salehpour hat Biljana Srbljanovićs Stück Dieses Grab ist mir zu klein über die Attentäter von Sarajevo, die, ohne es zu wollen, den Auslöser gaben für den ersten Weltkrieg, an der Schaubühne als Werkstattinszenierung herausgebracht – und als infantil-pubertären Posing-Wettstreit interpretiert.

Mit klar besetzten Rollen: Der Todesschütze Gavrilo Princip (Bernardo Arias Porras) ist ein ungeduldiger, leicht reizbarer, sehr auf sein Image bedachter Teenager, sein Freund Nedeljko Čabrinović (Konstantin Shklyar) sein dümmlich naiver Gegenpol, Tilman Strauß spielt den älteren Danilo Ilić als arroganten Besserwisser, Ulrich Hoppe der Geheimbund-Führer Apis als aufgeblasen komplexbeladenen Jammerlappen, während Luise Wolfram als Danilos Schwester Ljubica kokett alle Freche-Mädchen-Klischees bedient. All das Heldengeschwätz, das Srbljanović ihren Figuren zugesteht – Salehpour nimmt es für keine Sekunde ernst. Für sie ist das kindisches Gepose, die Lächerlichkeit alles Heldentums ihr Thema. Céline Demars‘ schräge Bretterbühne ist perfekte Metapher: Morsch ist der ideologische Unterbau, groß das Gefälle zwischen Anspruch und Wirklichkeit, all das Gerede von Heimat und Ehre und Nation pubertäres Gewäsch. Wo Srbljanovićs Text ambivalent bleibt, unterschiedliche Sichtweisen zulässt und anbietet, bleibt bei Salehpour nur Schwarz und Weiß. Ob sie im Kino sitzen oder die Wirkungen von Cannabis erleben: Das sind keine Helden, sondern selbstsüchtige Gören, denen der eigene Ruhm, das eigene Image wichtiger ist als alles. Heldentum als Egobefriedigung, sonst nichts.

Nun ist das leider nicht abendfüllend und auch für die gerade einstündige Schaubühnen-Fassung reicht das kaum. Dass das Spiel dieser Pubertierenden tödliche Auswirkungen hat wird in einer grellen Varietészene mit Originalzitaten zwar belegt, den farcenhaften Tonfall hat auch diese Sequenz. Das ist zu einfach gedacht und umgesetzt: die simple Figurenzeichnung, die einzelne Inszenierungsidee, die bis zur Erschöpfung ausgeschlachtet wird, die plakative Deutung gepaart mit halbherzigem Stich ins Groteske. Das wirkt nicht nur unfertig, es ist vor allem ein wenig denkfaul. Da hilft auch der subtilere Schlussakkord kaum: Strauß’ Ilić, längst hingerichtet, besucht die baldigen Toten, die nacheinander entspannt da liegen, der Tod ein Traum aus vollbrachter Ruhmestat und zukünftiger Verehrung. Eine trügerische Hoffnung, wie Strauß dem sanft lächelnden Arias Porras offenbart. Auch Princips Ruhm ist vergänglich und wandelbar: „Alles wird verschwinden“, sagt Ilić, „Wie sind verschwunden.“ Ein ernster, fast lyrischer Schluss und doch in seiner Botschaft und Bildsprache zu klar, zu eindeutig. Wenn die Geschichte etwas gelehrt hat, dann, dass Schwarz und Weiß schlechte Ratgeber sind. In Dieses Grab ist mir zu klein – den Satz spricht Apis vor seiner Erschießung – bleiben sie die einzigen.

www.stagescreen.de
Leserkritik: "Posen in Angst" am Berliner Ballhaus Ost
Przemek Zybowski: Posen in Angst, Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Johannes Wenzel)

Wir schreiben das Jahr 2040. Die Welt ist vernetzt. Die Welt? Nein, nur dass, was wir Europa, die westliche Zivilisation, Europa nennen. Jeder EU-Bürger ist ständig online. Im Wortsinn: Über einen eingepflanzten Chip ist man mit dem „Bewusstsein“ verbunden, einer kollektiven Kontroll- und Wissensinstanz, die das private, individuelle Bewusstsein, wie wir es kennen längst abgelöst hat. Dabei ist das Individuum nicht tot, es ist nur eben stets mit allen anderen verbunden, teilt ihre Welterfahrung, formt ein gemeinsames Gedächtnis. Bis eines Tages ein Virus droht, die schöne Online-Welt zu vernichten. Noch ist Osteuropa nicht betroffen, Russland besetzt vorsorglich Polen und das Baltikum, Millionen machen sich auf die Flucht gen Osten. Darunter auch Boris, aus ostdeutschem Adel stammend, und die Jüdin Rebekka, die im Berliner Großlazarett, einer Art Arche der Nichtinfizierten, stranden, wo Leiter Che eine Herrschaft der Eliten anstrebt und Ärztin Katja aus dem immunen Boris und seinen ererbten Germania-Möbeln einen Impfstoff entwickeln will. Hin- und hergerissen zwischen Rettung der technisierten Moderne und der Sehnsucht nach einem Offline-Leben sitzt Boris zwischen den Stühlen.

Dies ist die Kurzbeschreibung von Posen in Angst, der neuen Zusammenarbeit des polnischen Autors Przemek Zybowski und des deutschen Regisseurs Johannes Wenzel. Und doch kann sie nicht ansatzweise einen Eindruck geben von dem Abend, den die beiden am Berliner Ballhaus Ost auf die Bühne gewuchtet haben. Denn es ist ein wahres Wortungetüm, das Zybowski erschaffen hat, ein Monster aus Satire, Kulturkritik, Philosophie, abstrakter Lyrik und Sprachskulptur, das zuweilen nicht nur thematisch (die Jelineks Rechnitz. Der Würgeengel zugrundeliegende Geschichte wird angesprochen) erinnern soll. Nur fehlt Zybowskis Text der Wortwitz, die fleischwolfartige Vermengung und Zerhäckselung von Sprache und Sinn und Bedeutung, die Jelinek auszeichnet. Dieser Text ist vielmehr eine Vermengung europäischer Geschichte und Identitätsfindung, des fragilen Selbstverständnisses einer durchtechnologisierten Gesellschaft und einer dystopischen Vision kollektiver Zukunft.

Da geht es um Authentizität und Effizienz, um Gedächtnis und Erinnerung, ich und Kollektiv, steht (etwa in Katjas furiosem schlussmonolog, nach dem natürlich noch nicht Schluss ist) das Chaos der Natur gegen die Ordnung der kontrollierenden Technik. Online, so heißt es einmal, sei die Befreiung von der Angst, einer Angst, die nicht effektiv scheint, und die man der (menschlichen) Natur zurechnet. Seit der Mensch das Konzept des Fortschritts entdeckt hat, arbeitet er an der Optimierung seiner selbst – mit zuweilen schrecklichen Folgen, wie all die Versuche, einen „neuen Menschen“ zu erschaffen von Hitler bis zu Pol Pot gezeigt haben. Der Glaube an Fortschritt und Technik, der auch heute noch blüht und gedeiht, steht im Mittelpunkt des Stücks. Er wird kritisch hinterfragt, aber nicht gänzlich verworfen. Am Ende erscheint eben auch die bevorstehende große Offlinelücke nicht als das gelobte Land, Technikfreiheit nicht als pure Befreiung. Diese Ambivalenz gehört zu den Stärken von Posen in Angst.

Aber natürlich reicht das nicht: Da werden Fragen kollektiver und individueller Schuld verhandelt, die nie ganz geschlossenen Wunden europäischer Geschichte verhandelt – von Shoah und Vertreibung bis zum EU-Beitritt Polens, die Angst des Westens vor dem Osten thematisiert, die Heuchelei des Konzepts Europas vorgeführt. Wenn die Online-Apokalypse Gedächtnisverlust bedeutet – ein nicht ganz absurdes Szenario – wie kann Erinnerung als Triebfeder menschlicher Existenz erhalten bleiben? Der Abend stellt schon richtige Fragen und er tut gut daran, einfache Antworten zu vermeiden. Das Problem liegt woanders: Schon die Themen- und assoziationsvielfalt überfrachtet den Text, aber das ist erst der Anfang. Zybowski injiziert ihm ein Assoziationsgewitter, dass dem Zuschauer bald der Kopf raucht. Mystizismus, Wissenschaft, Philosophie, sperrige fragmentarisch-elliptische Textflächen – all das verknetet Zybowski zu einem Konvolut, das so hermetisch, so abstrakt wird, dass der Zuschauer bald mit Che sagen muss: „Ich bin völlig überfordert.“ Und da schließt sich eben auch die Tür zu dem, was hier verhandelt werden soll, bleibt der Zugang gesperrt, geht alles in einem Wörtermeer unter, das nicht versiegen will und irgendwann nur noch als nicht mehr zu durchdringendes Rauschen auf das Publikum einprasselt.

Daran ist auch Wenzel nicht unschuldig: Er lässt Zybowskis Texte rezitieren, ohne inszenatorisch viel einzugreifen. Das Ergebnis ist statisches Reklamationstheater, bei dem zumeist ins Publikum gesprochen wird, die Figuren ebenso unvermittelt herumstehen, wie sie die sicher symbolisch gemeinten, aber nie wirklich in die Inszenierung integrierten Kulissenteile, ein perspektivisch verzerrter Einkaufswagen und ein ebensolches Zugabteil sowie Skulpturen erstarrter und verzerrter Natur von Philip Wiegard und Tobias Yves Zintel hin- und herschieben. Im Hintergrund wölbt sich eine Art Eiswüste – die Bühne ist ebenso überfrachtet wie Zybowskis Text und nicht minder gewollt abstrakt und plakativ künstlerisch. Wenzels Regie tut nichts, um die Monotonie der fast zweistündigen Non-Stop-Rezitation zu vermindern, er führt keine Erzählebene jenseits des Textes ein, sondern inszeniert das mehr als szenische Lesung. Irgendwann gegen Ende des Abends ist von der Angst vor der ruhe die Rede, vom Zwang ständiger Veränderung, der Notwendigkeit, dass immer „etwas passiert“. Vielleicht ist Posen in Angst ja in erster Linie eine Verkörperung dieser ach so modernen Ängste. Oder womöglich ist es in seiner Humorfreiheit, Ironieverweigerung und dem kaum erträglichen Sich-Selbst-Ernstnehmen vor allem Symptom, dessen, was beschreiben will. Schade, dass nach diesem Abend vor lauter Wortflut kein Raum bleibt, darüber zu reflektieren.

www.stagescreen.de
Leserkritik "Mongoflipper", Berlin
‚Mongoflipper’, eine Farce von Cornelius Schwalm im Theaterdiscounter, Berlin

Ein großartiges Stück heikles Theater - hervorragend gespielt und inszeniert, poli-tisch anregend aufbereitet, witzig und fesselnd bis zum Schluss!!

Der Schauspieler und Regisseur Cornelius Schwalm, Berlin, hat jetzt sein erstes selbst verfasstes Drama - Sophie Nikolitsch wird als Co-Autorin genannt - auf die Bühne gebracht, das er „seit Jahren“ im Kopf hatte und dessen Spielfassung quasi erst während der Endproben niedergeschrieben wurde. Die Premiere fand am 29. Januar statt, im Berliner Theaterdiscounter – schrecklicher Name, der sofort an Billigware erinnert. Dabei kann die überraschend offene Spielstätte im dritten Stock in der Klosterstrasse mit ihrer Flexibilität punkten, so dass in jeder Inszenierung anders agiert wird und dies allein schon einen Überraschungseffekt mit sich bringt. Und ‚Mongoflipper’ ist erfolgreich. Von 15.-17. Mai läuft bereits die dritte Staffel; der Berichterstatter hatte die Aufführung am 22.03. besucht.

Der Behinderte Pascal/Bernd – sorry: der Mensch mit individuellen Beeinträchtigungen, die umfänglich, vergleichsweise schwer und langfristig sind – diese Rolle also wird gespielt von einer Frau und Verena Unbehaun, von der alles gefordert wird und die alles Geforderte geben kann, lebt diesen Pascal/Bernd so realistisch und glaubwürdig vor, als wäre es das Einfachste auf der Welt.
Auch die anderen 5 SchauspielerInnen (S. Buchbauer, J. Kleemann, M. Metzner, M. Rheinheimer, S. Thiel) leisten überraschend gute Arbeit, denn die Produktionsbedingungen für die unter dem (Schnaps-)Namen MARIACRON auftretende Truppe sind alles andere als rosig – um nicht zu sagen: beschissen! Ein Satz aus der Aufführung ist Beleg genug; als sich die Akteure bei der Probe in diesem ‚Stück im Stück’ in die Haare kommen, rutscht einer heraus: „Und dafür habe ich Zürich sausen lassen!“ – Treffender geht’s wirklich nicht!

'Pascals Reise ins Glück: Operation Germanenkind' - so der Untertitel - erzählt von einem jungen Mann, der auf Suche nach „Heilung“ seiner Behinderung an eine esoterisch-faschistische Organisation gerät; und damit es jede/r versteht, tauchen SS-Uniformen und eine altdeutsche Schrift auf. Als die Heilung, die als medizinischer Durchbruch nobelpreisverdächtig wäre, ausbleibt, eskaliert die Situation. Und erfährt durch die Inszenierung dieses ‚Stücks im Stück’ einen völlig unerwarteten Clou: der Regisseur meldet sich aus dem Off zu Wort und wir sind plötzlich mitten in einer Probe. Und dieser mehrfach wiederholte Kunstgriff trägt die Aufführung locker über die ca. 90-minütige Spieldauer – es wird keine Sekunde langweilig. Und dabei wird das emotionsbeladene Thema Behinderung und Theater, das natürlich die ganze Zeit das Geschehen bestimmt, in vielen seiner Facetten angesprochen, bis hin zur Frage, wie wir, die Zuschauer, reagieren würden, wenn der Behinderte nicht das tut, was wir, möglicherweise auch unbewusst, von ihm verlangen.

Man fragt sich am Ende, welche Vorstellungen man selbst mitgebracht hat, wenn man total überrascht und verblüfft heftig Beifall spendet. Ich kann daher den Besuch dieser packenden Aufführung nur wärmstens empfehlen. Wie gesagt: Ein großartiges Stück heikles Theater - hervorragend gespielt und inszeniert, politisch anregend aufbereitet, witzig und fesselnd bis zum Schluss!! (15.-17.Mai, Theaterdiscounter)
Leserkritik: Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama, Dresden
'Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama' von Christian Lollike in der Regie von Malte C. Lachmann. Vergangenen Samstag in Dresden auf der Studiobühne gesehen und bestaunt. Folgende Kritik von Tobias Prüwer aus dem Magazin 'Deutsche Bühne' finde ich sehr treffend: 'Disney hat den Märchen die Eier abgerissen, hat sie kastriert“: Über die Disneyfizierung der Welt sind schon Konferenzen abgehalten worden. Und nachdem Kampagnen wie „Pink stinks“ die Zementierung der Geschlechterbilder in Frage stellen, kommt mit „Träume werden Wirklichkeit!“ die ultimative Theaterantwort aus dem Dresdner Staatsschauspiel. Ultimativ, weil in der deutschen Erstaufführung ein scharfzüngig-pointierter Text auf kluge wie unprätentiöse Regie und ein famos ausgelassenes Schauspielerduo trifft. Dicht dran, manchmal sogar mittendrin erlebt das Publikum auf der Studiobühne eine Achterbahn der Gefühle im Leben einer Generation, deren utopisches Potenzial sich darin erschöpft, Prinz und Prinzessin sein zu wollen.Die Betonung klassischer Geschlechterrollen, die Wiederbelebung konservativer Werte und der Traum vom eigenen Schloss als mentale Durchhalteparole für den Arbeitskraftspender stehen lange schon in der Kritik. Dem dänischen Autor Christian Lollike ist es gelungen, eine solche gänzlich ohne pädagogischen Fingerzeig in Worte zu gießen. Das dialogische Stück besteht aus der Präsentation zweier fragmentierter Lebensläufe und mosaikartig eingefügten, fantastischen Spielszenen. Auf schnellen Spontansex – er markiert den Beginn des Stücks, als Frau A und Herr B auf die pinke und babyblaue Bühne stürmen und als Schattenrisse kopulieren – folgt das Gespräch danach. A lebt desillusioniert in einer Ehe und wünscht sich ein Abenteuer samt Prinz. B hätte gern wieder einen Job, würde aber viel lieber die Welt aus den Angel heben – weiß nur nicht wie und wohin die Reise dann gehen soll. „Stell dir vor, wenn wir die sind, die die Fähigkeit verloren haben, sich die Welt anders vorzustellen.“Statt Wunschproduktion durch die Unterhaltungsindustrie, wollen A und B einen „Möglichkeitssinn“ reaktivieren, von dem Robert Musil einmal schrieb: „Wer ihn besitzt, sagt … nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Also versuchen beide, sich eine andere Welt auszumalen und landen jedes Mal im Bild- und Denkuniversum von Walt Disney. Wenn sie Schneewittchen, Aladin und Dornröschen anspielen, gehen sie nicht in Oppulenz verloren.Die Regie setzt auf reduziertes Material: Die Kulisse als rosa beblümte Spielwiese besteht aus einem Rundkissen und einer Kiste sowie einem silbernen Vorhang im Hintergrund. Ein paar einfache Requisiten müssen reichen, um mit einem Palästinensertuch aus B einen Aladin zu machen, ein gelber Rüschenrock markiert die Zwergengefährtin; Figuren- und Objektheaterelemente kommen hinzu. Auf diese Weise sind Ines Marie Westernströer und Thomas Schumacher ganz auf ihr mimetisches Können angewiesen – und sie begeistern durch Vielseitigkeit. Zwischen komischer Grimasse und suizidaler Selbstzerstörungswut, kesser Lippe, romantisch-erotischen Anflügen sowie realistisch gespielter Tristesse beherrschen sie die Klaviatur großer und kleiner Gefühle und Gesten. Sie umschiffen mit Leichtigkeit die Gefahr, sich selbst in eine disneyesken Theatralität der Affektiertheit – „Drama, Baby!“ – zu begeben. Mal leise, mal laut verlassen sie sich auf die Unmittelbarkeit der Theatersituation und das geht wunderbar auf. Und wenn die beiden immer wieder aus der Rolle fallen, das Theater selbst thematisieren und das Publikum ansprechen, bekommt der Zuschauer eine Ahnung, warum Dagobert Duck vehement einen ganz neuen Handlungsrahmen einfordert. Er will ein neues Märchen leben, eins mit Eiern. Bevor sich aber sein Wunsch erfüllt, dräut das Happy End.'
Leserkritik: Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama, Dresden
Wie kann jemand ein so extrem schwer in unseren Theater-Zeiten durchsetzbares Märchen nur mit einem GELBEN Rüschenrock ausstatten! So dicht liegen im Theater eben Geschmacksverirrung und die harten Realitäten beieinander! - Trotzdem für den zeitgenössisch politisch relevanten Durchblick: Lollike for Büchner price wie einst Zappa for president! Und natürlich Dank an die mutige und überaus witzbegabte Regie!
Leserkritik: Träume werden Wirklichkeit! Ein Disneydrama, Dresden
Ein großartiger, berührender, komischer Theaterabend! Tolle Schauspieler!!!
Leserkritik Tod. Sünde. 7 am DT Berlin
Tod. Sünde. 7, Eine Stückentwicklung des Jungen DT, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Wojtek Klemm)

Professionell wirft sich der Junge im enganliegenden blauen Pulli und den knöchelfreien Hosen in Pose und wirft selbstbewusste Blicke in den Zuschauerraum. "Vergib mir meine Perfektion!", sagt er und dreht seinen Körper in Position, als wäre er hier bei einem Cover-Shooting. Ohne Zweifel: Hier ist einer, der im täglichen Ringen um die Selbstoptimierung zu den Gewinnern zählt. Das Ich als attraktiv verpacktes Produkt, der Körper als frei formbares Baumaterial, das Leben als Wettstreit der bunten Hüllen im Supermarktregal der Schönen und Attraktiven: Das ist das Thema der 15 Jugendlichen, die sich hier auf den Trümmern dessen, was von den sieben Todsünden übrig blieb, rekeln und in Positur werfen. Auf der zweistöckigen Holzkonstruktion der Bühne prangt ganz oben ein Jesus-Graffiti, mehr als Dekoration ist es nicht. Wenn gleich zu Beginn ein Mädchen beichten will wird es an die Seite gedrängt: In Zeiten, in denen die schöne Hülle, das positive Image, das Ich als Marke zählen, ist für moralischen Humbug keinen Platz. Und so sind Neid und Zorn und Völlerei (oder besser ihr rauschhaftes Gegenteil) und Hochmut zentrale Markenbestandteile, USPs, mit denen sich das eigene Produkt von Wettbewerb abheben kann. Wer nicht mithält, ist raus und kann nur noch mit aufgesetzt schmerzhaftem Lächeln innere Werte proklamieren. Gehört wird das nicht.

Regisseur Wojtek Klemm und sein jugendliches Ensemble sezieren die Selbstoptimierungswut unserer Gesellschaft mit vollstem Körpereinsatz: Der Körper ist Projektionsfläche und Akteur, Ausdrucksmittel und Sprachapparat, Verpackung und Material. Um seine Beherrschung geht es – und um seine Nicht-Beherrschbarkeit. Ganz wunderbar die Szenen, in der der männliche Teil des Ensemble die coolen Tanzbewegungen im Club in ihre Bestandteile zerlegen und zu einer uniformen Individualismusbehauptung zusammensetzen, in der sich die Mädchen im Kaufrausch wie eine moderne Laokoongruppe an die Wäsche gehen, in der die erschlafften Körper auf Stufen und Geländern abgeworfen sind und einer nach dem anderen in sich zusammensacken. Immer wieder stampft der Rhythmus, zuckt der Körper im Takt oder versucht, zu Boden geworfen, das ihn beherrschen wollende Ich abzuschütteln. Und dann ist da dieses Zittern: die letzte Waffe des domestizierten, objektifizierten Körpers, der nicht hinnehmen will, das er nichts sein soll als Präsentationsmittel und Selfie-Motiv. Der Abend hat seine stärksten Momente, wenn Klemm und sein im aller besten Sinne kompromisslos spielwütiges Ensemble die Körper sprechen lassen.

Treten Worte in den Vordergrund, wir der Eindruck zwiespältiger: Das sind die nahe gehenden, zuweilen verstörenden, sachlich und ohne großen choreografischen Schnickschnack vorgetragenen Geschichten: von der Anmache eines Besoffenen in der S-Bahn, vom Gefühl des Ausgestoßenseins einer, die sich nicht für optimierbar hält, da ist das Stakkato der zwanghaft gegen die Stille anrennenden Kurznachrichten, die sagen: Du bist relevant, du spielst mit. Da sind die Momente, in denen Worte und Körpersprache zusammenfinden, wenn Liebe in Gewalt umschlägt, Nahe mit Aggression beantwortet wird, wenn der Wunsch, im großen Konsumroulette mitzuspielen zum rituellen Tanz wird. Da sind aber auch die aufgesetzten Einschübe: die Geschichte von Kain und Abel oder Westernhagens rezitiertes Lied “Dicke”, die Banalität der gesellschaftlichen Aufforderungen an das Individuum (“Sei schön! Sei wirtschaftlich!”). Der Fokus auf das rein Äußerliche, auf Image und Selbstpräsentation: Ganz frei ist der Abend nicht von dem, was er kritisiert.

Je länger er dauert, desto mehr scheinen die präzise durchchoreografierten Passagen zum Selbstzweck zu werden, beginnt die Phrasenhaftigkeit des gesagten zu stören, drängt sich der Eindruck auf, dass die Analyse einer Welt, welche die einstigen Todsünden zu Werten umgewidmet hat, nicht mehr an der Oberfläche kratzt, als diese Welt es zuließe. Dem Zwang des Spektakulären unterwerfen sich auch die vielen schönen Bilder dieses Abends, das Gesagte bleibt leicht verdaulich, oft Gehörtes hübsch wieder aufbereitet. Da droht der Schrei der Körper im Trubel unterzugehen und doch sind sie es, die sich windenden und sträubenden und mühsam in Form gepressten, die bleiben von einem Abend, der ein wenig zu ängstlich ist, dorthin zu gehen, wo es wirklich weh tut, der sich vom Glanz der Oberfläche zuweilen einfangen lässt und auf halber Strecke stehen bleibt, dem es an Konsequenz fehlt. Und doch ist der halbe Weg, den der Zuschauer mitgehen darf, einer, der fesselt und packt. Vergeben wir ihm also seine Perfektion – und alles was dem Abend fehlt. Denn was drin ist in diesem glitzernden Paket, ist so wenig auch nicht.

www.stagescreen.de
Leserkritik: Empört Euch!, Landesbühnen Sachsen
Empört Euch! –
Ein Generationenprojekt mit Laien und Schauspielern von Judith Kriebel
Premiere an den Landesbühnen Sachsen am 29.6.2014

I
Acht Spieler und der Regisseur finden sich auf der Probebühne zusammen. Sie wollen weiterarbeiten an der Einstudierung eines Stückes mit dem Titel „Empört Euch!“. Die Spieler blättern etwas unschlüssig in ihren Rollenheften, der Regisseur gibt Erläuterungen zum Stück, indem er aus Stéphane Hessels gleichbenanntem Text zitiert. Erste zu probende Szene jene, in der eine Akteurin Angela Merkel beim Vorsitz einer Kabinettsberatung mimen soll. Gegenstand der Besprechung ist der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der in der von den Sachverständigen vorgelegten Fassung nicht veröffentlicht werden darf, nun geht es um die Frage „Wie sage ich's meinem Volke“. Mit den Verdrehungs- und Weglassvorschlägen der „Kabinettsmitglieder“ wird schließlich die Lüge zusammengezimmert, die dem Volk verkauft werden soll. Dass der Wille zur Macht etwas der Dummheit verwandtes hat (Shaw), wird hier sehr schön herausgearbeitet, die überhöhte Dummdreistigkeit im Stück, mit der „das Volk“ belogen wird, ist soweit von der Wirklichkeit wohl nicht entfernt. Leider aber lässt die Szene das eigentliche Problem beiseite: Wie kommt es zur wachsenden Differenz zwischen arm und reich und wie können wir der Entwicklung begegnen? Alles fruchtlose ohnmächtige Empörung, warten bis das System sich selbst totläuft und vielleicht alles mit sich reißt? Die Frage bleibt – nicht nur an dieser Stelle – unbeantwortet.

II
Ohne Einschränkung muss gesagt werden, dass es ein verdienstvolles Projekt ist, eine Interpretation des Textes „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel auf die Bühne zu bringen. Das umso mehr, als bisher nur wenige Theater sich an diesen Stoff gewagt haben, keines aber mit einer derartig lebensnahen Brisanz und konsequenten Herausarbeitung des in diesem Kontext zugleich bedeutsamen Generationenkonflikts. Wir haben es mit einem für die Bühne recht sperrigen Stoff zu tun, der sich der darstellenden Kunst eher entzieht als sich anbietet. Andererseits sind die von Hessel in seinem Essay aufgeworfenen Fragen von derartiger Explosivität und Aktualität, dass sie nach Öffentlichkeit geradezu schreien. Und welches Medium eignet sich besser als die Bühne, Menschen emotional anzusprechen und aufzurütteln? Es sei hier festgestellt: Emotional anzusprechen gelingt. Aufzurütteln im Sinne von „zum Handeln anregen“ ist schon schwieriger, gelingt nur teilweise, kann wohl auch (noch) nicht gelingen, zumal Hessel selbst hinsichtlich der Handlungsvorschläge vage und im ungefähren bleibt. Denn was Hessel verlangt, beispielsweise die „Errichtung einer echten wirtschaftlichen und sozialen Demokratie unter Ausschaltung des Einflusses der großen im Wirtschafts- und Finanzbereich bestehenden privaten Herrschaftsdomänen auf die Gestaltung der Wirtschaft“ ist nichts weniger, als die bestehende Gesellschaft umzukrempeln. Dabei schwebt Hessel offenbar keine Revolution, gar mit Barrikaden vor, sondern ein friedliches Hinüberwachsen in eine gerechte Gesellschaft. Das „Wie“ ist noch zu erfinden. Es konnte von dieser Inszenierung nicht erwartet werden.

III
Damit sind wir bei einer Schwierigkeit, die diese Aufführung hat: Das ist die Frage, was kann man tun, um die Verhältnisse zu ändern. Die Antwort wird interessanterweise reduziert auf eine einzige, die lautet: IHR (die Generation der Älteren im Osten Deutschlands) habt es ja schon mal geschafft! Klartext: Der Osten kennt erstens zumindest die Ansätze einer besseren, gerechteren Gesellschaft und im Osten hat man zweitens die Erfahrung, wie auf friedliche Weise ein missliebiges Regime überwunden werden kann. Dass die am Schluss dieser Inszenierung verlesene Resolution der Ensemblemitglieder des Staatsschauspiels Dresden vom 6. Oktober 1989 weniger Geschichte ist als immer gültiger Forderungskatalog an die Politik, ist im Kontext dieser Inszenierung scharfsichtig herausgearbeitet.

IV
Es ist an vielen Stellen gelungen, das Nichtspannende des Alltags, des fließenden Lebens und Erlebens einzufangen und spannend zu machen. Viel eigenes Erleben der Akteure ist eingeflossen, seitens der älteren Spieler klar zutage tretend, bei den Jüngeren wird nicht ganz so sichtbar, wieviel eigenes Erleben dahinter steht. Andererseits stand den Jungen in vielen Szenen die Empörung buchstäblich in den Gesichtern, die älteren Akteure waren eher leidend, mitunter bis zu einer ergeben-dulderischen Haltung. Man verstand, dass das Erlebte ihnen naheging und sie noch immer beschäftigte – aber man sah es oft zu wenig. Einige Szenen kamen mit viel lautstarker Dynamik daher, die Empörung unterstreichend, was auch durchaus adäquate Emotionen im Publikum auslöste. An einigen wenigen Stellen gab es auch sprach- und bewegungslose Längen, bei denen sich der Eindruck breit machte, die Spieler müssen überlegen, wie das Stück weiterging oder „wer jetzt dran ist“.

V
Beeindruckend die Erzählung von Roswitha Bach vom Seniorenclub Q10 der Landesbühnen Sachsen über ihre Gründe, mit Anderen gegen die Kulturkürzungspläne der Staatsregierung in Dresden auf die Straße zu gehen. Die tief im Persönlichen liegenden Hintergründe, waren sehr bewegend vorgetragen, wenn man sich auch etwas mehr sichtliche Empörung gewünscht hätte. Vielleicht steht auch ganz unten in ihrer Seele das Ohnmachtsgefühl – dem sie auch Worte gibt –, denn die Kürzungspläne konnten nur teilweise verhindert werden.
Von ganz anderem Kaliber die von Jennifer Demmel, Studentin der Theaterakademie Sachsen, maßgeblich bestimmte und emotional wohl überzeugendste Szene, in der sie CO2-Ausstoß und vegane Lebensweise thematisiert, dem Publikum den Vorwurf macht, zu faul zu sein, seine Lebensweise zu ändern und schließlich mit der Erkenntnis zusammenbricht, dass der Kapitalismus sich längst der alternativen Lebensentwürfe bemächtigt und daraus eine willkommene Profitquelle gemacht hat, die das ursprüngliche Anliegen konterkariert.

VI
Sehr viel verdienter Beifall für die Akteure und die Regisseurin. Stellt man die Heterogenität in Rechnung – drei Studentinnen und Studenten der Theaterakademie Sachsen, drei weibliche Mitglieder des Seniorenclubs Q10 der Landesbühnen Sachsen, ein Laienspieler, drei professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler – eine bemerkenswerte Ensembleleistung. Mehr Breitenwirkung und Aufmerksamkeit möchte man dieser Inszenierung wünschen.

http://www.landesbuehnen-sachsen.de/stuecke/schauspiel/item/579-empoert-euch-armuts-zeugnisse-urauffuehrung

Dr. Robert S. Bruse (30.06.2014)
http://empörteuch.de
Leserkritiken: Tell Me Love Is Real, Foreign Affairs Berlin
Foreign Affairs 2014 – Zachary Oberzan: Tell Me Love Is Real

Zufälle, so sagt man, bestimmen unser Leben und manchmal helfen sie auch, Kunst zu schaffen. Zachary Oberzans neuer Abend fußt auf so einem Zufall: Vor einigen Jahren befanden sich Oberzan und Pop-Diva Whitney Houston etwa um die gleiche Zeit in Hotelzimmern an der nordamerikanischen Westküste. Ihr Begleiter: das Antidepressivum Xanax. Houston starb, wahrscheinlich ungewollt, an einer Überdosis, Oberzan überlebte einen Selbstmordversuch. Für den Alumnus des letztjährigen Festivalschwerpunktes Nature Theater of Oklahoma ist das Anlass, die beiden Geschichten zu verschränken: Tell Me Love Is Real beginnt mit einer filmischen Nacherzählung der letzten Stunden Houstons, so wie er sie sich vorstellt. Wir sehen ihn in einem gesichtslosen Hotelzimmer, in Houston-Kostüm- und Makeup, und hören ihn in stiller, resignativer Verzweiflung von der Leere erzählen, die auch der beste Tabletten-Alkohol-Drogen-Cocktail nicht füllen kann.

Depression, Liebessehnsucht und die nicht enden wollende Unsicherheit eines von Selbstzweifeln gequälten freischaffenden Künstlers durchziehen den Abend, der so stark beginnt. Und der sich in der Folge zu einer rasanten Collage aus Film, Konzert und Performance, Selbstbespiegelung und Persiflage, Seelen-Striptease und doppelbödigem Geschichtenerzählen wird. Und zu einer Reise durch die Pop-Kultur: von Paul Simon zu Serge Gainsbourg, von Bruce Lee zu Jean-Claude Van Damme, von Buddy Holly zu Al Pacino, von Leonard Cohen bis zu Elvis Presley spannen sich die Bögen von Oberzans aberwitzigen Ritt auf der stetigen Suche nach Liebe. Denn der Titel, einem Lied Buddy Hollys entnommen, ist programmatisch. Oberzans Abend ist autobiografisch und doch ist nie so ganz klar, wie nahe er sein Publikum an sich herankommen lässt. Leitmotive sind der Tod – vom sich nicht anschnallen wollenden Vater bis zum Selbstmordversuch – Selbstliebe und –hass sowie Mutterliebe. Fiktion und Realität verschränken sich, die schwierige Beziehung zur Mutter läuft parallel zum Interview mit einer jungen Mutter und zu einer Schlüsselszene aus dem zweiten Teil von The Godfather.

Überhaupt sind Inszenierung und Wirklichkeit kaum zu trennen, immer wieder doppelt sich Oberzan, zuweilen spricht er Text, den die Lippen seines Video-Alter-Egos formen, spiegelt die Bühne das gefilmte und wird das Dickicht von Original und Kopie im anschwellenden Strom popkultureller Assoziationen immer undurchschaubarer. Oberzan spielt mit ebenen, setzt Fährten, die nicht immer zum Ziel führen, inszeniert die eigene Depressionsgeschichte als Unterhaltungsrevue, die mitunter hochkomisch und dann wieder tieftraurig ist. Das ist streckenweise so hektisch und überfordernd wie die Welt, in der sich das Individuum wiederfindet. Die Warnfarbe Gelb wird zum leitmotivischen Signal – ein Leben stets kurz vor dem Ausnahmezustand. Doch Oberzan jammert nicht: Er hinterfragt und erfindet, er spielt und singt und beschwört und sucht das wahre Leben in all den behaupteten. Dabei ist es irgendwann nicht mehr wichtig, ob die Liebe, von der Holly singt, existiert – Hauptsache, man kann an sie glauben.

Tell Me Love Is Real ist eine eklektische Tour de Force, die Klischees nie umschifft, sondern stets geradewegs auf sie zusteuert, die Banalitäten genussvoll umarmt, die Fiktion an Fiktion reiht, den Leerlauf als Freund begrüßt und lose Enden als Lebenselixier feiert. Dabei ist Zachary Oberzan ein Künstler, der sein Handwerk versteht, sowohl das filmische wie das theatrale. Einer der Abgründe dort findet, wo wir sie nicht suchen und Nähe, wo sie unmöglich scheint. Vielleicht ist der Schlüsselmoment jene Szene aus einer französischen Fernsehsendung, in der ein betrunkener Serge Gainsbourg eine vollkommen überraschte Whitney Houston schamlos angräbt und jegliche professionelle Fassade fallen lässt. Ein solcher Moment gelingt Oberzan selbst nicht, kann er wohl auch nicht, doch womöglich liegt hier das Geheimnis, nach dem er sucht. Und vielleicht gibt es das gar nicht. Für uns Zuschauer wäre das so schlecht nicht, zwänge es Oberzan doch, ewig weiterzusuchen. Und wie auf- und anregend das sein kann, zeigt Tell Me Love Is Real eindrucksvoll.

www.stagescreen.de
Leserkritiken: "Mephisto" in Weimar
Mephisto - Deutsches Nationaltheater Weimar (Bühnenfassung: Robert Schuster und Nora Khuon, nach dem Roman von Klaus Mann), Premiere: 13. September 2014

Wie schafft man es, frei von Erwartungen ein Stück zu sehen, dessen Vorlage man gelesen oder zumindest verfilmt gesehen hat? Die Besucher ließen sich darauf ein und belohnten die erste Schauspielpremiere der neuen Spielzeit mit 17-minütigem Applaus (dies für die Statistik) und leuchtenden Augen beim Gehen, während die "amtlichen Kritiker" verwirrte Desillusionierung formulierten. Selten waren Meinungen derart gespalten.

Nicht zuletzt und vielleicht sogar zuerst liegt das an der großartigen Dramaturgie. Nora Khuon schafft es, die Geschichte des Schauspielers Hendrik Höfgen, der seine einst so (scheinbar) linksrevolutionären Ideale aufgibt, um unter dem Regime des aufkommenen Nationalsozialismus Karriere zu machen, über das Ende des Romans hinaus in die Nachkriegs-DDR zu erweitern, und verwirklicht damit, was Klaus Mann immer behauptet hat: Der Roman ist nicht die Biographie von Gustav Gründgens - trotz seines Verbots durch dessen Familie -, sondern steht archetypisch für Karrieristen, Empörkömmlinge und Fähnlein-Nach-Dem-Wind-Dreher.
Ein großer Teil Fremdtexte reichern die Handlung des Romanes an, "Faust-Zitate", natürlich, und unter anderem ein Abriss der Geschichte des "wichtigsten deutschen Theaters", des Deutschen Nationaltheaters Weimar nämlich, in den Zeiten des Dritten Reiches, die erstaunlicherweise kaum dokumentiert ist und die genau jene hervorbrachte: die Seiten je nach politischer Lage wechselnden Funktionäre hervorbrachte.
Dieser mitreißende, fast improvisiert klingende Monolog von Jonas Schlagowsky ("Entschuldigen Sie, wenn ich störe, ich hab da mal eine Frage...") ist einer der Höhepunkte der über 3 Stunden Theater, das vor allem mit einer wunderbar geschlossenen Leistung des 7-köpfigen Ensembles begeistert. Unter der Leitung von Robert Schuster wird die Rolle des Hendrik Höfgen unter 4 Spielern aufgeteilt, was nicht nur auf der Bühne virtuos funktioniert, sondern das Nicht-Fassbare der Figur, den Facettenreichtum bis zur Selbstverleugnung und das Sich-durch-die-Zeiten-Wandeln grandios umsetzt.

Man weiß gar nicht, wen man herausheben soll: Michael Wächter, eine der schillerndste Bühnenfiguren, gibt den revolutionären Jungschauspieler voller Elan und Kraft, Lutz Salzmann trotzt und ringt auf dem Weg zum Ruhm, legt sich dabei sogar mit seinem Schöpfer Klaus Mann an, Sebastian Nakajew schreitet arrogant und herrisch auf dem Höhepunkt der Karriere einher, und DNT-Urgestein Bernd Lange spielt den alten Höfgen souverän, ein bisschen blasiert, fast resigniert.
Auch die übrigen Rollen sind mehrfach besetzt, bis auf den Ministerpräsidenten, den die körperlich eher zarte Elke Wieditz mit einer fast beängstigend latenten Brutalität gibt.

Man griff hinein ins volle Menschenleben, zumindest in das der Protagonisten, und spielte voller Freude deren Hoffnungen und Versagen, Abgründe und Ängste und Leidenschaften. Was soll man sagen: Es war Theater! Endlich, am sonst eher kühlen DNT, großes Theater, theater, das sowohl unterhielt als auch informierte, das inspirierte und zum Nach- und Mitdenken aufforderte, ja, fast zwang. Großes, gutes und wichtiges Theater also. Es bleibt zu hoffen, dass sich viele Menschen darauf einlassen, genießen und mitdenken, betroffen sind und die Parallelen sehen - nicht nur zwischen einem Höfgen in Berlin und vielen anderen Intendanten der Nazizeit, sondern zwischen karriereorientierten Opportunisten damals wie heute...

Die letzte Szene des Abends zeigt Höfgen Faust rezitierend, das Erwachen nach dem Heilschlaf des Vergessens.
Es ist eine Inszenierung WIDER das Vergessen.
Leserkritik Société des Amis, Berlin
Jan Koslowski: Société des Amis. Tindermatch im Oderbruch, Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Jan Koslowski)

Dass in diesem Freundeskreis so manches nicht stimmt, zeigt schon ein Blick auf die Bühne. Ja, da sind ein paar spiegelnde Kreise verteilt, die Mehrzahl der Bühnenelement ist jedoch in Dreiecksform gehalten. Nein, hier gibt es Ecken und Kanten, hier wird es auch einmal wehtun. Fünf junge Leute haben sich auf der Bühne versammelt und schwadronieren erst einmal chorisch vom letzten Sommer. In zum Teil gewagten logischen Volten, mäandernden und kreisenden Bewegungen, gespickt mit zahlreichen Wiederholungen, tritt der Text, indem es um das Festhalten von etwas geht, das sich nicht festhalten lässt, um den sich seiner Vergeblichkeit bewussten Versuch, das Auseinanderstreben des einst fest Zusammengefügten, das man gemeinhin Erwachsenwerden nennt, aufzuhalten. Jan Koslowski verweigert sich jedem Realismusverdacht. Er lässt chorisch sprechen, Gesten symbolisch aufladen und mechanisch verfremden, gestelzt deklamieren, immer wieder durch die Sprachgeschichte springen. Es wird gesungen, getanzt, Reden geschwungen, Therapierunden abgehalten, gruppengekuschelt, geküsst, übereinander hergefallen, getuschelt, gestritten, gelangweilt. Was man so halt macht als Freunde.

Vor allem aber wird sich aneinander abgearbeitet: Erwartungen werden enttäuscht, Freundschaftskonzepte gegeneinander geschleudert und entsorgt, Illusionen wird nachgerannt, bevor sie doch zertrümmert werden müssen. Es geht um falsch verstandene Rücksichtnahme, das Idealbild einer Freundschaft, die keine Geheimnisse kennt, um die Rolle von Liebe und Sex und ob sie aus der Freundschaftsdefinition auszuschließen seien, um Nichtgesagtes und um die Frage, ob Freundschaft nicht auch ein Mittel zum Zweck sein könne. Da zerplatzt so manche Gewissheit, entsteht Fremdheit, wo Intimität vermutet wurde und man einfach nie die richtigen Fragen gestellt hat. Die, die schmerzen können wie ein Stich mit einem der Dreiecke. Exemplarisch jagt man durch alle denkbaren Aspekte des Freundschaftsdiskurses, stilisiert die eigene Fünferbeziehung zu gesellschaftlichen Keimzelle hoch und ahnt doch, dass die „utopische Torte der Freundschaft“, die man gemeinsam backen will, bestenfalls zum Windbeutel taugt.

Schnell breiten sich Egoismen aus, wird schmutzige Wäsche gewaschen (allein ein Satz wie: „Mit dir bin ich doch nur noch aus Denkmalschutzgründen befreundet“ lohnt schon den Eintritt), Unerwähntes ausgesprochen und doch immer wieder versucht, sich einzureden, alles sei „Spitze“. So oft hier der Daumen hochgereckt wird, sind anschließende Krämpfe nicht ausgeschlossen. Alles muss immer toll sein, ein einziges Abenteuer, bei dem schlafen, Innehalten nicht erlaubt ist. Freiraum ohnehin nicht. Und so erscheint die Nähe als erzwungen, als einengend, als erdrückend, als künstlich – wie der herausgepresste Chor zu Beginn oder der spontaner Ausdruck der Freude sein sollende Gruppentanz, bei dem jeder Schritt gezählt werde muss, damit nicht alles auseinander fällt. Immer undurchdringlicher auch das Spiel mit den Identitäten, die sich verstärkt hinterfragen, Alternativen ausprobieren, je mehr die kollektive Identität bröckelt.

Koslowski sucht in seiner Inszenierung das Künstliche, das Überhöhte, das Mechanische und Ritualhafte an gesellschaftlich vorgegebenen Modellen und Definitionen, wie jener, was denn eine echte Freundschaft auszumachen habe. Er verwischt Grenzen, spielt genüsslich mit dem Absurden und befreit damit sein Thema von jeder Form diskursivem Ernstes, holt es vom Berggipfel – die fünf Freunde gründen ein Camp namens „Monte Amici“ – zurück auf den Boden wenn nicht der Tatsachen, dann zumindest der Lächerlichkeit. Er erlaubt dem Abend die eine oder andere Albernheit und so manche Länge, verbleibt gern im Plakativen und begnügt sich zuweilen zu sehr mit dem Kratzen an der Fassade. Und doch produziert der Abend vor allem eines: ein Lachen, das sich voll und ganz als befreiend bezeichnet lässt, wirft es doch den ganzen Erwartungs- und Definitionsballast und räumt es das Feld frei. Société des Amis ist keineswegs ein Abgesang auf die Freundschaft – sondern ein Appell, sie sich entwickeln zu lassen, ihr Raum zu geben, indem man sie mit dem einzigen füllt, das sie aufrecht erhalten kann: der eigenen Individualität. Ein bisschen utopisch auch das. Auch nicht schlimm. Man muss ja nicht gleich wieder eine Torte backen.“

http://www.stagescreen.de
Leserkritik: Orpheus in der Oberwelt, Berlin
andcompany&Co.: Orpheus in der Oberwelt. Eine Schlepperoper, Hebbel am Ufer/HAU2, Berlin

Lampedusa ist schon längst nicht mehr weit weg: Seit der so genannten Flüchtlingskatastrophe vor zwei Jahren, die doch nur eine – wenngleich schreckliche – Episode in einer lang anhaltenden, nicht enden wollenden Tragödie war, ist der Name und das Schicksal der Flüchtlinge, die in immer größeren Zahlen versuchen, das vermeintlich rettende Ufer Europas zu erreichen, eingebrannt in unser kollektives Bewusstsein. Und auch physisch präsent: Es ist noch nicht lange her, da harrten Flüchtlinge mitten im Herzen der deutschen Hauptstadt viele Monate in einem improvisierten Camp aus, um zu sagen: Wir sind keine Nachrichtenmeldung, wir sind hier und wir zwingen euch, sich mit uns auseinanderzusetzen. Also machen wir das, scheinen sich die Mitglieder von andcompany&Co. Gesagt zu haben und befassen sich jetzt am HAU2 mit der so genannten „Flüchtlingsproblematik“.

Aber natürlich nicht einfach so, ein bisschen intellektueller Unterbau muss schon sein. Da ist die Assoziationskette schnell gebaut: vom Evros, der nicht nur etymologisch mit Europa verwandt ist, sondern heute eine scharf bewachte außengrenze des Kontinent und zugleich ein tausendfaches Flüchtlingsgrab bildet, zum antiken Mythos von Orpheus, dem Sänger, der seine Geliebte aus der Unterwelt befreite, was bekanntlich nicht gut ausging, und dessen Kopf später im Evros schwamm. Ein Migrant auch er (Orpheus stammte aus Ägypten) – und ein Schlepper. Bei Orpheus ist der Schritt zur Musik nicht weit, also bedient man sich reichlich bei Monteverdi, unterlegt dessen Musik zum Teil mit neuen Texten – eigenen, aber auch Elie Wiesels berühmtem Satz, kein Mensch sei illegal – und nennt das Ganze „Schlepperoper“.

Jene, die Schlepper, die sich lieber „Facilitator“ nennen wollen, führen denn auch durch den Abend, stellen ihr Handwerk dar und nennen sich „Boten der Liebe“. Kalkulierende Kapitalisten, klar, aber eben ein notwendiges Übel angesichts der monströsen Ausgrenzungsmaschinerie, zu der Europa geworden ist. In der Mitte, der mit allerlei Requisiten zugemüllten Bühne, befindet sich eine Art Felslandschaft, die – Achtung: Metapher! – sich bald als beweglich erweist und irgendwann zum Flüchtlingsboot wird. Balanciert der Abend zunächst noch leichtfüßig zwischen Musik und Thesentheater, eine Gegenüberstellung, die streckenweise durchaus ihren Reiz hat, auch weil der Zusammenprall beider wiederholt ironisch gebrochen wird, gewinnt das Schulmeistern bald die Oberhand. Sollte man gemeint haben, dies durch immer wildere Assoziationsstürme auffangen zu können, erweist sich das schnell als Trugschluss.

Im Gegenteil: Das Assoziationsgewitter verstärkt die betont originell sein wollende Kopflastigkeit des Abends noch. Zumal die Bilder eher plakativer Natur sind und das Kollektiv dazu neigt, jede Metapher auszubuchstabieren, damit sie auch ja jeder begreift. Da wird anhand des Alphabets die migrantische Vergangenheit Europas thematisiert, bekommen die auf einer Steckwand angebrachten Buchstaben eine Bewaffnung – wie das diesen fremden Kulturschatz selbstverständlich sich einverleibende Europa –wird die Ausgrenzung der Menschen kontrastiert mit der Freiheit der Zugvögel, die im Sperrgebiet am Evros ein wahres Paradies gefunden haben, führt der Weg von der Frau Europa hin zu einer „Eurovision“ eines anderen Kontinent, symbolisiert, wie könnte es anders sein, durch ein „Mädchen mit Bart“, eine personifizierte Grenzüberschreitung.

Die Botschaft ist klar: Europa ist schuld – schuld an den Flüchtlingen, schuld an ihrem Leid, schuld an ihrem Tod. Und Europa, aus dem vor einigen Jahrzehnten noch Unzählige wegwollten, hat eine Verantwortung sich nicht abzuschotten und sich eben nicht abzuwenden. Doch war es nicht Orpheus‘ Untergang, sich umzuwenden, hat er durch diesen Liebesbeweis nicht Eurydike – und sich selbst – ins Unglück gestürzt, wäre es nicht besser gewesen, alles um sich herum ignorierend weiterzugehen und sich nicht um das zu scheren, was in seinem Rücken passiert? In den Augen von andcompany&Co. Ist gerade die Sicherung der Außengrenzen dieser Blick zurück, der all die Eurydikes in den Tod schickt.

Zweifellos ein eher konstruierter Vergleich, der den Abend jedoch recht treffend charakterisiert. Er macht viel zu wenig aus der Gegenüberstellung von Mythos und Gegenwart, von barocker Musik und gegenwärtigem Diskurs. Schnell findet sich Orpheus reduziert zu bloßem Assoziationsfutter, die Musik – die den Abend mit einem atemberaubenden, zwischen Barock, orientalischen Klängen und Elektronisch schwebenden Remix, einer musikalischen Vision eines entgrenzten Kontinents, eröffnet hatte – zurückgeworfen auf die Rolle als auflockernder Soundtrack. Zu schwarz und weiß auch die Weltsicht der Macher, die den Fluchthelfer glorifiziert und Europa verteufelt. Und schließlich krankt der Abend daran, dass er sich zu sehr an seiner eigenen Cleverness berauscht, jede Assoziation feiert, vermeintlich originelle Wortspiele bejubelt. Am Ende ist Orpheus in der Oberwelt wenig mehr als eine völlig überladene Assoziationskette, die im eigenen Saft köchelt und den Blick auf das, worum es hier gehen soll, eher verbaut als dass sie ihn öffnet. Das ist ohne Zweifel unterhaltsam, kurzweilig und von durchaus bewundernswerter Neugier geprägt – und fällt in seiner unstrukturierten und wahllos wirkenden Überfülle doch schnell in die Beliebigkeit. Und das ist dann tatsächlich äußerst schade.

http://www.stagescreen.de
Leserkritiken: "Monster" im DT Berlin
David Greig: Monster, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Simon Solberg)

Erwachsen zu werden gehört ja bekanntlich nicht zu den einfacheren Aufgaben im Leben eines Menschen. Herauszufinden, wer man ist, sein kann und will, das und damit sich selbst zu akzeptieren und zu entscheiden, wie man mit diesem neu gefundenen selbst umgehen, wohin man es führen soll, ist ein Rezept für Überforderung. Wenn dann die Mutter tot ist und der Vater aufgrund einer MS-Erkrankung physisch wie psychisch zunehmend verfällt, wird die Aufgabe nicht leichter. Da lauern die Monster überall – wie im Falle von Duck, die, ganz auf sich allein gestellt, wenigstens diese Ruine einer Kernfamilie aufrechtzuerhalten versucht. Da braucht es Auswege und Abwehrmechanismen. Bei Duck ist es das Geschichtenerfinden, Geschichten, in denen sie als Heldin sich den schrecklichen Monstern im Flur entgegenstellt. Die Monster, das ist die externalisierte, fass- und greifbar gemachte Angst und Verzweiflung, das, was im Inneren nagt und ausgespült werden muss, will man nicht komplett die Kontrolle verlieren. In David Greigs Stück ist die Fantasie nicht mehr Erweiterung von Vorstellungs- und Gedankenwelt, Gelegenheit, dem Nichtvorstellbaren doch näher zu kommen, die Realitätsoptionen weiter zu denken – sie ist schlichte, nackte Notwehr, notwendig, um irgendwie weiterzumachen, zu überleben.

Simon Solberg lässt sich in der Box des Deutschen Theaters ganz auf die zunehmende Verquickung von Realität und Imagination ein. Da werden die – eigentlich recht knuffigen – Monster zu Agenten der Krankheit wie zu ebenso hilflos dahin stolpernden Weggefährten, ohne die es eben auch nicht geht, verzahnen sich Erinnerung und Gegenwart, kämpft Kriegerin Duck wie eine Lara Croft auf Hartz IV im virtuellen Raum, spalten sich Szenen mit Video, Lichtprojektionen und im Raum verteilten Darstellern in fragmentierte Multidimensionalität, die der Zuschauer durch Erweiterung des eigenen Blickfelds – im Wortsinn! – wieder zusammenbringen muss. Projizierte erklärungstexte zur Krankheiten werden pantomimisch illustriert, das Ringen um Restrealität zum Talkshow-Verhör, das kleine Sozialwohnungsdrama zur griechischen Tragödie. Die Grenzen verschwimmen, der Kampf ums kleine, gerade beginnende leben fächert sich auf in unterschiedliche Ebenen und lässt sich erst so, im schwebende Zwischenraum, fassen. Denn die Fantasie ist hier der einzige Ausweg, erlaubt sie doch dem in der tristen Ausweglosigkeit gefangenen Individuum andere Blickwinkel, die ihn sehen lassen, was sonst verborgen bleibt. Wenn der Inszenierung etwas ganz besonders gut gelingt, dann ist es, diesen vor allem geistigen Befreiungsprozess sicht- und erlebbar zu machen.

Inmitten dieser virtuellen wie realen Raumerweiterung und kaleidoskopähnlichen Auffächerung agiert das gemischte Ensemble – zwei DT-Schauspieler und zwei Studierende der „Ernst-Busch“-Hochschule – mit großem Einsatz und Erfindungsreichtum. Linn Reusse gibt Duck als trotziges Kind und abgeklärter Leidensroutinier mit großen Augen und ungebremstem Spieltrieb, Helmut Mooshammers Vater ist ein fein beobachtetes mentales wie körperliches Wrack mit Willen zur Restwürde, Gregor Schleuning eine wunderbare Karikatur eines verklemmten Gymnasiasten, der dann doch den Blick auf so manchen verdrängten Schmerz erlaubt. Grandios ist die Sozialarbeiterin von Natali Seelig zwischen Arroganz, bürokratischer Kälte und Burn Out. Hier ist jeder überfordert mit der Kategorisierung von Leben, der Bewertung des nichtbewertbaren, dem Kampf mit den Monstern. Denn die die man sieht in dieser Scheinwelt, dieser Idylle aus Karton, sind nicht die gefährlichen. Bedrohlich sind nur die in uns selbst, die um sie bekämpfen zu können, erkannt werden, ja sichtbar gemacht werden müssen. Duck tut dies mit dem Geschichtenerzählen, Greig und Solberg nicht viel anders. Monster ist eine Feier der Imagination, ein Plädoyer für die Fantasie und eine Arbeit, die auch im Grips-Theater oder an der Parkaue funktionieren würde. Das ist durchaus als Kompliment zu verstehen.

http://www.stagescreen.de
Leserkritiken: Next Day von Philippe Quesne im HAU Berlin
Philippe Quesne / CAMPO: Next Day, Hebbel am Ufer/HAU1, Berlin (Regie: Philippe Quesne)

Der französische Theatermacher Philippe Quesne arbeitet auf Einladung des belgischen Kunstzentrums CAMPO erstmals mit Kindern. So sagt es uns der Ankündigungstext zu Next Day, und damit sind die 60 Minuten bereits ausreichend umschrieben. Dabei liegt in einer solchen Ausgangslage etliches Potential: Gob Squad etwa gelang in ihrer Zusammenarbeit mit CAMPO ein faszinierendes Spiel des Lebens mit einem beeindruckenden jugendlichen Ensemble, das es sogar zu einer Einladung zum Theatertreffen brachte. Den jungen Darstellern von Next Day wäre sicher ähnliches zuzutrauen – nur tut Quesne das nicht. Von der ersten Minute an ist deutlich, das ihm nicht wirklich etwas einfällt, was er mit den Neun- bis Zwölfjährigen machen soll. Also wirft er mit Klischees um sich: Die Kinder dürfen zeichnen, mit Schaustoff werfen, Superhelden spielen – die „Superheldenschule“ ist so etwas wie die halbherzige Rahmenhandlung – herumtoben, und weil wir uns ja im kulturellen Umfeld bewegen, spielen sie natürlich auch alle ein Instrument.

Und so schart man sich zusammen, trägt einer nach dem anderen sein Instrument auf die Bühne, bevor dann die „Dirigentin“ jeden Spieler einzeln aufruft, um daraus Stück für Stück Musik werden zu lassen. Die unaufgeregte Langsamkeit des Aufbauens, die Zusammensetzung der Musik aus ihren Einzelteilen – es sind kurze starke Momente, die andeuten, was der Langsamkeitskünstler, der Atmosphärenmagier Quesne aus dieser Konstellation hätte machen können. Hier schauen wir einem werden zu, der Entstehung von Kreativität und Ausdruck aus nüchterner Mechanik, aus zielführendem Pragmatismus – und doch ist das, was da entsteht, mehr als die Summe seiner sichtbaren Teile. Doch so schnell die Hoffnung auf ein spannendes Spiel mit kindlicher Kreativität und Phantasie aufkeimte, so schnell und brutal zerschlägt sie Quesne wieder. Haben wir gerade hören dürfen, dass die jungen Künstler ihre Instrumente durchaus beherrschen, müssen sie durch den berühmten Beginn von Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra pflügen, als hätten sie keine Ahnung von dem, was sie da tun. Lustvoll dilettierende Kinder sind dann vielleicht doch amüsanter, zumindest erfordern sie keine anstrengende Auseinandersetzung.

Und so geht das Ganze in der Folge seinen nicht nur musikalischen Bach herunter. Quesne kleidet seine Darsteller in Signalfarben, was eine nette Lichtregie ermöglicht und zwängt ihre Phantasie in das banale Konzept „Wir sind Superhelden und kämpfen gegen Aliens“ ein. Da fliegen dann die Schaustoffwürfel, baucht mal ein Schaumstoffhaus, warum zwischendurch ein Werbespot gedreht und Pfannkuchen gebacken werden, interessiert dann auch nicht weiter. Am Ende sieht die Bühne aus wie ein durchschnittliches Kinderzimmer am Abend. Vielleicht war das ja das Konzept. So richtig begeistert wirken die jungen Akteure aber nicht, ist ihnen die Unterforderung anzusehen. Womöglich wäre es keine allzu schlechte Idee gewesen, wenn Philippe Quesne nur eines getan hätte: sie ernst zu nehmen. Stattdessen veranstaltet er einen Kindergeburtstag, bei dem der schale Beigeschmack vielleicht Programm ist, aber nirgends hinführt.

http://www.stagescreen.de
Leserkritik: Constellations von Nick Payne am St. Pauli Theater
Constellations
am 24. November 2014 im St.Pauli Theater in Hamburg

Deutsche Erstaufführung
Von Nick Payne

Mit Judith Rosmair und Johann von Bülow
Wilfried Minks, Regie und Bühne


Eine junge Frau, Marianne, Quantenphysikerin, und ein Mann, Roland, Imker, treffen sich, irgendwo. Unterschiedlichste Welten begegnen sich. Das Gespräch kommt schnell auf die Möglichkeit paralleler Universen und darauf, wie sich ein Leben in unterschiedlichsten Varianten gestalten könnte.

Und dann entfalten sich vor dem faszinierten Publikum in vielen kurzen Sequenzen die möglichen Welten auf eine Weise, die ebenso unterhält wie nachdenklich macht – und vor allem staunen lässt.

Staunen über die jetzt sichtbaren Möglichkeiten, die einen vor allem nach diesem Theaterabend zum Nachdenken bringen über das eigene Leben, die eigenen Lebensausschnitte, die ganz anders sein könnten, wenn denn damals oder heute eine Lebensweiche ein klein wenig anders gestellt worden wäre, wenn ein Wort anders ausgesprochen oder verstanden worden wäre und eine ganz andere Lebensentwicklung eingeleitet und bestimmt hätte.

Staunen über das intelligente und intelligent übersetzte Stück, das einen gefangen nimmt, nachdem man vielleicht in der zweiten oder dritten Sequenz noch dachte, wie das wohl werden würde, wenn immer das Dasselbe präsentiert würde. Bis man zunehmend gefangen genommen merkt, wie unterschiedlich eben dieses Dasselbe ist und damit eben gar nicht mehr Dasselbe bleibt und vor allem auch, wie es sich weiter entwickelt.

Staunen über die Leistung der beiden absolut großartigen Schauspieler Judith Rosmair und Johann von Bülow, die diese parallelen Lebenswelten auf eine überaus beeindruckende Weise schaffen – mit höchster, einer wohl nicht überbietbaren „handwerklicher“ Präzision, in einer Weise, die den Zuschauer in ein Karussell des nicht weit entfernten Hamburger Doms verfrachtet, in ein Karussell der möglichen Leben, des eigenen und das der Anderen. Alles dreht sich in rasanter Geschwindigkeit und bleibt doch bekannt und wiedererkennbar. Eine Regie-Leistung des bekannten Alt-Meisters Wilfried Minks, die stürmischen Beifall abverlangt.

Michael Laages ist in seiner Kritik im Deutschlandradio zuzustimmen (http://www.deutschlandradiokultur.de/premiere-constellations-ein-stueck-zum-schwindligwerden.1013.de.html?dram:article_id=304539),
vor allem aber ist allen der Besuch dieses Theaterabends nachdrücklich zu empfehlen. Ein Abend, der in neunzig spannenden, im Fluge vergehenden Minuten, in denen die beiden Schauspieler alle Register ihres Könnens ziehen, Welten erschafft und die Augen öffnet für jegliche Eindimensionalität und gleichzeitig für die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten.
Leserkritiken: KEIN REIN GOLD, Basel
KEIN REIN GOLD: Theater findet doch statt!
Antje Schupp produziert Glücksgefühle in Basel und inszeniert was nicht inszeniert werden durfte

So haben Sie Es-Dur noch nie gehört! Aus einer halbstündigen Soundinstallation zum Einlass schält sich das Vorspiel zum „Rheingold“, dem ersten Teil von Richard Wagners Welt-Musiktheater „Der Ring des Nibelungen“. Mit ihrem Nachhall ist die Basler Markthalle ideal für dieses Schlagerstück, hier findet jetzt Theater statt und die weihevolle Atmosphäre zwingt den Wunsch herbei, sich tatsächlich noch einmal über alle grossen Fragen dieses Daseins Gedanken zu machen. Während das Publikum noch andächtig lauscht und liest, Wagners Regieanweisungen zum Bühnenbild des „Rheingold“ werden über die Köpfe projiziert, saust ein goldenes Wesen durchs Publikum: Schaut her! Kommt mit!
Antje Schupp ist Antje Schupp, Regisseurin, hat bisher in Basel, Saarbrücken und Wien, inszeniert und inszenierte jetzt, wie sie nicht inszenieren durfte und macht dabei grossartig bewegendes Theater. Hier findet statt, was nicht stattfinden konnte oder durfte oder sollte, nämlich: rein Gold, verhindert. Genauer: KEIN REIN GOLD. Elfriede Jelineks grossraumkritischen Text „rein Gold“ sollte Schupp nämlich am Düsseldorfer Schauspielhaus auf die Bühne bringen, doch fiel das Projekt halbseidenen Vorgängen hinter den Kulissen der Theaterwelt zum Opfer. Und was macht die Künstlerin, wenn sie nicht arbeiten darf? Sie arbeitet trotzdem und das ist gut für Kunst und Denken! Kein Stück heisst keine Arbeit und daraus macht sie eine Arbeit. Und die hat es in sich: Denn dieser Abend präsentiert ein Problem, all seine Widerlegungen und deren Widerlegungen gleich mit. Und sonst? Klar: Um Gold und Geld geht‘s, das wusste Goethe, das wusste Wagner, das weiss Elfriede Jelinek und wir wissen das auch. Im Äusserstspätkapitalismus zählt nichts mehr als Geld und wem dies fehlt, dem geht’s an die Substanz. Daher die Angst, daher Wagners Heldenentwürfe, daher die unappetitliche Gegenwart. In heiter-genialistischer Verdrehung des modernen Künstlerbildes setzt sich Antje Schupp mit ihrem Thema selbst in Szenen. War die Formel „Ästhetisiere Dich selbst!“ noch im 20. Jahrhundert ironischer Kommentar auf die Unmöglichkeit autonomer Kunst unter Bedingungen der Warenproduktion, ist diese in Schupps Arbeit gehassliebter Rettungsanker und Antwort auf die Gefangenschaft in der neoliberalen Totalökonomie; die vorm Theater längst nicht halt macht. Die Nöte der Figur ist und spielt die Regisseurin selbst; als Rheintochter, als Rheinschwimmerin im Herbst, als Elfriede Jelinek, als Held und als Antje Schupp. In assoziativer Folge verwebt der Abend, bei gleichzeitiger Präsentation aller Mittel und Techniken, Schupps private und öffentliche Geschichte gekonnt zu einer Analyse des eigenen kritischen Zustands nach drei ausgefallenen Jobs im Jahre 2014. Videos und gespielte Szenen werden zur Revue über Theater, über die Gesellschaft des Geldes, deren Kunst (Wagners „Ring“ als Video in zweieinhalb Minuten erklärt) und eine Quasi-Lecture-Performance verdeutlicht, dass Doppelte Buchführung eine Abrechnung mit Menschen ist. Die Video-Einspielung zum Thema Geld und Kredit zieht sich etwas dahin, aber geschenkt. An diesem Abend steigert Antje Schupp erklärtermassen ihren Marktwert und das ist kein Spiel, sondern bitterer Ernst. Oder etwa nicht? Nachdrücklich macht sie ihrem Publikum klar, dass ihre finanzielle Situation verzweifelt ist. Das Denken der Wohlstandsgesellschaft beim Schlawittchen gefasst und es fällt auf: Wir alle sind gemeint! Zu ihrem Glück, das erfahren wir zuletzt, hat Antje Schupp ein bisschen geerbt und dieses Erbe in KEIN REIN GOLD investiert. Und hier bekommt der Abend seinen entscheidenden Dreh: Das überlebenskünstlerische Spiel mit Schein und Wirklichkeit ums künstlerische Überleben erscheint in völlig andrem Licht. Im Augenblick des Erinnerns an den verstorbenen geliebten Menschen fällt bis hier Gesehenes und Gedachtes ab: Schupp spielt Schubert, spricht und macht sprachlos. Das ist bestes Theater, denn hier wird Wahrheit erfahrbar. Das individualisierte Problem, der einzelne Konflikt und eine brutale innere Zerrissenheit, werden dem Publikum als gemeinsame Angelegenheit denk- und vor allem fühlbar. Das ist ganz gross und das muss man selbst erlebt haben. Dass Menschen mehr und anderes sein können, als Getriebene einer Wirtschaftsordnung lässt dieser Abend blicken.
Das Publikum verdankt Antje Schupp und ihrem Team (Raum: Christoph Rufer, Dramaturgie: Eva Böhmer, Licht: Thomas Giger, Coaching: Beatrice Fleischlin) einen eleganten und heiteren Parforceritt durch die Welt der Kunst und der Mark(hallen-)wirtschaft. Die Theatermacher wissen um die Gefahren von Larmoyanz und Theorieabsturz und begegnet diesen Fallstricken mit Humor, Gefühl, Kalkül – ohne Kitsch und Sentiment. Grosser Applaus für einen grossen Abend. Es wurde mit Mut und einfachsten Mitteln um künstlerische Souveränität gerungen. Am Ende: Gewonnen, Chapeau!

Simon Berger

Der Rezensent arbeitet als Operndramaturg am Theater Basel.
Leserkritiken: Das Paradies der Damen, Stuttgart
Staatstheater Stuttgart, im „NORD“ (12.12.2014)

Emile Zola: Das Paradies der Damen, Regie: Mareike Mikat

„Das Paradies der Damen“ ist im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts im Roman Zolas eine Art ideales Kaufhaus in Paris, das für modernes Management und Verkaufsmethoden steht, ein Riesenkaufhaus, das den Niedergang des Pariser kleinen Einzelhandels betreibt und beerbt. Man könnte also sagen, es stand am Anfang jenes Prozesses der Warenästhetik, der in Stuttgart mit dem Gerber und dem Milaneo zwei neue und letzte (Sumpf-)Blüten treibt.

Die theatralische Rückschau auf die Entstehung des modernen Kaufhauses und Einzelhandels, von dem wir nicht wissen, ob ihm der Online-Handel nicht den Garaus machen wird, versprach spannend zu werden, zumal der Autor Zola für jene Art des Romans steht, den man Realismus (eigentlich Naturalismus, aber das spielt hier keine Rolle) nennt, und der im postmodernen Theater leider etwas selten geworden ist. Der Neoliberalismus, das ökonomische Pendant zur Ideologie der Postmoderne, liebt den Nebel freier Assoziation, Paradoxes, Klamauk und individuelle Hybris, von Realismus kann keine Rede mehr sein.

Nun betreibt das postmoderne Theater auch eine Art name-dropping, eine Art Verwurstung des kulturelles Erbes der Aufklärung, in dem sich Intendant und Regisseure an großen und kleineren Namen abarbeiten: von Brecht über Thomas Mann zu Wilhelm Raabe und jetzt eben Zola.

Zumindest der erste Teil des Abends war freilich am Roman orientiert und schildert eine Geschichte, nämlich wie eine junge Frau vom Lande nach Paris kommt, eine Anstellung sucht und in jenem neuen Kaufhaus findet. Auch wenn der Ton des ersten Teils mitunter etwas klamaukig ist, wurde eine interessante Geschichte auf amüsante Weise erzählt. Leider ging der Regisseurin Mareike Mikat wohl die Puste aus, der zweite Teil endet im Kitsch der Liebeswirren und Fantasien der beiden Protagonisten, dem Kaufhausbesitzer und jener jungen Frau vom Land. Zwar wird noch mächtig von der Rolle gezogen, aber das Thema des Romans, wie die junge Frau das Kaufhaus umtreibt, verschwindet im „Menschlichen“ und Utopischen.

Den angekündigten Bogen zur Konsumwelt von heute, der auch in der Presse angekündigt wurde, erkennen wir nur in ein paar Video-Sequenzen und Papiertüten, die Aktualisierung bleibt also dünn; die Kannibalisierung des Einzelhandels, die wir auch in Stuttgart und der Umgebung erleben und erleben werden, ist nur historisches Thema. Auch Alternativen, wenn es die denn gebe, sehen wir nur in karikierter Form als „sozialistische“ Fantasien über die Wohltaten des Kaufhauses.- Die Frauen werden als blindwütige Konsumenten dargestellt, warum sie dazu wurden, steht dahin, auch wenn die Beschreibung der Verführungskünste der Warenwelt immer wieder sehenswert ist.

Theater und Roman vermenschlichen gesellschaftliche Entwicklung anhand ihrer Protagonisten, machen typischen Konflikte in gesellschaftlich relevanten Prozessen verständlich und in ihrer Tragik wie Komik menschlich nachvollziehbar und nach-erlebbar. Was wir gesehen haben, ist ein Handels-Kapitalist in Aktion in der Hochphase des Konkurrenzkapitalismus. Eine Charaktermaske und doch auch eine Persönlichkeit dahinter mit einer Message, die sich der Dialektik ihrer Handlung und deren Folgen wohl bewusst ist. Diese Offenheit des Eroberers macht ihn auch anfällig für das historisch Zurückgebliebene, den Charme des Mädchen vom Lande, hier könnte man von Authentizität sprechen. Hinter der Charaktermaske des Kapitalisten verbarg sich noch ein Mensch, der, wir wiederholen uns, den Folgen seines Tuns, die Ruinierung der alten Einzelhandels, wohl bewusst war. D.h. aber auch, in diesem Punkt ist das Stück nicht aktualisierbar, weil der einzelne Kapitalist als Unternehmer schon lange durch Manager und Aktiengesellschaften abgelöst ist; und hinter deren Charaktermasken verbirgt sich nichts mehr.

Die Entfremdung der Menschen im Neoliberalismus hat einen Grad erreicht, bei dem auch die Liebe die Klassengegensätze nicht mehr überbrücken kann, wenn das nicht schon immer Lüge war, und auch der Aufstieg durch Fleiß den meisten Arbeitnehmer ebenfalls nur noch als faulige Mohrrübe vor dem Esel Proletariat erscheint.

Wenn nun auch durch den ersten Teil des Stückes auf der absteigenden Linie der literarischen Bearbeitungen in Stuttgart ein Anderes versucht wurde, so bleibt doch insgesamt nach dem Besuch der ausverkauften Premiere ein Gefühl der Unzufriedenheit, dem Thema mal wieder nicht gerecht geworden zu sein. Daran ändert auch der lange, verdiente Beifall für die SchauspielerInnen nichts.
Leserkritik: Herbstsonate, Stuttgart
Schauspiel Stuttgart
Herbstsonate nach dem Film von Ingmar Bergmann, Regie: Jan Bosse
Premiere 20.12.

Laut dem Interview mit Jan Bosse in der Stuttgarter Zeitung (19.12.) war es die Idee von Frau Haberlandt, dieses Stück zu inszenieren; es war eine gute Idee.
Selbstverständlich ist das nicht, wenn man die Romanadaptionen der letzten Zeit, die der Schreiber dieser Zeilen in Stuttgart sehen konnte, Revue passieren lässt, von „Die Marquise von O. / Drachenblut“ bis zu „Pfisters Mühle“ war man auf postmoderne Brechungen, sei es Disco-Musik, Tanzeinlagen, bunte Kostüme, Anachronismen usw.usf. gefasst; sie fehlten zu seiner großen Freude.
Wir haben ein Stück gesehen, das gut ins 19. Jahrhundert passt, in eine Zeit vor Sigmund Freud, in die Glanzzeit des bürgerlichen Theaters, als dieses die Tiefe und Gebrochenheit (Entfremdung) der bürgerlichen Seele auszuloten hatte, ein Blick in die Abgründe des bürgerlichen Lebens wagte und den Preis des Aufstiegs seiner Klasse noch zu benennen wagte.
Das ist lange vorbei, die Entwicklung auch der theatralischen Mittel ist fortgeschritten, und ob nach all den psychologischen Ratgebern der vergangenen Jahre noch Platz für derartige Dramen ist, wir wissen es nicht.
Von den dramaturgischen Mitteln hat uns nur der durchsichtige „Vorhang“ gestört, auf den von Kameras aufgenommene Großporträts von Mutter und Tochter zu sehen waren. Die beiden Schauspielerinnen Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt brauchten diese Vergrößerung nicht, sie waren auf der Bühne und darüber hinaus in bestem Schauspiel physisch präsent. Auch eine weitere Schwäche, die Wiederholung einer Treppenbesteigung, die etwas von einer hängengebliebenen Schallplattennadel an sich hatte, verzeihen wir gern.
Am beeindruckendsten fanden wir freilich das Spiel der stummen Helena, schwerstkranke Schwester und Tochter; wie sie auf den Stufen des Bühnenaufbaus sich um Fortbewegung bemüht, die gequälte Kreatur, die den wahren Preis des ganzen Fortschreitens zu tragen scheint, abgeschoben und verstoßen von der Mutter.
Apropos Bühnenbild; das erinnerte an Castorfs Ring in Bayreuth, genauer gesagt an den Bohrturm und die Wohnung darunter. Nur gab es auf der teuren Drehbühne Einblicke in die Zimmer des Pfarrhauses, in dem das Drama spielt, und die Leiter (bzw. der Steg) auf der in Bayreuth die Walküren tanzten, führte hier ins nirgendwo; bei uns „tanzte“ Helena vielleicht den Mond an.
Wir haben also ein realistisches Drama vor uns, klassisch inszeniert und gespielt, in dessen Mittelpunkt ein Mutter-Tochter-Konflikt steht, um es mal ganz psychologisch zu sagen, der aber keine Lösung findet. Das wird mancher feststellend bemängeln; nicht so der Schreiber dieser Zeilen, der es für ein Unterscheidungsmerkmal zum schlechten Fernsehen hält, dass weder ein Happy-End angeboten wurde noch eine falsche Versöhnung. Die (kleine, familiäre) Katastrophe ist, dass es so weiter geht. Dies dargestellt zu haben, war der große Gewinn dieses Abends.
Leserkritiken: Hedda Gabler, Hamburg
„Hedda Gabler“ von Henrik Ibsen, Thalia Theater Hamburg Bild einer Gesellschaft ohne Utopie?

Die kurze Inhaltswiedergabe auf der Webseite des hier in Augenschein genommenen Dramas (http://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/hedda-gabler/ ), das unter der Regie von Jan Bosse am Thalia Theater Hamburg aufgeführt wird, skizziert die Grundlinien der Handlung zunächst mit klaren Worten, einfach strukturierten Sätzen, nachvollziehbar und verständlich. Jene Inhaltsübersicht mündet dann allerdings in eine knapp gefasste Textpartie, die inhaltlich zwecks Aufrechterhaltung des Publikumsinteresses berechtigterweise kaum Konkretes zum weiteren Handlungsverlauf aussagt und sich sprachlich-stilistisch auch von den vorangehenden, im Ausdruck nüchtern gehaltenen Darlegungen durchaus unterscheidet: Jetzt wird das Unheilvolle, Dämonische, Zerstörerische menschlichen Wirkens und Handelns in bildhafte, z.T. angstvoll-emotional besetzte Worte gekleidet. Damit deutet sich bereits all das an, was sich letztlich mit der eigentlichen Katastrophe, deren Wucht zum Ende des Stückes spürbar wird, verbindet. So heißt es am Anfang jener knappen inhaltlichen Zusammenfassung auf der Theater-Webseite, um hier noch die erforderlichen Belege für den oben skizzierten Interpretationsbefund zu liefern: „Es soll der Start in eine erfolgreiche bürgerliche Existenz werden: Gerade von einer langen Hochzeitsreise zurückgekehrt, beziehen Jörgen Tesman und Hedda Gabler ihr Traumhaus, für das sich Tesman leichtsinnigerweise in der Annahme, sehr bald zum Professor berufen zu werden, über seine Verhältnisse verschuldet hat, um seiner anspruchsvollen Frau ein angemessenes Leben bieten zu können.“ Im weiteren Verlauf des Textes dagegen findet sich folgender Satz: „Die Gespenster der Vergangenheit entfachen einen Strudel der Obsessionen, Wünsche und Projektionen, in dem jede der Figuren in diesem komplexen Netz der Abhängigkeiten voneinander ihren Lebensentwurf zu verteidigen sucht.“
Der zwischen den beiden Sätzen bestehende Unterschied in sprachlich-stilistischer Hinsicht – wie schon angedeutet, sachlich-korrekt die Handlungsschritte nachvollziehend, der erste Satz, mehr summarisch, emotionsbezogen und unheilkündend, der letzte - ist markant und lässt einleuchtend die Gesamtstruktur des hier zur Diskussion stehenden Stückes bereits aufscheinen, gibt also einen offenkundigen Hinweis auf das, was den Rezipienten erwartet: Eine den geradlinigen Konventionen, dem Renommee geordneter bürgerlicher Kultiviertheit, auch einer als reputierlich geltenden Anpassungsbereitschaft verpflichtete Existenzform, wie sie von einigen der Dramenfiguren angestrebt bzw. realisiert wird oder – präziser noch, um auf die Herrschaft von System und Gesellschaftsstruktur zu rekurrieren – wie sie von Erwartungen, Normen, Weisungen und Gesetzen einer gehobenen sozialen Schicht über ihren gesellschaftssteuernden Einfluss sowie über ihren Machtapparat, wenn z.T. auch nur implizit, vorgeschrieben und erzwungen wird, eine solche Existenzform, besser gesagt: das Ideal einer solchen Existenzform, steht dem, was als Chaos und Debakel bezeichnet werden kann, durchaus nahe. Und dies genau dann, wenn die handelnden Personen den destruktiven Kräften, den Imponderabilien jenes von „Normen und Werten“ gehobener Bürgerlichkeit getragenen Systems, das auf Handlungsfähigkeit und Selbstbehauptung, aber auch auf Machtstreben und Egoismus setzt, das manche vom Pfad der Tugend, der Normalität abweichende Formen der Lebensführung (hier: Lövborgs Haltlosigkeit) allzu schnell dem Verdikt unterwirft, - wenn also die Akteure den negativen Implikationen oder Begleiterscheinungen des ganzen Systems, um es kurz zu sagen, zu widerstehen sich als völlig unfähig erweisen.
Hedda Gabler selbst stellt als Beispiel eines „energischen Frauencharakter(s)“ (Reclams Schauspielführer (1990), S. 408) eine Persönlichkeit dar, die sich den Alltagstrivialitäten tunlichst zu entziehen versucht, den Normen, Anschauungen und Verhaltensweisen, die sich im vorliegenden Fall mit der üblichen Frauenrolle verbinden, in mancher, aber nicht jeder Weise gerecht wird und insofern eine Sonderstellung für sich reklamiert, die sie letztlich in einen nicht unerheblichen Gegensatz zu dem jungen Gelehrten Tesman bringt, was Habitus und Mentalität anbelangt, d.h. in einen Kontrast zu jenem Lehrstuhlaspiranten, den sie gleichwohl heiratet. In der gängigen Sekundärliteratur vom Schlage einer kurzen Informationsquelle heißt es mit Blick auf die Zukunftsperspektive der Protagonistin: „Die reitende, schießende, tanzende, bohemehafte Hedda Gabler erschrickt, daß sie als Hedda Tesman nun, nach der Hochzeitsreise, in einer Familie aufzugehen und Mutter zu werden habe. Aus Angst vor solcher Zukunft wappnet sie sich mit Hochmut (…).“ (G.v. Wilpert (Hrsg.), Lexikon der Weltliteratur Bd. 3 (1997), S. 542) Eine gewisse Bereitschaft, Geltung und Verbindlichkeit gesellschaftlicher Normen auch für sich selbst zu akzeptieren, wenn es sein muss, zeigt sich an ihrer Furcht vor einem Skandal, der durch sie verursacht werden könnte. Sollte Richter Brack sein Schweigen brechen, würde ruchbar, dass die Protagonistin ihrem ehemaligen Verehrer Lövborg, der nach Teilnahme an jener Herrengesellschaft im Boudoir einer “zweifelhaften Dame“ erschossen aufgefunden wird, die entsprechende Pistole ausgehändigt hat.
Sicherlich ist das Theaterstück, um das es hier geht, anschlussfähig, und insofern lässt es sich wohl mit Fragen, wie sie beispielsweise auf der erwähnten Webseite des Schauspiels artikuliert werden, aber auch mit weiteren Aspekten in Verbindung bringen. Von der „Rolle der Frau“ beispielsweise, exemplifiziert hier an einer Generalstochter, ließe sich selbstverständlich ein Bogen zum umfassenderen Thema der Frauenemanzipation schlagen, gerade im beginnenden 21. Jahrhundert unter dem Gesichtspunkt vielfältiger Begegnungen mit anderen Kulturen.
Die Rezeption des in Rede stehenden, am Thalia Theater Hamburg aufgeführten Dramas fällt ganz unterschiedlich aus: Die Bandbreite der Meinungsäußerungen seitens der Theaterbesucher reicht, soweit dies den Publikumskommentaren ebenfalls auf der Webseite des Stückes zu entnehmen ist, von vollständiger Ablehnung bis zu teilweise überschwenglicher Begeisterung, die erfreulicherweise überwiegt. Die eher euphorischen Meinungsäußerungen betonen zu Recht die ausgezeichnete Leistung der Schauspieler - und hier ist u.a. Jens Harzer in der Rolle des Jörgen Tesman besonders hervorzuheben - und erkennen der Inszenierung Angemessenheit und Überzeugungskraft zu. Einer gewissen Aufregung im Zusammenhang von Zustimmung und Ablehnung mit Bezug auf Bühnenbild und Aufmachung wäre möglicherweise zu entgehen, wenn größere Aufmerksamkeit einem Interpretationsaspekt gezollt würde, der bei vordergründiger Unscheinbarkeit den Blick auf etwas durchaus Bedeutsames lenkt, nämlich auf die Empfindungswelt von Künstlern, hier des 19. Jahrhunderts, überdies auf die starken Gefühlsprägungen und teilweise markanten emotionalen Schwankungen in Kunstwerken jener Zeit. So war das Empfinden von Trauer, Schmerz und Resignation manchem Autor, Maler oder Komponisten alles andere als fremd. Ein Hauch von Melancholie umwittert auch das vorliegende Bühnenstück trotz gelegentlicher Komik, Ironie und Karikatur, wird durch die Musik – sparsame klassische Tonfolgen, zumeist von elegischem Charakter, gespielt von einem Streichquartett - , überhaupt durch den inszenatorisch sensibel gestalteten Duktus der Dialoge und Handlungselemente spürbar gemacht und verweist auf das im Leben Ibsens alsbald einsetzende symbolisch-mystische Alterswerk.
Innere Leere, Langeweile und Lebensekel - Sentiments, die zwar nicht nur, aber gerade doch auch zum Ende des 19. Jahrhunderts besondere Verbreitung fanden, und zwar im Zuge zunehmender Rasanz sowie beginnender Anonymisierung mancher Lebensbezüge, auch im Kontext von Sinn- und Orientierungssuche – jene Sentiments mögen sich im Selbstmord der Protagonistin am Schluss des Stückes ebenfalls widerspiegeln. Ihr Tod erscheint als Flucht vor einem Dasein, das im Spannungsfeld einer sich in Banalitäten täglicher Abläufe verlierenden sowie in Alltagsproblemen aufreibenden Existenz und eines Lebens „mit Weinlaub im Haar“ keine Entfaltungsmöglichkeit in Würde und Schönheit zu erkennen meint.
Leserkritik: Antigone, Stuttgart
Sophokles/Friedrich Hölderlin: Antigone, Regie Laurent Chétouane, Intendant Armin Petras
Kammertheater Stuttgart, Premiere 10.1.2015

Neun junge SchauspielerInnen, drei Männer und sechs Frauen, stehen auf einer großen Bühne. In deren Mitte ein paar zusammengerückte Tische mit Papieren darauf, an den Wänden stehen verschiedene Musikinstrumente. Diese, wie die Garderobe der SchauspielerInnen, sehen aus, als wären sie nicht aus der vorderen Reihe der Kleider- bzw. Requisitenkammer entnommen, sie haben den Charme der Caritas-Kleiderverwertung.
Die Männer fühlen sich wohl etwas einsam, deswegen halten schon zwei gleich an Anfang mal Händchen. (Das war das ganz Aktuelle an dieser Inszenierung.)
Die Stimmung unter den SchauspielerInnen bleibt aber etwas distanziert, sie schwingen wie Atome im Raum, mitunter auch die Arme, treffen sich, sagen etwas, dann gehen sie weiter. Mal rennt einer durch den Raum, mal röhrt er dumpf. Sie tragen den historischen Text mitunter vor, als wären sie Maschinen, die elektronische Texte in Sprache umwandelt, aber den Sinn dessen, was sie da von sich geben, nicht verstehen. Man kennt das von fremdsprachigen Menschen, die Deutsch lernen, mit den Wörtern ihre Mühe haben, so dass sie auf die Satzmelodie nicht achten können. Das macht den ohnehin schwierigen Text nicht verständlicher. (Ich habe nichts verstanden.) Erschwerend kommt hinzu, dass sie nicht auf Rollen festgelegt zu sein schienen, also verschieden Rollen und Regieanweisungen des Theaterstückes von Sophokles vorlasen.
Das Ganze wirkt, als wären junge Leute für dieses Theaterstück engagiert geworden, aber sie sind etwas uninspiriert, erste Probe, der Regisseur ist leider nicht gekommen, lieb und lustlos, nur gelegentlich mit etwas bemühter Ekstase lesen/leiern sie ihren Text herunter. Warum sollte man 25 € bezahlen, um so etwas anzusehen?! Beckett, der in dieser Art Theater schon weiter war, scheint vergessen.
Am Anfang warnte mich ein Kollege, das Stück würde ca. 2,5 bis 3,5 Stunden dauern, ohne Pause, worauf ich mich bestürzt bei einer der Theatermitarbeiterinnen erkundigte. Sie meinte, das Stück entwickle sich auf der Bühne, deswegen wisse man nicht, wie lange es dauere, so zwischen 2,5 und 4 Stunden. Man könne aber jederzeit das Theater verlassen, um z.B. etwas zu trinken, aber man dürfe Getränke nicht wieder mit in den Theatersaal nehmen.
Ein Theaterstück also, das man jederzeit verlassen kann, aber auch wieder kommen, da nicht die Gefahr besteht, einen sinnhaft relevanten Part zu verpassen...
Im Stück gab es zwei Höhepunkte:
1. Nach einer gefühlten halben Stunde erinnerte ich mich mit aufkommender Panik, dass ich vergessen hatte, mein Handy auszuschalten. Was tun? Es ganz ausschalten, hätte die Abspannmelodie provoziert - unmöglich. Auch das Drücken auf die Stummtaste hätte keinen guten Eindruck gemacht, so als wäre ich unaufmerksam, dabei starrten die SchauspielerInnen mitunter ins Publikum als wollten sie uns gleich attackieren. Aber auch zu hoffen, dass mich niemand anruft, erzeugte mir Schweiß auf der Stirn. (Hier nichts zur Raum-Belüftung.) Ich entschied mich unter Aufbringung aller Energie für die Stummtaste. Aber immerhin erregte dieses kleine Abenteuer meine höchste Konzentration.
2. Auf einmal klingelte ein anderes Handy. Welche keineswegs heimliche Freude durchströmte mich, welche wohltuende Abwechslung, welche Schadensfreude ließ mich erzittern!
Vorsichtshalber stand der Mann mit der Mütze, der für das Stuttgarter Theaterelend verantwortlich ist, am Ausgang. Davon ließ sich aber ein Premierengast wie Herr E. Reuter nicht beeindrucken; er ging mit Begleitung als erster. In schönen Abständen gingen vereinzelt weitere Theaterfreunde. Wir gingen so nach einer einunddreiviertel Stunde, da war vermutlich die Hälfte des Textes durch.
In der Stuttgarter Zeitung wurde das Stuttgarter Schauspiel vor kurzem bilanziert, die Tonnenideologie des Intendanten wurde gelobt (Viel hilft viel). Ich meine das Gegenteil: Die massenhafte Abfertigung klassischer Literatur und Theaterstücke zeigen eine abschüssige Linie, in der die Stücke immer uninspirierter, sinnfreier und geistärmer werden. Vielleicht wie bei unser Regierung in Stuttgart und Baden-Württemberg: Der Charme des Anfangs ist vorbei, die Erwartungen sind enttäuscht, jetzt wurstelt man sich auf immer armseliger, formeller Weise weiter durch. Dass es so nicht weiter gehen soll, hat einer der ehemals Mächtigen, aber vielleicht noch Einflussreichen im Lande, mit seinem frühen Weggang deutlich gezeigt.
Leserkritik: Giovanna d'Arco, Bonn
Giavanna D`arco, Oper Bonn
Geistige / seelische Anregung und vielleicht auch Erbauung / Unterhaltung sind wohl die vordergründigen Motivationen für den Gang ins Theater / in die Oper.
Fettfilm, so der Name des Regie-Duos, haben unter diesen Aspekten eine perfekte Leistung abgelegt. Trotz Erkältung sang Carlos herzerweichend schön. Auch die weiteren Rollen waren nicht nur erstklassig besetzt, es waren auch alle spielfreudig und auf der Höhe ihrer Sangeskunst. Die Chöre schmeichelten den Ohren ohnelgeichen. Einfach zauberhaft.
Genauso zauberhaft waren auch die Rahmenbedingungen. Die stilistisch sehr einfach gehaltene Bühne, in deren Zentrum ein Kreuz jede Szenedominiert, wird mit Projektionen komplettiert. So findet z. B. ein nahtloser Übergang zwischen drinnen und draußen statt oder von Burg zu Wald. Aber das ist noch längst nicht alles. Was das neue 3D für`s Kino - das sind diese Projektionen für`s Theater. Bauten, Ausstattungen, Spezialeffekte, Zusatzinformationen, neue und zusätzliche Dimensionen, ...
Hört sich nach Spektakel an. Ist es aber nicht. Sehr ruhig, wohldosiert und harmonisch werden diese "Zusätze" integriert und geben einen besonderen Zauber und Glanz.
Leserkritiken: "Jedermann" im Thalia Theater Hamburg
Hugo von Hofmannsthal: Jedermann (Thalia Theater Hamburg)
Regie: Bastian Kraft
Premiere: 19. Oktober 2013
Eine umjubelte Inszenierung: schauspielerisch leistungsstark – inhaltlich durchschnittlich

Ein Bühnenstück, dessen weltliterarische Bedeutung vor allem durch die Einbeziehung in ebenfalls weltbekannte Festspiele im Laufe mehrerer Jahrzehnte beachtliche Breitenwirkung gewonnen hat und das sich - wie im vorliegenden Fall - , was die Gründung und Einrichtung ebensolcher Festspiele sowie die bei den Aufführungen mitwirkenden bzw. im Mittelpunkt stehenden Künstler anbelangt, dann auch noch mit berühmten Namen verbindet, kann sich in der Regel Anerkennung und Bekanntheit zuschreiben, die über das normale Maß hinausgehen, und dies mit der Konsequenz, selbst Maßstäbe zu setzen oder doch wenigstens „Orientierungshilfen“ für die Aufführungspraxis zu liefern. Solche zumeist impliziten Leitlinien lassen sich bei Inszenierungen und Adaptationen akzeptieren, ablehnen oder einer differenzierteren Betrachtung zuführen, sollten aber nicht unbeachtet bleiben und insofern auch im Denk- bzw. Empfindungshorizont sowie künstlerischen Aktionsradius eines jeden Regisseurs im Hinblick entweder auf Anerkennung, Verarbeitung oder Distanzierung Platz finden. Außerdem haben sich literarische sowie aufführungsrelevante Standards im Bewusstsein des Publikums ebenfalls etabliert, zumindest des aufmerksamen, an Literatur und Theater interessierten. Die Notwendigkeit von Achtsamkeit gegenüber Aufführungspraxis und Rezeptionsgeschichte eines Dramas trifft auch und gerade dann zu, wenn durch Neuinterpretation und stärkeren Aktualitätsbezug eine sich von den historischen Konstituenzien und Einbindungen emanzipierende Originalität und an „Modernitätsfaktoren“ ausrichtende Qualität des aufzuführenden Werkes angestrebt wird. Letzteres ist bezüglich der Inszenierung von “Jedermann“ durch Bastian Kraft am Thalia Theater Hamburg der Fall – im Übrigen eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen - , und die Präsentation des sich hier mit dem Theaterstück verbindenden Gesamtkonzepts von Schauspiel, Bühnenbild und Musik kann unter den Bedingungen seiner Individualität, einer gewissen Eigengesetzlichkeit und -dynamik, vor allem eingedenk der darstellerischen Leistung des Protagonisten als überaus beachtlich bezeichnet werden.
Die Ausführungen auf der Webseite des Theaterstückes, mit kleineren sprachlichen Abweichungen auch im Programmheft, weisen ebenfalls darauf hin, dass ein von Charakter und Anspruch ambitioniertes Werk in Szene gesetzt wird. So geht es hier doch um Fragen und inhaltliche Befunde, die zunächst einmal üblicherweise nach Maßgabe ihrer historischen Bedingungen, ästhetischen und literaturgeschichtlichen Konditionen in Augenschein zu nehmen sind, die aber ein höheres Maß als vielleicht sonst üblich an Verallgemeinerungsfähigkeit und relativer Zeitlosigkeit zu erkennen geben. Gerade aus diesem Grund bieten sie immer wieder Anlass, trotz veränderter Zeitverhältnisse, sich wandelnder Bedürfnisse, Weltdeutungen, philosophischer Betrachtungen und politischer Strukturen jenen eher leicht verständlichen, z.T. gar als Kitsch belächelten Stoff von gleichwohl „menschheitsbezogener“ und einer in dieser Hinsicht auf existentielle Fragen zielenden, damit das Publikum immer wieder berührenden Machart und Qualität ins Bewusstsein der Theaterbesucher und damit der Menschen generell zu rücken.
Wenn auf der Webseite des hier kommentierten Theaterstückes mit Ausrichtung auf den Zuschauer schon im Vorfeld seines eigentlichen Theaterbesuchs diverse Fragen „weltbewegenden Charakters“ aufgeworfen werden, die natürlich die Rezeption des Betrachters, sofern die vorgegebenen Einlassungen zur aktuellen Inszenierung gelesen werden, steuern, dann wäre zu überlegen, ob gegenwärtige Aufmachung und Präsentation des Dramas derartige Gedankenschwere provozieren, implizit ansprechen oder gar involvieren. Zudem heißt es auf jener Webseite sowie im Programmheft (S.5):
„Der ,Jedermann' als literarisches Mysterienspiel antwortet mit christlicher Überzeugung: Es sind die humanistisch-christlichen Werke, die am Ende zählen.“

Es soll nicht bestritten werden, dass diese Position auch der vorliegenden Inszenierung bei Bedarf abzugewinnen ist, sie wird aber eingebettet nicht nur in den Komplex von Handlungsschritten, Dialogen und Reflexionen, die von Hofmannsthal vorgegeben sind, sondern eben auch in einen Reigen akustisch gelegentlich mächtig auftrumpfender sowie auch optischer, manchmal im Übrigen greller Effekte, allesamt von mitunter satirischem, unterhaltsamem, reißerischem, dann auch wieder sensibel-einfühlsamem Charakter, Effekte, die z.T. ein wenig wegführen von der Ernsthaftigkeit der im vorliegenden Bühnenstück angesprochenen Thematik und der sich in sprachlicher Feinsinnigkeit ausdrückenden Fragilität von Aspekten und Fragen, die um „Leben und Tod“, letztlich um „Glauben und Erlösung“ kreisen. Eine gewisse Zurücknahme des religiösen Gestus durch die hier in Rede stehende Inszenierung wird auch im Programmheft (S.5) angedeutet: „Der ‚Jedermann‘ als literarisches Mysterienspiel antwortet mit christlicher Überzeugung: (…). Doch welche Gültigkeit hat diese Antwort für den, der vom Glauben abgefallen ist?“ Und an anderer Stelle: „Heute ist der Mensch auf die eigene Person zurückgeworfen: Er muss das Göttliche, so er es sucht, in sich suchen, und alle Figuren seines persönlichen Mysterienspiels aus sich selbst erwachsen lassen.“
Sinnverlust, Orientierungssuche, auch die Aufgabe, dass „der Mensch der Neuzeit (…) sich dem Konflikt zwischen Zugewinn an Individualität und Handlungsfreiheit einerseits und der Frage nach dem rechten Leben andererseits stellen“ (Webseite) muss, sind in ihrem Aktualitätsbezug wohl kaum zu bestreiten. Auf einem anderen Blatt dürfte allerdings stehen, dass sich das Reflektieren und Spekulieren auf der Theater-Webseite, auch in der kurzen inhaltlichen Zusammenfassung im Programmheft hinsichtlich der dort angesprochenen Aspekte und Fragen keineswegs immer so originell ausnimmt, wie es vielleicht zunächst scheint, drehen sich doch Diskurs und Geschehen schon seit vielen Jahren um jene dort ins Spiel gebrachten z.T. gesellschaftspolitischen oder philosophischen Positionen (Auf der Webseite ist beispielsweise von der Rollenpluralisierung des Einzelnen die Rede: „Er ist Aktionär oder Kaufmann und will zugleich Mensch bleiben - (…).“). Längst sind Herausforderungen auf das Gemeinwesen zugekommen, deren Bewältigung noch aussteht, vielleicht sogar noch lange auf sich warten lässt. Dies sei nicht zuletzt gesagt unter dem Eindruck der schwerwiegenden, schrecklichen Ereignisse vom 7. Januar 2015, nur zwei Tage vor dem Zeitraum, in dem der vorliegende Kommentar aufgesetzt wurde.
Fragen nach Religion und Glaubensrichtung, hier Christentum, theologische Einzelaspekte wie „Gnade und Gerechtigkeit“, „Vergebung und Erlösung“ werden in der gesellschaftlichen Realität heute von zahlreichen inhaltlichen Standpunkten naturwissenschaftlichen, auch politischen oder gesellschaftlichen Charakters, d.h. von Aspekten, die sich teilweise weit von religiösen Bezugssystemen lösen, dabei aber manches Mal an erkenntnistheoretische Grenzen stoßen und auf metaphysische Positionen „zurückgeworfen“ werden, überlagert, durchdrungen, umgeben, in ihrer Bedeutung relativiert oder auch vollständig zurückgewiesen, kurzum: Die von Hofmannsthal in den Blick genommene, durch Antike, Christentum und abendländische Kulturtradition geprägte Welt ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ort einer längst erfolgten Säkularisierung der Gesellschaft mit ihren Annehmlichkeiten und Vorzügen, aber auch Problemen und Krisen, in jüngster Zeit mit Gegen- und Rückwärtsbewegungen von z.T. gefährlichen Ausmaßen. Eine Inszenierung, die sich über die Inanspruchnahme moderner Elektronik, dabei geht es um Videoprojektionen, Licht- und Leuchteffekte sowie akustische Einspielungen, berechtigterweise weit in die Bereiche des bewusst geübten Gegenwartsbezuges hineinwagt, hätte vielleicht gerade auf dem Weg der über Technologie und Elektronik gebotenen Möglichkeiten noch etwas beherzter Fragen und Gesichtspunkte gegenwartsrelevanter, ebenfalls mit „Leben, Tod und Glauben“ verknüpfter Bezugsfelder zum Gegenstand ihrer intentionalen Ausrichtung machen oder derartig Gegenwartsbezogenes zumindest andeuten können, anstatt dann doch im Wesentlichen Deutungsbefunde auf der Theater-Webseite als quasi bemerkenswert auszuweisen, denen ein gewisser Allerweltscharakter nicht ganz abzusprechen ist. In diese Richtung zielt z.B. die Einsicht, dass Hofmannsthal den „Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, den damit einhergehenden Sinnverlust und die Entfremdung des Menschen durch die Ausweitung der Geldwirtschaft“ (Webseite) thematisiert.
Welche Fragen wären vielleicht noch spannender und zeitgemäßer? Zwei Beispiele seien genannt: Wie wäre mit der eigenen Religion heute bei häufig verloren gegangenem theologiebasierten Wissen umzugehen angesichts vielfältiger Begegnungen mit anderen Glaubensrichtungen und Weltanschauungen, die z.T. mit erheblichem Kenntnisreichtum sowie inneren Überzeugungen ihrer Anhänger vertreten werden? Wie ließen sich christlich-humanistische Werte, wie es in leichter sprachlicher Abwandlung der auf der Webseite des Stückes verwendeten Formulierung heißen könnte, Werte, die sich auch in Menschenrechten widerspiegeln, wie ließen sich Ideale wie Nächstenliebe, Friedensbereitschaft, Solidarität und darüber hinaus auch gerade von den Religionen weiterzuentwickelnde liberale Positionen wie Emanzipation, kritisches Bewusstsein, Selbstbestimmung des Individuums und Gleichheit von Mann und Frau bei einem auf intellektueller wie populärwissenschaftlicher Ebene zu optimierenden Austausch von Glauben, Naturwissenschaft und Aufklärung nach Möglichkeit von allen Religionen befördern?
Für eine Inszenierung, die sich die zumindest begrenzte „Neuformulierung“ eines Ideengehaltes, eine modernisierte Deutung des Stückes angelegen sein lässt, wäre es ratsam gewesen, durchaus etwas mehr Mut im Hinblick auf Fragen zu zeigen, die im heutigen Zeithorizont verortet sind. Den Titel „'Jedermann' von Hugo von Hofmannsthal“ in einen Titel „'Jedermann' nach Hugo von Hofmannsthal“ umzuwandeln, hätte auch auf der Linie des Zeitgeistes gelegen, und diese Bemerkung ist keinesfalls nur ironisch gemeint.
Wenn sich die Regieführung den Gegenwartsbezug eines aufzuführenden Werkes gerade durch eine experimentelle, „unorthodoxe“ Gestaltung und Rahmengebung (hier eine Konzert-Performance!) zu einem Anliegen von zentralem Stellenwert macht, dann aber die Einrichtung des Bühnenstückes in Aussage und Wirkungsweise z.T. im eher Konventionellen und auch Bekannten stehen bleibt, weil sich ein durchaus auch bedeutsames Exemplar der Theaterliteratur wie im vorliegenden Fall inhaltlich mit Bezug auf „hochmoderne“ Frage- und Problemstellungen verständlicherweise als im Wesentlichen unergiebig erweist, dann zeigen sich die Grenzen einer vom Aktualitätsrausch gesteuerten Inszenierung. Hier wäre dann doch die Frage zu stellen, ob nicht ein etwas bescheidenerer Anspruch letztlich ertragreicher und „erkenntnistheoretisch“ erfolgversprechender gewesen wäre, nämlich das Werk als ein Drama des Autors und nicht als ein Stück in erster Linie – wenn auch implizit - des Regisseurs und des als „Solist“ agierenden Protagonisten zu präsentieren, es vielleicht nicht ausschließlich, aber doch deutlicher in seiner (relativen) Originalität gewissermaßen auch in Hamburg in Erinnerung zu rufen und aus den vielfältigen historischen Bezügen bei etwas vorsichtigerem Aktualitätstransfer inszenatorisch zu deuten. Der sog. „Hamburger Jedermann“, der im Sommer in der Speicherstadt zur Aufführung gelangt, hat nicht den Stellenwert, um hier als Vergleich oder Maßstab herangezogen zu werden.
Gleichwohl: Das Spiel des Hauptdarstellers, der fast alle Figuren des Dramas auf sich vereinigt, war hervorragend und überaus beeindruckend, wie auch vielfach den vom Publikum u.a. auf der Webseite abgegebenen Kommentaren zu entnehmen ist. Es handelt sich um Philipp Hochmair, ihm wird von der Inszenierung in ihrer Spezifik eine enorme schauspielerische Leistung abverlangt. Das Zusammenwirken von Spiel- und Klangwelt war ebenfalls bemerkenswert, wenn auch eine gelegentliche Unausgewogenheit der Phonstärke im Verhältnis von Sprache und Rock-Musik zu konstatieren ist.
Die am Hamburger Thalia Theater dargebotene Inszenierung des „Jedermann“ von Hofmannsthal hat selbstverständlich Recht und Qualität, einen festen Platz im Repertoire des Hauses zu behaupten, zeigt aber in ihrem hinsichtlich Aufmachung und Darbietung ausgeprägten Bestreben nach Zeitgeistanpassung und Aktualitätsbezug in inhalts- und aussagerelevanter Hinsicht kaum innovatives Potential und setzt insofern auch keine neuen Maßstäbe. Demnach sollte bei künftigen Inszenierungen, was das vorliegende Werk anbelangt, die Frage nach einem „Zurück zu Hofmannsthal“ ernsthaft ins Kalkül gezogen werden, um (literatur-)geschichtliches Verständnis und Eigenständigkeit des Rezipienten bei notwendigen geistigen Transferleistungen stärker zum Zuge kommen zu lassen sowie gewisse Tendenzen der Dominanz bezüglich Regietheater und Zeitgeistaffinität zu relativieren.

Michael Pleister, d. 23.01.2015
Leserkritiken: Fabian, Schaubühne Berlin
Erich Kästner: Fabian – Der Gang vor die Hunde, Schaubühne am Lehniner Platz (Studio), Berlin (Regie: Peter Kleinert)

Klar, wir befinden uns im Jahr 1931. Die Weimarer Republik ist am Ende, die Frage ist nicht mehr, ob sie von einer Dikatur abgelöst wird, sondern nur noch wann und von welcher. Aber eigentlich sind wir auch und in erster Linie im Hier und Jetzt. Zu Beginn hält, eingefangen per handy-Kamera, ein Bus vor der Schaubühne und spült eine Gruppe junger Leute aus der (wengleich noch jungen) Berliner Nacht vor ein, wie mehrfach angemerkt wird, doch ein wenig saturierteres Publikum. Natürlich, so sagt uns die launige Eröffnungsansprache, die ein wenig überflüssigerweise die theatrale Situation verankert, wird hier 1931 gespielt und ist doch 2015 gemeint. Immer wieder werden die Darsteller, allesamt Studierende der Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch”, vermeintlich aus der Rolle fallen, über Flüchtlingspolitik, Feminismus und die prekäre Situation junger Menschen am Beispiel des Schauspielberufs sprechen, mal ironisch, dann mit kaum unterdrückter Wut, doch stets angenehm im Ungefähren bleibend, so dass an diesem unterhaltsamen Abend nichts wirklich weh tut.

Das gilt auch für die eigentliche Handlung, die Geschichte des jungen Germanisten Dr. Jakob Fabian, der sich mit einem Werbejob über Wasser hält, in der Berliner Nacht das Leben sucht und am ende wie zuvor schon sein bester Freund Stefan zerbricht. “Berlin hat Fieber”, sagt er einmal, und es ist ein Fieber, das tödlich ändert. Regisseur Peter Kleinert verarbreicht es in homöopatischen Dosen. Eine drehbare Bühnenwand öffnet immer wieder neue Räume, weitere und engere, die mal ein Nachtklub, mal ein Badezimmer, mal eine Zeitungsredaktion sind und in rasanter Abfolge von Episoden Vignetten einer sich zwar immer schneller, aber ausschließlich um sich selbst drehenden Gesellschaft zeigt, die längst jede wirkliche Mitte verloren hat. Ein wirklicher Rausch oder Strudel ergibt sich nicht, die bunten Bildchen, die Regisseur und Ensemble zeichnen, sind nett anzuschauen und schnell wieder vergessen. Das ist mal semirealistisch, oft karikaturesk verzerrt und zeigt stets eine welt, die keinen Sinn mehr kennt. Da sind Nazi und Kommunist ununterscheid- und austauschbar, verbringt der Abend überproportional viel zeit im Zerrbild einer Zeitungsredaktion, die längst jeden journalistischen Ethos über Bord geworfen hat. Der gerade zum “Unwort des Jahres” gekürte Begriff “Lügenpresse” kommt da in den Sinn und bleibt unwidersprochen.

Keine Frage: Man schaut dem jungen Ensemble um Timocin Ziegler, der die Titelrolle spielt und als einziger weder Rolle noch Zeit wechselt, gerne zu bei ihrem lustvollen, blitzschnell Gestus und Ausdruck wechselnden Spiel, das mehr Dynamik bringt, als die ermüdend mechanischen Schauplatz wechselt, bei denen es auch nicht hilft, dass die Bühnendrehung manuell geschieht, die Figuren und Darsteller also selbst zu Regisseuren dieser dann doch immer gleichen Welt werden, bei der eben alles ein Kreis ist und es kein Vorwärtskommen gibt. Das ist dann doch sehr schlicht gedacht, die halbherzigen Gegenwartseinschübe, die ebenso abgetrennt vom sonstigen Bühnengeschehen wirken wie sie unreflektiert Kästners Zeitanalyse einfach in die Jetztzeit zu pappen scheinen, tun ein übriges, dass dieses stets kontrollierte und nie fiebrige Gewusel immer verdaubar bleibt, keine Fragen stellt und letztlich so harmlos ist, dass es beim ersten schritt des Zuschauers in die echte Berliner Nacht verfliegt wie der ausgiebig eingesetzte Bühnennebel. Vor die Hunde geht hier nichts und niemand – nicht einmal die aufgemalten Hundesilhouetten auf der Drehwand.

http://www.stagescreen.de
Leserkritik: Fabian, Schaubühne Berlin
Knapp zwei Stunden lang ist das durchaus unterhaltsam gemacht, auch wenn der Funke von der Bühne nicht so recht überspringen mag: Zu ähnlich sind sich die einzelnen Szenen, für einen richtigen "Tanz auf dem Vulkan" bleibt vieles doch zu brav.

Die umstrittensten Passagen des Abends sind die zahlreichen Momente, als die Schauspieler aus ihrer Rolle treten. Die Monologe, wie prekär die Lage für Schauspieler sei oder ein Seitenhieb gegen Pegida, wurden in manchen Kritiken besonders lobend erwähnt. Die Idee, das Porträt einer komplett verunsicherten Gesellschaft ganz konkret auf die Gegenwart zu beziehen, drängt sich auf den ersten Blick ja auch geradezu auf. In der Umsetzung ist diese Aktualisierung jedoch nicht gelungen, die Einschübe argumentieren zu sehr mit dem Holzhammer und könnten deshalb ersatzlos wegfallen.

Mehr dazu hier: http://e-politik.de/kulturblog/archives/24010-fabian-oder-der-gang-vor-die-hunde-ernst-busch-schauspielstudenten-tanzen-an-der-schaubuehne-durch-das-nachtleben-der-weimarer-republik.html
Leserkritiken: Es sind nur Regeln, die wir brechen, Melchingen
Sibylle Berg schreibt in ihrer Spiegelkolumne über die Morde von Paris: "Viele Kommentatoren suchen immer noch nach Gründen. (...) Eine Hoffnung gibt es nicht. Keiner hat uns Gerechtigkeit versprochen. Die Menschen werden weitermachen wie immer, sie werden sich hassen und töten."

An diese Sätze musste ich denken beim ersten Teil der Uraufführung von ES SIND NUR REGELN DIE WIR BRECHEN von Marc von Henning im Theater Lindenhof in Melchingen auf der Schwäbischen Alb. In einem Verhörraum unter einer trüben Lampe versucht eine Kriminalbeamtin einem verschüchterten Verdächtigen einen Autodiebstahl nachzuweisen. Die Geschichte ist eingebettet in eine andere Geschichte, nämlich die, dass die Schauspielerin, die Tochter der Stenografin sei, die dieses Verhör aufgezeichnet habe und indem sie diese jetzt Szene nachspiele, wir, die Zuschauer, wiederum in der Rolle des Stenografin das Ganze miterleben dürften. Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei dem Verdächtigen um keinen einfachen Autodieb handeln kann, denn nach und nach übernimmt er die Initiative und entwickelt in erschreckender Normalität das vollkommen Abgründige, dem weder die Kommissarin, noch das System das sie repräsentiert, im geringsten gewachsen ist.

Im zweiten Teil nach der Pause ist der Boden übersät von Papierschnitzeln, in deren Mitte ein überdimensionales Geschenkpaket liegt. Zuvor hatte der männliche Schauspieler sich als Sohn einer Lektorin zu erkennen gegeben und davon erzählt, dass seine Mutter immer wieder von ihrer Arbeit abgelehnte Manuskripte nach Hause mitgebracht und im Kreise ihrer Familie daraus vorgelesen habe. Alle diese Geschichten und Dramen, die nie an die Öffentlichkeit gelangen sollten, lagen nun, so scheint es mir, verstreut um das überdimensionale Geschenkpaket auf dem Boden herum und eine davon wird pantomimisch dargestellt. Ein altes Ehepaar verzettelt sich in allem Möglichen und erkennt erst zu spät was sie im Innersten verbindet. Musik und Texteinblendungen und der Geruch in der alten Scheune, in der im Lindenhof Theater gespielt wird, schaffen eine einzigartige poetisch reale Atmosphäre.

Ich hoffe und wünsche dem Theater Lindenhof und dem Stück, dass noch Viele der Weg zu ihm auf die Schwäbische Alb finden werden.

https://www.theater-lindenhof.de/
Leserkritik: Fiesko zu Genua, Dresden
Es ist kompliziert, sagt Intendant Schulz zur Einführung, mit dem Stück und vor allem mit dessem Ende. Auch Schiller war sich nicht sicher, wie das ausgehen solle (eine hübsche Analogie zum Titelhelden) und fertigte – das heutige Regietheater vorwegnehmend - zwei Schlüsse. Man durfte gespannt sein, aber auch annehmen, dass Jan Philipp Gloger in seiner ersten Arbeit am Haus einen eigenen finden wird.

"Explosion"... Von Null auf Hundert in Millisekunden beginnt das Stück mit einem Ausbruch von Leonore als eifersüchtige Gattin des Fiesko, die ungern Bestandteil eines Dreiecks mit Julia sein möchte, auch wenn sich ihr dank Kalkagno eine ähnliche Konstellation böte. Das kracht schon mal ordentlich.

Gianettino versucht derweil, alles klar zu machen mit der Nachfolge von dem Andrea Doria und heuert einen Killer an, um den beim Volke beliebten Fiesko vorsorglich aus dem Weg zu schaffen. Dann öffnet sich die Bühne und gibt statt karger Gasometer-Außenwände einen Saal frei, in welchem sich die geschlossene Gesellschaft der oberen Paarhundert von Genua orgiastisch-bacchantisch vergnügt (nicht nur hier ist der Opern-Backround des Regisseurs deutlich zu spüren). Mittendrin Fiesko, den es von der Politik offensichtlich zu WeinWeibGesang gezogen hat, zur Enttäuschung seiner Freunde. "Harmonie ist (auch) eine Strategie"...

Kronprinz Gianettino (Jan Maak) kommt diabolisch daher und hat neben der Macht noch andere Interessen, z. B. an der Tochter von Verrina, dem Gralshüter der republikanischen Demokratie. Dass dies auf das Unerfreulichste von Erfolg gekrönt ist, führt dann zu einer Art Rütli-Schwur auf Italienisch. Verrina sammelt die Verschwörer um sich - so richtig bedrohlich wirkt das aber nicht, eher wie ein schlechter Mantel-und-Degen-Film.

Fiesko scheint für die republikanischen Zwecke moralisch ungeeignet, er neigt eher der Basis der Bedürfnispyramide zu, die dank Julia, Gianettos Schwester, im verlockendsten Licht erscheint. Deren erster Auftritt ist herrlich affektiert, und auch sonst gibt Karina Plachetka ihrer Rolle eine verspielte Verruchtheit, die nicht nur Fiesko (scheinbar) wehrlos macht. Ihr Duett mit Leonore erinnert stark an jenes von Polly und Lucy aus der Dreigroschenoper, Chapeau, die Damen.

Jener entgeht dem täppisch ausgeführten Attentat und dreht den Mohren Hassan schlicht um, was ihm einen Spion beschert und dem Publikum eine Autoknacker-Pantomime von Feinsten, dargeboten von Thomas Braungardt. Schon hier sind unbedingt die großartigen Kostüme von Eva Martin zu erwähnen, die unaufdringlich-deutlich die Charaktere nachzeichnen.

Hassans Bericht aus dem Volke erzählt von diffusem Unbehagen ohne konkrete Forderungen, nicht erst das „Hum, humhumhum“ zieht eine Parallele zum nahegelegenen Theaterplatz, wo der Bürger neulich seinen Unmut Gassi führte.

Langsam kriecht die Katze aus dem Sack, Fiesko agiert öffentlich als Lebemann, um seine Absichten zu tarnen: "Du musst nicht zeigen, was Du kannst, Du darfst nicht sagen, was Du denkst, man soll nicht wissen, wie Du fühlst"... Der Weg zur Macht führt über die Verstellung. "In diesem Krieg sind alle Tricks erlaubt."

Nur was er macht mit der Macht, ist noch offen. Seine Fabel aus dem Tierreich belegt die Ungeeignetheit der Demokratie für das Volk, andererseits ist er p.c. genug, die Republik zu preisen. "Als wir wiederum nicht wussten, was zu tun, wohin sich wenden, liefen wir stundenlang umher"... Fiesko geht das pragmatisch an: Erstmal die Macht haben, dann mal sehen. Er schlüpft in einen kleidsamen Anzug, stellt mediokratisch geschickt den Anschlag auf sich nach und nistet sich im Herzen der Bürger ein. Gianetto ist in der Defensive, auch wenn er seinerseits am Putsch plant. Ein tolles Tempo im Wechselspiel der Konkurrenten, die Bühne (Marc Bausback) zeigt, was sie alles kann, die Spannung wächst.

Der Aufzug der Verschwörer in Fieskos Heim erinnert an die Olsenbande, aber Fiesko erbarmt sich ihrer, gibt seine Pläne preis und fordert unbedingte Gefolgschaft ein, was den alten Verrina misstrauisch macht.

Doch auch Fiesko ist im Zweifel: Soll er's wirklich machen oder lässt er's lieber sein? Jein... Ein dialogischer Monolog, Schiller scheint sich hier thematisch bei Brecht bedient zu haben (Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?). Der Preis adelt den Betrüger, stellt Fiesko schließlich fest, nachdem er probeweise im Publikum Platz genommen hat, woraufhin auf der Bühne nichts mehr passiert. Christian Erdmann fesselt nicht nur hier allein den ganzen Saal, eine großartige Präsenz, eine spielerisch-ironische Distanz zur Rolle, eine ganz ganz wunderbare Leistung, die den Jupiter, den Antonio, den Oskar und den Weltaufsichtsrat noch einmal übertrifft.

Aber auch Ines Marie Westernströer hält als Leonore mit, der Gegenentwurf zur dekadenten Julia, schrill, laut und dennoch anrührend, nicht nur im Dialog mit Fiesko kurz vor der Pause.

Nach jener ist zunächst zu beobachten, dass der Mohr dem Fiesko über den Kopf zu wachsen droht, seine weitere Verwendung ist kritisch. Die Verschwörer sehen aus wie Putins Freischärler, sind aber bei weitem nicht so gefährlich.

Ein Erotik-Hörspiel auf dunkler Bühne mit überraschendem Ende, Fiesko stellt mit dem Interruptus Julia öffentlich bloß, um Leonore zu versöhnen. Er hat jetzt ein Mikro in der Hand und inszeniert sich als Edelputscher. Der Wille zur Macht hat sich durchgesetzt, aber Leonore ist dagegen: "Sag alles ab, geh einfach weg, halt die Maschine an, frag nicht nach dem Zweck", kleine prallt auf große Welt, Fiesko zweifelt ein letztes Mal, aber zu spät: Die Revolution rollt.

Wie jene in Szene gesetzt wird, ist wieder große Oper (Musik Kostia Rapoport, Licht Jürgen Borsdorf, Choreographie Axel Hambach). Am Ende hängt der Mohr im Hintergrund, Kalkagno (Sascha Göpel betont unmilitärisch) fehlt ein Ohr und Bourgognino (Kilian Land als Draufgänger) hat den Kronprinzen erlegt. Fiesko hielt sich eher raus, nur als ihm nach der Schlacht eine Gestalt im Herzogsmantel erscheint, sticht er sie nieder. Gewonnen.
Leider war letzteres ein Irrtum, im Purpur liegt Leonore, die dann doch am Kampf teilnehmen wollte. Dumm gelaufen, wie gewonnen, so zerronnen, "mein Ruin ist was mir bleibt, wenn alles andere sich zerstäubt, wie eine Welle die mich trägt und mich dann unter sich begräbt"... Totenstille im Saal.
Doch Fiesko motiviert sich erstaunlich schnell raus und erscheint im Herzogspurpur, Leonore ist noch als Märtyrerin von Nutzen.

Aber die Rechnung geht nicht auf: Verrina (Tom Quaas gibt ihn sehr ernsthaft und entschlossen) lässt die Bühne abräumen, da kann Fiesko noch so viel über seine Bedeutung deklamieren. Die Republik in ihrem Lauf hält auch ein Fiesko nicht auf, auch wenn er noch so strampelt wie der letzte Tänzer in der Dorfdisko, das Licht geht an, der Vorhang fällt.
Als er sich dann noch davor produziert, greift die Demokratie zum Revolver. Ende eines Tyrannen, bevor er einer werden konnte.

Ein starker Abend. Gloger leichterte den schillerisch hochtrabenden Text sinnvoll und brachte eine Fassung auf die Bühne, die oftmals an Shakespeare erinnert un die der Berichterstatter gern auf der Don Karlos-Ebene einordnet.
Leserkritik: "Alice" DT Berlin
Nach Lewis Carroll: Alice, Deutsches Theater/Kammerspiele (Junges DT), Berlin (Regie: Nora Schlocker)

Welches ist denn nun das Wunderland? Sicherlich der quietschrosa Bühnenkasten, in den sich aus ein schwarzen Papploch sukzessive 16 Alices schälen, große und kleine, weibliche und männliche, solche, die ihre Pubertät noch vor und andere, die sie bereits hinter sich haben. Doch dann erhellt sich eine andere Dunkelheit, die des Zuschauerraums, plumpst das Publikum quasi durch das Carrollsche Loch und sieht sich bestaunt von den sechzehn, die sich mit großen Augen wundern über die seltsamen Gestalten, die scheu und frech unsere Gesten und Haltungen nachahmen und ausprobieren, die im Gegenüber das eigene Selbst suchen. Sind wir Alice oder sie, sind wir Herzkönigin und Humpty Dumpty oder jene auf der Bühne, sind wir gar die Bühne und sie der Zuschauerraum? Oder sind alle potenziell alles und damit zunächst einmal nichts? Es ist ein ganz starker Anfang, der das Thema des Abends, das sich in der nur einfach klingenden Frage "Wer bin ich?" zusammenfassen lässt, vollkommen wortlos durchdekliniert und als kaum durchdringbares Dickicht erscheinen lässt, jenes Dickicht, durch das sich jeder kämpft, der den langen Weg ins Erwachsensein antritt.

Schnell sind wir in der Alice-Geschichte, in der vieles ist, aber nichts einfach. Multiple Alices ringen mit einander, kommentieren die eigenen Handlungen, die hier jene eines anderen sind, durchlaufen verschiedene Lebensalter, werden von Dritten – die vielleicht auch sie selbst sind Rollen, Identitäten zugewiesen, die sie abweisen. Identität, so sehen wir, brauch immer den anderen, dessen Rolle stets ambivalent bleibt. Eindrucksvoll die Szene, in der einer der Spieler, Valentino, das eigene Ich im Ausschlussverfahren sucht. Er probiert jene der anderen fünfzehn aus und findet jede nicht so recht passend. Am Ende zurückgeworfen auf sich selbst, ist er jedoch alles andere als glücklich. Die Ich-Frage ist längst nicht beantwortet, die Sehnsucht nach einer einfachen Definition der Marke "Ich bin Bjarne", die Orientierung an einer – vermeintlich – klaren Rollenvorgabe, nicht gestillt. "Ich bleibe hier unten und warte, bis ich jemand anders bin", ist einer der klügsten und zugleich bittersten Sätze des Abends.

Der sich in der Folge lustvoll in Lewis Carrolls zwei Alice-Bücher stürzt, Geschichtenfetzen ausprobiert und sich virtuos in Identitätsversuche unterschiedlichster Art wirft. Da werden Lebensphasen – die frühe Kindheit, das erste Verliebtsein, die eigene Familiengründung – angedeutet und liebevoll als gesellschaftliche Muster ironisiert, geht es immer um den Blick des anderen, der Identitäten vorgibt, an denen man sich abarbeitet. Alice, charakterisiert durch die Farbe Rosa, reduziert sich weitgehend auf die Beobachterrolle, die das lernende, werdende Ich stets auch einnimmt. Das Ausprobieren von Ich-Optionen bleibt zentrales Mittel: etwa mittels einer riesenhaften Puppe eines dicken Mannes, die sich die Spieler – im Wortsinn – einverleibt, kein angenehmer Zeitgenosse, dessen Machtspiele man zwar wegwirft, aber doch nicht ganz abstreifen wird. Grausamkeit – in ihrer kindlichen wie in "erwachsener" Form – bleibt eine Präsenz, mit der die Ich-Sucher umgehen müssen. Ob sie als Schweine dem Futter hinterherjagen, als Baby die Mutterbrust suchen, sich im Heulwettstreit zu überbieten suchen oder sich nach begangener Tat zum grinsenden Familienbild aufreihen: Stets geht es darum, vorgefertigte Bilder anzunehmen oder zu konterkarieren, sich mit Rollenvorgaben auseinanderzusetzen – los kommen sie von ihnen nicht. Und wenn sie später eigene Bilder malen, ein selbstbild, ein Ich-Verständnis entwickeln, dann ist das ohne das vorherige Ringen mit dem Fremdbild nicht denkbar.

Es ist ein lustvoller, im besten Sinne spielfreudiger Abend geworden, der genüsslich Ich-Entwürfe durchspielt, ins Lächerliche zieht, als Steinbruch nutzt, um das Grundproblem des modernen Menschen, die Frage nach dem Ich , der eigenen, natürlich ganz individuellen Identität, durchdekliniert und auf Normalmaß zurechtstutzt. Ja, der Abend hat seine Längen, verliert sich zuweilen in der eigenen Spielbegeisterung, manche Szene ist Selbstzweck, der eine oder andere Spieler ein wenig überdreht. Auch die Ausgangsidee der Spiegelung von Bühne und Publikum, das Zurückwerfen des Zuschauerblicks, wird in immer angestrengteren Publikumseinbeziehungsversuchen mehr Krampf als Erkenntnismittel, die vierte Wand hat Risse, aber sie steht. Und doch ist es gerade das zuweilen ziellos erscheinende Spiel, das Suchen ohne Kompass, das lustvolle Sich-Stürzen ins Ungewisse, das den Abend nicht nur durchgängig unterhaltsam macht – sondern dann eben doch einen präzisen und faszinierenden Spiegel des seltsamen Prozesses der eigenen Identitätsfindung bietet, der dann auch auf uns „Erwachsene“ zurückfällt. Denn wenn wir glauben, er sei irgendwann abgeschlossen, das kindliche Suchen vorbei, dann sind wir es, die im Wunderland hängen geblieben sind und hoffen, dass wir niemals aufwachen.

www.stagescreen.de
Leserkritik Fiesko zu Genua, DD: sehenswert
Sehenswert!

http://www.eckhard-ullrich.de/theatergaenge/1675-schiller-die-verschwoerung-des-fiesko-zu-genua
Leserkritik: Romeo und Julia (I), Thalia Theater Hamburg
Regietheater: publikumswirksam, zeitgeistkonform, neokonservativ?
„Die Tragödie von Romeo und Julia“ v. W. Shakespeare, inszeniert von Jette Steckel am Thalia Theater Hamburg
Regie: Jette Steckel
Premiere: 6. September 2014
Wenngleich es problematisch sein kann, zum Zweck der Qualifizierung von Situationen, Gegenständen, Sachverhalten, auch von Ideen, Gedanken, kreativen Handlungsoptionen Adjektive im grammatischen Superlativ in Gebrauch zu nehmen, also mit Bezug auf belebte oder sachbezogene Wirklichkeit von der jeweils besten, schönsten oder höchsten Erscheinungsform bzw. Qualität zu sprechen, so erweist es sich gleichwohl als nicht ganz abwegig, das vorliegende Drama mit Blick auf den Autor und dessen weltumspannende Bedeutung für die Literatur- und Kulturgeschichte, mit Blick auf die ästhetische Qualität, auf die Aufnahme durch Publikum und Literaturkritik sowie auf die bereits realisierten Adaptationen als „größte Liebesgeschichte aller Zeiten“, wie es auf der Webseite des Bühnenstückes wiedergegeben wird, zu bezeichnen – und dies, es sei noch einmal wiederholt, bei aller Vorsicht gegenüber Superlativen. Die Rezeption des vorliegenden Werkes ist nicht zuletzt aufgrund seiner Berühmtheit ebenso umfangreich wie differenziert. Viele Aspekte, Ideen und Gedanken, die im hier kommentierten Drama angelegt oder verwirklicht sind, die es suggeriert oder insinuiert, sind im Laufe der Zeit bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung durch Inszenierungen, Nachdichtungen und Bearbeitungen zum Tragen gekommen. Insofern dürfte es schwierig sein, einem literarischen Kunstwerk, hier einem Theaterstück, das über Bedeutungszuweisungen, seine Eigengesetzlichkeit und ästhetische Qualität, über die Rezeptionsgeschichte sowie den Stellenwert des Autors eine scharfe, wenngleich keinesfalls apodiktische Prägung bezüglich Aussage, Gehalt, Struktur und Relevanz erfahren hat, in einer notwendigerweise von Kreativität geleiteten Absicht Züge und Ausdrucksformen moderneren, zeitgemäßen Zuschnitts zu verleihen, die dem Qualitätsurteil einer u.U. gelungenen Gesamtpräsentation den Boden bereiten, d.h. eine reelle Chance geben. Angesichts der inhaltlichen wie interpretatorischen Komplexität des hier mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten Werkes erscheint es durchaus berechtigt, sich ihm aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern, was auf der entsprechenden Webseite dem Publikum unter Hinweis auf die Regieführung von Jette Steckel als etwas im vorliegenden Fall bereits Umgesetztes avisiert wird. Es multiperspektivisch in Augenschein zu nehmen, so z.B. von der theatralen und hier auch musikalischen Seite, scheint ebenso folgerichtig wie angemessen, in theoretisch-verallgemeinerungsfähiger Hinsicht auch notwendig zu sein. Dann aber in concreto eine sog. physische Seite, wie es der Text der bereits erwähnten Internetpräsenz des Theaterstückes auszudrücken pflegt, ins Spiel zu bringen und sie ihrerseits mit einer „Massenbewegung“ (Webseite) zu verknüpfen, besser gesagt zu identifizieren, mit einer Massenbewegung, die über die Indienstnahme von 40 jungen Leuten im Stück erfahrbar gemacht wird, erweist sich gegenüber der Shakespeare‘schen Textvorlage doch als recht eigenwillig. Denn die Darsteller stehen ebenfalls für die beiden Titelhelden – das Personenregister des Programmhefts macht dies deutlich - und geben damit einen Fingerzeig auf eine allgemeinere, wenngleich nicht ganz unproblematische Identifikationsperspektive. Die Liebesbeziehung von Romeo und Julia eher unbedarft als übertragbar auf den heutigen Durchschnittsmenschen zu deuten, dürfte sich schnell als naive Einschätzung des bekanntlich subtilen Verhältnisses von Realität und literarischer Darstellung erweisen. Dagegen ist es notwendig, das vorliegende Drama sehr wohl – bewusst abgesehen von Fragen nach Applikation und Transfer bezüglich menschlicher Daseinsformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts - in seiner Lebensechtheit, seinem Realitäts- und Weltbezug zu begreifen, fungiert doch die realistische Komponente des Werkes auch als Grundlage für vielfältige, gerade vom Rezipienten anzustellende Reflexionen auf abstrakter Ebene.
Fortsetzung folgt!
Leserkritik: Romeo und Julia (II), Thalia Theater Hamburg
Romeo und Julia/ Fortsetzung

Das Drama handelt mit dem Thema „Liebe“ nicht nur von einem in der Natur des Menschen liegenden, genetisch bedingten oder, anders gesagt, naturwüchsigen Element anthropomorpher Existenzform, vielmehr steht das Liebesverhältnis, um das es hier geht, im Zeichen spezifischer gesellschaftlich sowie kulturell konditionierter Bezugsfelder, genauer gesagt, unter dem Verdikt ungünstiger Voraussetzungen in sozialer Hinsicht, im Einflussbereich menschlicher Feindseligkeiten, sich auf die Aktionsmöglichkeiten der Titelfiguren hemmend auswirkender Handlungskonstellationen sowie verhängnisvoller Zufälle. Die Beziehung von Romeo und Julia ist, um etwas modernere Begrifflichkeit in Anschlag zu bringen, eingebettet in ein unheilvolles Geflecht gesellschaftlicher Zwänge, in ein Netz systemimmanenter Verhaltensweisen, Denkstrukturen sowie systemkonformer Handlungsschritte der die beiden Protagonisten umgebenden Zeitgenossen. Etwas schlichter gesagt, auch ein wenig plakativer, überdies dem eher herkömmlichen Sprachduktus verpflichtet: Jenes Liebesverhältnis steht im Spannungsfeld einer alle Fesseln und Begrenzungen sprengenden Selbstbehauptung einerseits und einer sich z.T. destruktiv sowie menschenfeindlich gerierenden gesellschaftlichen Wirklichkeit andererseits.
Und was ist schließlich festzuhalten? Zunächst einmal das, was mit den hier zuletzt fixierten Sätzen ausgedrückt werden sollte. Die Liebe in ihrem Anspruch auf Unbedingtheit und seelische Grenzenlosigkeit - Eigenschaften und Zielsetzungen gleichermaßen, die nicht zuletzt aus den Gefühlsdispositionen der beiden Hauptfiguren resultieren – scheitert unweigerlich an Konstellationen und Konventionen sozialer Strukturen, an der Missgunst von Menschen sowie an tragischen Irrtümern und Unwägbarkeiten. In diesem Zusammenhang sei zur Kenntnisnahme eines weiterführenden, jedoch z.T. gegensätzlichen Gedankens auf eine Formulierung hingewiesen, die sich in der kurzen Einführung auf der Webseite des Bühnenstückes findet und trotz ihrer Unscheinbarkeit nicht unbeachtet bleiben sollte. Die entsprechende Textstelle lautet: „Die große, alles sprengende Liebe erweist sich in der Bereitschaft, für die Liebe zu sterben. Sie scheitert nicht am feindlichen Umfeld – sie braucht es.“ (Webseite)
Die Tragik des Unterganges beider Protagonisten nicht eindimensional kausal aus mangelnder Berechenbarkeit sowie aus der Brutalität äußerer Umstände zu begreifen, sondern eher korrelativ zu erfassen, d.h., die hier in Rede stehende Liebe in ihrer Apologie und Apodiktik nach Maßgabe einer gewissen Verallgemeinerungsfähigkeit möglicherweise als abstrakten Absolutheitsanspruch schlechthin zu interpretieren, der ein abweisend reagierendes Umfeld geradezu sucht und insofern auf den gesellschaftlichen Widerspruch offensichtlich angewiesen ist, um den Menschen, hier die beiden Haupthelden, am Zwiespalt von „Anspruch“ und „Wirklichkeit“, „kategorisch“ und „vergeblich“ letztlich zugrunde gehen zu lassen, wird durch das oben angeführte Zitat ebenso suggeriert wie bestätigt. Jene Textstelle - wenn auch im ersten Teil ihres zweiten Satzes fragwürdig der dort ausgesprochenen spezifischen Negierung wegen („Sie scheitert nicht am feindlichen Umfeld“), so doch interessanterweise zugespitzt in den letzten drei Worten („sie braucht es“) - weist zurück auf die eigentliche Tragik, die bekanntlich in der Regel als Untergang des Helden im Spannungsfeld widersprüchlicher Wirkungsareale menschlichen Denkens und Handelns, um es zum Zwecke weitgefasster Praxistauglichkeit bewusst allgemein auszudrücken, definiert wird. Dies, nämlich die eigentliche Tragik des Stückes trotz der in der Sekundärliteratur gelegentlich verwendeten Bezeichnung „Trauerspiel“ statt „Tragödie“ deutlich herauszupräparieren, sollte ein Hauptanliegen jeder Inszenierung auch im Jahre 2015 sein.

Fortsetzung folgt!
Leserkritik: Romeo und Julia (III), Thalia Theater Hamburg
Romeo und Julia/ Fortsetzung und Schluss

Im Kontext von Inhalt und Aussage wird in „Romeo und Julia“ auf spezifische Weise, letztlich auf abstrakter Ebene auch die sich in der Tragik, in Debakel und Katastrophe offenbarende, im Übrigen erschütternde Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit exemplifiziert, wobei das Ideal selbst nicht der Destruktion anheimfällt, sondern in Gestalt einer Utopie bestehen bleibt („Aber ihre Liebe währt ewig“/Webseite) und der gesellschaftlichen Entwicklung stets vorauseilen dürfte. Auch wenn sich diese Einsicht vielleicht nicht sonderlich originell ausnimmt, so sollte doch die von ihr im Hinblick auf das Drama implizit angesprochene Ambivalenz und Differenziertheit von inhaltlicher Struktur, Beschaffenheit und Aussage bei späteren Inszenierungen und Adaptationen beachtet werden. Beide Eigenschaften – Ambivalenz und Differenziertheit, hier auch als Qualitätsmerkmale zu verstehen - gehen unter der Regie von Jette Steckel, die letztlich zu eindimensional auf Jugendaffinität setzt, offensichtlich die sinngemäße Übertragbarkeit inhaltlicher Aspekte und Positionen auf gegenwärtige Verhältnisse vorwiegend im Blick hat, alles in allem auf Anwendbarkeit, Publikumsgeschmack sowie - damit verbunden - auf Zeitgeistkompatibilität zielt, zumindest teilweise verloren. Die Applikationstendenzen der Inszenierung - und die Eigendynamik der Regieführung hätte mit dem Zusatz „nach Shakespeare“ statt „von Shakespeare“ auch im schriftlichen Begleitmaterial deutlich gemacht werden können –, jene Absichten der Übertragbarkeit und Anwendung werden gerade von den jüngeren Theaterbesuchern erkannt, wie mancher Verlautbarung unter der Rubrik "Rezensionen der Thalia-Schülerbotschafter“ auf der entsprechenden Webseite explizit oder auch nur implizit zu entnehmen ist.
Wenngleich die von Jette Steckel zu verantwortende Inszenierung des weltberühmten Dramas Schwächen und Unzulänglichkeiten zu erkennen gibt, so erweisen sich einige Abschnitte als durchaus eindrucksvoll, insbesondere dort, wo dem gesprochenen Wort in seiner poetischen Qualität und der Musik in etwas dezenterer Einspielung Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden.
Die Schauspieler stellen ein hohes Maß an Professionalität unter Beweis, ihr Spiel fügt sich glänzend in den „Habitus“ der Inszenierung ein. Diese allerdings ist – wie bereits angedeutet – mit Vorsicht zu genießen: Wortwitz, Slapsticks und Komik erweisen sich manches Mal als deplacierte Albernheiten und lassen die „Tragödie von Romeo und Julia“ in gefährliche Nähe zum Trivialen und Banalen, gelegentlich überhaupt auf die Ebene eines gehobenen Unterhaltungsstückes geraten. Dies ist einer sich als Regietheater erweisenden Darbietung geschuldet, die bei all ihrer äußerlichen Eigenwilligkeit, all ihren z.T. extremen Turbulenzen kaum Erschütterung oder Potenzial kritischer Nachdenklichkeit generiert, vielmehr auf postmodernes Spiel, Zeitgeistanpassung, insofern indirekt auf (kultur-) politische Bewusstseinskonformität ausgerichtet ist und sich damit letztlich als ein eher neokonservatives Paradigma gesellschaftlicher Realität entpuppt.

Dr. Michael Pleister, 05.03.2015
Leserkritiken: Die Verwandlung/DT Berlin
Nach Franz Kafka: Die Verwandlung, Deutsches Theater/Box (Junges DT), Berlin (Regie: Miriam Scholl)

Drei Ebenen versucht Scholl in die Darstellung einzuziehen: Neben der Sprache sind das Musik und ton sowie Bewegung. Doch weit davon entfernt, drei unterschiedliche, miteinander interagierende Narrative zu schaffen, darf der Text dominieren und ist alles andere pure Begleitung und Illustration. So werden die Bewegungszustände Gregors nachgeahmt , zum Teil auf mehrere Figuren verteilt, vielleicht ein wenig stilisiert – das bloß Illustrative verlassen sie kaum. Da fällt es schon as dem Rahmen, wenn die Vergrößerung des Bewegungsspielraums Gregors mit der Verteilung der einzelnen Teile des Schlagzeugs im Raum dargestellt wird. Damit ist der Höhepunkt der Abstraktion aber schon erreicht. Dem gegenüber steht die ausgefallene Idee, das Handlungselement den Umräumend von Gregors Zimmer durch Mutter und Schwester darzustellen, indem man, ja, die Bühne umräumt. Theater als Umzugsunternehmen.

Der Musik ergeht es nur wenig besser: Auch die musikalische Ebene überscheitet so gut wie nie den Bereich des Illustrierende. Höchstens noch dürfen Stimmungen musikalisch angedeutet werden, setzen Eskalationen auf Dissonanzen, während Momente der Resignation in stille Fragmente mit Klavier oder Harfe münden. Dem Lesungscharakter des Abends tut das wenig Abbruch. Und so stehen der zunehmenden Einfallsarmut und dem Scheitern einer mehrdimensionalen Erzählung am Ende nur noch der Enthusiasmus der Spieler und das Rutschen der Matratzen entgegen. Und doch macht es Spaß zuzusehen, wie sich die sechs in den Text werfen, mit ihrer Stimme, ihrem musikalischen Talent, ihren Körpern. Wenn in diesem Abend noch so viel mehr drin wäre, liegt es zumindest an ihnen nicht.

Mehr: https://stagescreen.wordpress.com/2015/03/15/aufraumen-mit-kafka/
Leserkritiken: Elektra, Berlin
Corinna Harfouch tritt nach vorne und setzt zu einer etwas umständlichen Einführung zu ihrer Elektra-Matinee an. Sie hätten zwei Alternativen vorbereitet, sich nun kurzfristig für eine Textcollage mehrerer Autoren entschieden statt sich ganz auf Hugo von Hoffmansthals Bearbeitung, das Libretto der Strauss-Oper, zu konzentrieren.

An der Elektra reize sie die Unerbittlichkeit, mit der sie in den Wunden bohre und die Verbrechen der Klytemnaistra und des Aigisthos anklage. Sie stemme sich gegen den Versuch, das begangene Unrecht unter den Teppich zu kehren, und habe ihr ganzes Leben der Rache verschrieben. Sie “nerve” und sei “niemand, den man gerne zum Kaffee einlade”, meint Harfouch, aber ihr ständiges Mahnen habe eine wichtige und tief beeindruckende Funktion.

Zum Ende ihrer knappen Vorrede verhaspelt sie sich kurz, wünscht einem Gast, den sie persönlich begrüßt, einen “Guten Abend”, korrigiert sich schnell und beginnt dann ihr knapp einstündiges Solo.

Plötzlich wirkt sie verwandelt: eben noch nervös und unsicher, geht sie ganz in der Rolle der Elektra auf. Mal aggressiv donnernd, mal vorsichtig tastend trägt sie Fragmente aus den verschiedenen literarischen Bearbeitungen der vergangenen Jahrtausende vor. Aischylos und Sophokles, zwei der Großmeister der griechischen Tragödie, mischt sie mit neuzeitlichen Annäherungen von Hugo von Hoffmannsthal, Gerhart Hauptmann, Jean-Paul Sartre und Jean Giraudoux.

Ein fulminanter Auftritt einer großen Schauspielerin!

http://e-politik.de/kulturblog/archives/24455-corinna-harfouchs-fulminante-elektra-collage-kammerspiele-matinee-am-dt.html
Leserkritiken: Blutsbrüder, Volksbühne Berlin
"Blutsbrüder - Cliquenturbo nach Ernst Haffner", Volksbühne, 3. Stock

"Cliquenturbo nach Ernst Haffner": Dieser Name ist Programm: In hoher Schlagzahl tobt das Ensemble über die kleine, nur mit einem Baugerüst und einem alten Röhrenfernseher ausgestattete Bühne. Die jungen Männer (und wenigen Frauen) schreien ihre Verzweiflung heraus, sie schlagen sich ins Gesicht und mehr oder minder erfolgreich durchs Leben. Wenn sie nicht gerade qualmend in Kneipen herumhängen, versuchen sie, sich mit Schneeräumen, Schuhreparaturen oder als Stricher über Wasser zu halten.

Diese Tour de force ist örtlich und zeitlich sehr klar verortet: die Handlung spielt wie in der Romanvorlage im Scheunenviertel rund um die Volksbühne – abgesehen von kurzen Ausflügen in den Westen der Stadt (Tauentzien, Kudamm). Dieses Berlin in der Spätphase der Weimarer Republik ist eine “Vorhölle”. Gewalt, soziale Verwerfungen, Perspektivlosigkeit bilden den Nährboden für den Faschismus.

Die Studenten aus dem aktuellen Abschluss-Jahrgang spielen mit großem Einsatz, Gabriel Schneider ragt als einer der beiden Hauptdarsteller neben dem Volksbühnen-Ensemble-Mitglied Patrick Güldenberg heraus. Dennoch ist das Ergebnis nicht ganz überzeugend: zu sehr drängt sich der Eindruck auf, dass Klink dem Noch-Hausherrn Frank Castorf nacheifert. Eingespielte und zum Teil live auf der Bühne gedrehte Videos, eine Überlänge und eine “wilde Folge von Sauf-, Prügel-, Klau- und Sexszenen”, wie es das "Neue Deutschland" lakonisch zusammenfasst hinterlassen den schalen Eindruck, dies alles schon vielfach gesehen zu haben.

So bleibt als Fazit ein trotz einiger Längen unterhaltsamer Abend, dem aber Biss und Einfallsreichtum fehlen, um bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Mehr dazu hier: http://e-politik.de/kulturblog/archives/24548-blutsbrueder-ernst-busch-schauspielstudenten-schlagen-sich-durch-das-berlin-der-weimarer-republik.html
Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil I
Hier gibt es Sprechbühne statt Regietheater!
„Die Brüder Karamasow“ nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij am Thalia Theater Hamburg
Regie: Luk Perceval
Premiere: 30. April 2013
Wenn auf der Webseite sowie im Programmheft (S.5) jenes Bühnenstückes, das derzeit am Thalia Theater Hamburg aufgeführt und hier im Folgenden mit einem Kommentar bedacht wird, in Bezug auf dessen literarische Vorlage von einem “monumentalen Roman“ die Rede ist – und diese Zuweisung von Qualität bzw. Beschaffenheit entspricht nachweislich der Wirklichkeit –, dann deutet sich an, mit welch schwieriger Aufgabe derjenige befasst ist, der in diesem Fall eine Version für die Bühne in Angriff zu nehmen sich anschickt. Worte wie „Quintessenz seines gesamten literarischen Schaffens“, bezogen auf den Dichter des vorliegenden Werkes, oder „Klassiker der Weltliteratur“ weisen ebenfalls in die Richtung einer sich hier mit der Inszenierungsabsicht verbindenden Aufgabe von hohem Anspruch, was den Umfang des zu bearbeitenden Stoffes, die inszenatorische Ergiebigkeit und literaturästhetische Qualität von „Produkt“ und Vorlage anbelangt. Die „große(n) Themen der Menschheit“, wie es in dem Text auf der Webseite des Stückes heißt, „die ewige Feindschaft der Brüder, de(r) Konflikt zwischen Vater und Sohn, de(r) Kampf der Geschlechter, und nicht zuletzt das Ringen um Sinn und Moral, tief verankert in Gewalt, Blut und Mord“, diese „Themen“, z.T. wohl eher Motive, wecken beim Rezipienten hohe Erwartungen und richten dessen Aufmerksamkeit selbstverständlich zugleich auf die Frage, inwieweit es dem Regisseur gelingt, die Überzeugungskraft eines sich aus der Lebensfülle inhaltlich konstituierenden Romans – zugleich ein Meilenstein seines Zeichens in der Literaturgeschichte – mit den Mitteln des Theaters zu realisieren, d.h. mit einer Inszenierung, die sich notwendigerweise dem Aspekt origineller Wirkungsmacht als Maßstab für den Ausweis eigener Qualität verpflichtet fühlen sollte.
Während in ein Werk der Epik vom Schlage eines über 1000 Seiten umfassenden Romans, d.h. in ein Werk der sog. Großepik, eine Fülle von Gesichtspunkten, Faktoren und Elementen bezüglich Zeichnung und Charakteristik der agierenden Figuren, hinsichtlich Handlungsschritten, Denkweisen, Empfindungen und Ideologien, überdies auch mannigfache sprachästhetische Aspekte der Gestaltung einfließen, geht es in einer Adaptation für das Theater doch gezielt darum, das ausgewählte und damit der entsprechenden Inszenierung zugrunde liegende Werk einer anderen Literaturgattung als der des Dramas in seiner inhaltlichen Konstellation zunächst im Hinblick auf eine erträgliche Dauer der angestrebten Aufführungspraxis, damit gleichzeitig hinsichtlich einer angemessenen Zeitspanne für die Mobilisierung der dem späteren Publikum abzufordernden Wahrnehmungs- und Aufnahmepotenziale zu begrenzen, und das wiederum macht es notwendig, manche inhaltlichen Aspekte der Vorlage – schlicht gesagt – wegzulassen. Und was bedeutet dies im Falle des vorliegenden Projekts?
Die Regie lässt es sich angelegen sein, was speziell die Bearbeitung des Romans von Dostojewski für dessen Einrichtung als Bühnenstück angeht, inhaltlich zu sondieren, dementsprechende Kürzungen und Straffungen vorzunehmen, sich auf Relevantes zu konzentrieren sowie manche Textpositionen zu akzentuieren, dabei aber der Vorlage insgesamt in Struktur und Aussagekraft gegenüber soweit Achtsamkeit walten zu lassen, dass es für den Titel des Theaterstückes durchaus zu Recht heißen kann „nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij“.

(...)
Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil II
(...)

Wenngleich also der Ausgangstext für die Umsetzung in ein Oeuvre der Bühnenkultur berechtigterweise nicht unerheblich reduziert wurde, so leben offensichtlich Geist und Atmosphäre, die sich inhaltlich mit dem, was den Kürzungen zum Opfer gefallen ist, verbinden, in der Gesamtanlage des Werkes fort. Dies findet in der Presse (Die Zeit) mit einem Kommentar, der auf der Webseite des Dramas nachzulesen ist, seine Bestätigung: „Luk Perceval und Susanne Meister haben den Text rabiat gekürzt und vieles weggelassen, und doch hat man den Eindruck, das Gekappte und Verworfene sei nicht verloren, sondern im dunklen Raum noch „da“ und könne von den famosen Spielern jederzeit zurückgeholt (…) werden.“
Die Einschätzungen des Publikums, soweit sie der Internetseite zu entnehmen sind, setzen in der Gesamtbewertung zwar nicht durchgängig, aber doch z.T. - verständlicherweise - unterschiedliche Schwerpunkte bzw. variieren, widersprechen sich gar gelegentlich in den Qualitätszuweisungen: Was dem einen Zuschauer Langeweile bereitet, gereicht dem anderen zur Anregung, zur Steigerung von Aufmerksamkeit oder Spannung. Für eine angemessene Interpretation und damit natürlich auch für eine Beurteilung von Inszenierungen bzw. Adaptationen der vorliegenden Art dürfte es gerade angesichts der Gesellschaft heute, die im Zuge elektronischer Visualisierungszwänge zunehmend rezeptiver Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit ausgeliefert ist, stets im Sinne von Solidität und Sorgfalt geboten sein, den Ausgangstext des jeweils bearbeiteten Stoffes im Blick zu haben, sich mindestens auf Inhaltsangaben sowie Interpretationsansätze zu beziehen, wie sie in der einschlägigen Sekundärliteratur, nicht zuletzt in anspruchsvolleren Nachschlagewerken manifest sind. Und dies in erster Linie zum Zwecke einer dem Rezipientenurteil, speziell seiner im Allgemeinen wünschenswerten Besonnenheit verpflichteten, im Übrigen zuweilen unter Zeitdruck stehenden Wahrnehmung sowie Verinnerlichung des relevanten Stoffes, insbesondere was entscheidende inhaltliche Zusammenhänge, stilistische Gesichtspunkte, literaturästhetische Ansprüche, Fragen zum Verhältnis von Inhalt und Form sowie Hinweise in Richtung Weltdeutung und Interpretationsansätze unter dem Aspekt literarhistorischer Einordnung anbelangt.

(...)
Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil III
(...)

Angemessene Einfühlung, produktives Sich-Hineinversetzen in Gehalt und Strukturen des vorliegenden Romans allein schon in dem Maße, wie es für die Bearbeitung des Stoffes im Rahmen einer anderen Literaturgattung, hier also für die Aufführung am Theater, geboten erscheint, erweisen sich unter dem Akzent einer ebenso emotionalen wie intellektuellen Aufnahmebereitschaft der Akteure, die die entsprechende Inszenierung mit Leben zu erfüllen haben, sowie unter Inaugenscheinnahme des Publikums, das im Zuge des jeweiligen Theaterabends das „Ergebnis“ nachvollzieht, als ambitionierte Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, soll doch das ganze Projekt, womöglich mit dem Ruch der Vermessenheit verbunden zu werden, nicht unnötig in Gefahr stehen. „Gewagt, aber gelungen“ ließe sich frei formulieren in Anlehnung an den auf der Webseite des Stückes wiedergegebenen Kommentar in „Spiegel online“, der dort auch mit einem Hinweis auf den entsprechenden „Kraftakt durch kluge Regie und ein Star-Ensemble“ versehen ist. Das Stück lebt in der Lesart des Ausgangstextes wie auch der Bühnenfassung - und hier ganz besonders - von der Kraft des Wortes, um es ein wenig ebenso plakativ wie schlicht auszudrücken, und insofern ist die auch in manchen Presse- wie Publikumskommentaren lobend hervorgehobene hohe Qualität der Monologe und Dialoge durchaus zu bestätigen. Dass zuvörderst Wort, Satz und Text Aussagekraft und Ausdruckswillen des Stückes tragen, wird durch die mit Blick auf Bühnenbild, Accessoires und Requisiten als eher dezent zu charakterisierende Ausstattung der Szenerie untermauert. Bei Erwägung gerade der letztgenannten Aspekte inszenatorischen Wirkens und theaterspezifischer Darstellungsformen - Dominanz verbaler Ausdruckskraft sowie szenische Ausstattungsreduzierung - wäre wohl eher eine behutsame Einschätzung und Beurteilung von Handlung, Bühnenbild sowie Sprache gerade auch im zweiten Teil des Stückes angemessener als ein Urteil, das sich allzu eilfertig – und dies ist eine Anspielung auf die eine oder andere Meinungsäußerung vonseiten des Publikums - auf eine Herabwürdigung der Regie mit den Worten „langweilig“ oder „uninteressant“ kapriziert.
Schließlich ist die Arbeit der Darsteller zu würdigen, hierüber ist schon manches gesagt, wie sowohl den Publikumskommentaren als auch den Pressestimmen auf der entsprechenden Webseite zu entnehmen ist. Es liegt auf der Hand, im Zentrum der vorliegenden Bühnenfassung die hervorragende Leistung der Schauspieler zu sehen, deren Einfühlungsvermögen, deren Konzentration und ausgeprägte Sensibilität in der Wahrnehmung ihrer Rollen, vor allem auch deren Sprachgestus dem Theaterstück von geradezu epischem Charakter Ausdrucksstärke und Überzeugungskraft verleihen oder, um es selbst ein wenig poetischer zu sagen, der Romanadaptation „Leben einhauchen“. Diese wiederum lässt – und damit ist sie natürlich dem Ausgangstext verpflichtet - in ihrem Ernst und ihrer Schwere die tiefen Spuren extremer Situationen menschlichen Daseins, des damit verbundenen Leides und Schmerzes, überhaupt die ganze Härte der Lebenstragik, die allzu häufig um das Thema „Schuld“ kreist, anschaulich werden.

(...)
Leserkritiken "Brüder Karamasow", Hamburg – Teil IV
(...)

Auf Einladung wurde das Bühnenstück im Oktober 2013 auch in Russland aufgeführt, und zwar im Baltic House Theatre-Festival in St. Petersburg. Dabei ergingen sich die Pressestimmen aus Russland in Wohlwollen und Zustimmung, z.T. in Begeisterung, soweit dies auf der Website des Thalia Theaters festgehalten ist. Allein damit wird deutlich, dass man sich gegenseitig Respekt und Anerkennung zollt, was – wenn auch eigentlich selbstverständlich - als Zeichen der Hoffnung gesehen werden kann in einer Zeit, die damals schon einen spürbaren anti-westlichen Affekt seitens russischer Herrschaftseliten zunächst im Zusammenhang des sich anbahnenden Ukraine-Konfliktes (Assoziierungsabkommen mit der EU) erkennen ließ, mittlerweile durch Spannungen und Turbulenzen auf internationalem Terrain schlechthin gekennzeichnet ist. Offensichtlich gibt es – und dies sei in etwas ebenso abstrahierender wie verallgemeinernder Absicht angemerkt - auf bi- wie multinationaler Ebene immer wieder Bereiche menschlichen Zusammenwirkens, die sich als weitgehend immun erweisen gegenüber politischer Propaganda, Manipulation und Infiltration - vor Kurzem mit Blick auf Osteuropa noch auf dem Hintergrund mancher unheildrohender martialischer Gedanken- und Wortspiele, in welchen Abstufungen und auf welcher geographischen sowie politischen Seite auch immer.
Der vorliegende Kommentar soll nicht abgeschlossen werden ohne ein Resümee, das sich bezüglich der hier besprochenen Aufführung zu dem Qualitätsurteil einer überzeugenden Leistung versteht, und zwar in doppelter Aufmerksamkeitsrichtung sowohl auf die literarische Vorlage - hier wäre selbstverständlich von einer überragenden Leistung zu sprechen - als auch auf die Adaptation für die Bühne und damit auf das „Weiterleben“ einer Reihe aussage- wie ausdrucksrelevanter Elemente im Gestaltungs- und Wirkungshorizont der vorgängig in den Blick genommenen Inszenierung.


Dr. phil. Michael Pleister, d. 12.04.2015
Leserkritik: Saddam Hussein – A Mystery Play, Berlin
Einen schwächeren Eindruck als "The Civil Wars" hinterließ "Saddam Hussein – A Mystery Play" von Yonatan Levy aus Tel Aviv, das während des F.I.N.D.-Eröffnungs-Wochenendes im Schaubühnen-Studio zu sehen war. Die knapp einstündige Performance mit vier Akteuren hat ihren Ausgangspunkt bei einer in vielen politischen Reportagen beschriebenen Kuriosität: der irakische Diktator Saddam Hussein umgab sich mit Doubles, die ihn bei öffentlichen Auftritten vertreten und potentielle Attentäter verwirren sollten. Die vier Schauspieler und Tänzer ähneln sich aber weder untereinander noch dem längst gestürzten Politiker.

Es wird nicht ganz klar, warum Levy und sein Team sich zwölf Jahre nach dem Irak-Krieg noch mal mit den Akteuren befassen, die damals die Welt in Atem hielten: Saddam Hussein gegen George W. Bush (mit seinem Vize-Präsidenten Dick Cheney und seinem einflussreichen Berater Karl Rove im Hintergrund). Das Programmheft kündigte eine “Inszenierung zwischen Satire und Ritual, in absurden Szenen, verklärend-verwirrenden Texten, liturgischen Gesängen und aberwitzigen Choreographien” an.

Stattdessen erlebte das Publikum eine recht müde vor sich hinplätschernde Szenen-Folge, die noch dazu erstaunlich eindimensional blieb. Der Konflikt wurde monokausal auf die Gier nach Öl reduziert, weshalb sich die Schauspieler auch mit schwarzer Farbe übergießen und einschmieren mussten. Wenn man schon beschließt, sich mit diesem Konflikt zu befassen, wäre es doch viel interessanter gewesen, auch andere Facetten auszuleuchten: das Verhältnis von George W. Bush zu seinem Vater, der bereits 1991 in einen ersten Irak-Krieg mit Saddam Hussein verstrickt war; oder die religiösen Begriffe, die in den Reden des von evangelikalen Strömungen stark geprägten US-Präsidenten oft wiederkehrten.

Saddam Hussein – A Mystery Play. – Text und Regie: Yonatan Levy. Von und mit: Amir Farjoun, Nir Shauloff, Saar Székely, Yonatan Levy. – F.I.N.D. #15-Gastspiel von HaZira Performance Art Arena (Israel). – 1 Stunde ohne Pause

Festival Internationale Neue Dramatik 2015 vom 17. bis 26. April an der Berliner Schaubühne
Leserkritik: Das Glück hatte ich mir anders vorgestellt, Deutsches Theater Berlin
Leserkritik: Das Glück hatte ich mir anders vorgestellt - Deutsches Theater Berlin (23. - 25. April 2015)
Ein sensationeller Abend!! 21 Zwölf- bis Sechzehnjährige (!) spielen (und leben!) Szenen aus dem autobiografischen Roman "Warum das Kind in der Polenta kocht" (den ich mir anschliessend umgehend besorgt habe) von Aglaja Veteranyi, die sich entsetzlicherweise 2002 ertränkte. Ich konnte mich nicht sattsehen an den Gesichtern dieser jungen Menschen, ihrem Einsatz, ihrer Spielfreude und -besessenheit, der klugen, witzigen, erschütternden Inszenierung von Birgit Lengers und Yannik Böhmer. Ein großer Theaterabend, der beste bisher in diesem Jahr!

Ein Jammer, dass das Stück nur an drei Abenden lief und offensichtlich keine KritikerInnen von der Presse u.ä. zugegen waren...

http://mobil.deutschestheater.de/spielplan/anders_vorgestellt/
Leserkritik: Einige von uns, She She Pop am Schauspiel Stuttgart
'Einige von uns' - als Lehrstück angekündigt, war die Uraufführung am 14.05. im Staatstheater Stuttgart wohl eher ein Mysterienspiel, also ein liturgisches Drama, das in den Zusammenhang mit einem Gottesdienst gehört und in einem Kirchenraum stattfindet.

'Einige von uns', damit gemeint waren Akteure aller Bereiche, die an einem großen Schauspielhaus reibungslos zusammenwirken müssen, wenn etwas Gutes entstehen soll. Als Einführung bekommen die Zuschauer, die vorerst auf den hinteren Plätzen im Zuschauerraum platziert werden, wie vor ca. 20 Jahren im Filmraum der Schule, einen kurzen Lehrfilm über die Katakomben eines Theaters zu sehen. Danach werden die Zuschauer auf die Bühne dirigiert, wo eine frontale Stadionbestuhlung für Sie vorbereitet ist. Die Akteure aus den verschiedenen Bereichen des Theaters, stellen sich nun frontal zum Publikum auf und erzählen über sich, ihre Aufgaben, ihre Probleme und Konflikte wie sie sich in einer größeren Organisation so ergeben, teils einzeln, teils im Chor, immer aber in bedeutungsvoller sakraler Tonlage. Irgendwann bekommt das Publikum mit, dass die Texte die von den Akteuren gesprochen bzw. gesungen werden auf die Wand hinter ihnen projiziert werden. Als der/die Letzte das begriffen hat, schwebt vom Schnürboden herab eine Tafel, mit den Texten für das Publikum, das dieses dann andächtig im Chor vorträgt, dass man sich zeitweilig vorkommt wie in einer Kirche - es fehlt nur noch die Orgel.

Das Ganze zog sich noch eine ganze Weile aufklärerisch dahin, bis so ziemlich alle Fragen von Allen beantwortet und die Antworten noch einmal zusammengefasst waren. Aber irgendwie fehlte noch ein Schlusspunkt - und da die Publikumsbeschimpfung schon seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen ist, wurde eine Publikumserschießung angekündigt. Delegierte des Publikums durften zwar noch ein bisschen dagegen argumentiert, doch es war klar, dass die Waffenmeisterin ihren Auftritt bekommen musste. Man hätte rufen mögen, lieber erschossen werden als zu Tode gelangweilt zu werden!

Was bleibt mir Positives von diesem Abend? Einmal der Gedanke, dass das Theater eine Arche Noah ist, in deren Bauch alte Handwerkskunst überleben kann, die am aussterben ist, bzw. die schon ausgestorben ist. Und zum Anderen: Ganz zu Beginn, als das Publikum in den Saal geströmt ist hat es geglaubt, dass es dabei gefilmt wird, denn auf der Großleinwand könnte man sehen, wie sich das Theater füllt. Fast jeder Jeder hat nun versucht sich auf der Projektionsfläche wieder zu erkennen und weil das nicht gelingen wollte, durch Aufstehen, Winken usw. Bezugspunkte zu schaffen. Diese Bezugspunkte könnten nicht gefunden weil es sie nicht gegeben hat, denn der Film zeigte ein anderes Publikum, das zu einem anderen Zeitpunkt den Saal gefüllt hat. Darüber haben sich spontane Unterhaltungen und Kommentare entwickelt, zwischen Menschen, die ansonsten schweigend nebeneinander Platz genommen hätten.
Leserkritiken, Mephisto, Weimar: großer, gewaltiger Abend!
"Mephisto" nach dem Roman von Klaus Mann
Bühnenfassung von Robert Schuster und Nora Khuon, Regie: Robert Schuster, Deutsches Nationaltheater Weimar
Was für ein Triumph für Klaus Mann!
Eine ganz andere Inszenierung als in Halle, mal politisches Kabarett, mal ein Gespräch im Hause Thomas Mann mit dem anwesenden Herrn von Goethe, mal eine Aufrechnung der unwürdigen Rolle des Deutschen Nationaltheaters Weimar im Faschismus und danach, ein ergreifender Text von Jorge Semprún über einen femininen Jungen in Buchenwald, eine böse Abrechnung mit Gründgens und Mitläufer-Konsorten, ein großer, gewaltiger Theaterabend!
http://www.nationaltheater-weimar.de/de/index/spielplan/stuecke_schauspiel/stuecke_details.php?SID=1431
Leserkritik, Mephisto, Halle: packend, immens politisch
"Mephisto" nach Klaus Mann
Regie: Henriette Hörnigk, neues theater Halle
Es funktioniert! Es funktioniert!! Eine dreieinhalbstündige Adaption des "Mephisto", packend, immens politisch, unterhaltsam, keine überflüssige Minute. Wunderbar gespielt! Nur konsequent die Idee der cleveren Regisseurin Henriette Hörnigk, aus der problematischen Figur der "Juliette" eine Tunte zu machen. Der Schluss ein Triumph: Klaus Mann gross auf der Leinwand, alle verkriechen sich in ihre Löcher...
http://buehnen-halle.de/produktionen/mephisto-2014-2015
"You can' t go home again!"

(Anmerkung der Redaktion: Zur Nachtkritik dieser Inszenierung geht's hier entlang: http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10813:mephisto-am-neuen-theater-in-halle-adaptiert-henriette-hoernigk-klaus-manns-gruendgens-roman&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40)
Leserkritik: Der aufhaltsame Austieg des Arturo Ui zum 403. Mal am BE
Schon von weitem ist eine schnarrende Stimme über Megaphon zu hören: die traditionelle Balkonrede darf auch bei der 403. Aufführung von "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" nicht fehlen. Aber ausgerechnet zum Jubiläum – genau zwanzig Jahre nach der Premiere am Pfingstsamstag 1995 – hätte Heiner Müllers legendäre Inszenierung beinahe ausfallen müssen. Dank mehrerer kurzfristiger Umbesetzungen und mit Mut zum Improvisieren konnte das große Event am Berliner Ensemble dann doch stattfinden.

Das Stück stammt noch aus der Ära vor Claus Peymann. In den Archiven der Feuilletons ist nachzulesen, unter welchen recht schwierigen Umständen die Proben begannen: Heiner Müller hatte einen Machtkampf mit Peter Zadek hinter sich, der das Haus lange in Atem gehalten hatte. Die Geschäftsführung wünschte sich sehnlich einen Kassenhit und Müller habe sich zunächst gesträubt, Brechts Parabel über den Aufstieg Adolf Hitlers aus dem Jahr 1941 auf die Bühne zu bringen. Dem jungen Hauptdarsteller Martin Wuttke aus Gelsenkirchen traten einige Kollegen eher reserviert gegenüber, wie sich Stephan Suschke, Heiner Müllers damaliger Assistent, erinnert.

Die Besetzung war dennoch ein Glücksgriff: Wuttke wurde damals als Schauspieler des Jahres 1995 ausgezeichnet und trägt das Stück bis heute. Vom ersten Auftritt als hechelnder Hund bis zur finalen Machtübernahme nach Ausschaltung aller Gegner, zappelt er mit beeindruckend-nervöser Energie über die Bühne. Das Herzstück des Dramas ist und bleibt Uis Lehrstunde bei einem Schauspieler, der ihm zeigen soll, wie man sich in der Öffentlichkeit möglichst vorteilhaft bewegt und die Massen rhetorisch überzeugt. Bei der Premiere war der große Bernhard Minetti in dieser Rolle zu erleben. Nach dem letzten Vorhang ließ es sich Peymann nicht nehmen, die lange Reihe der Namen zu verlesen, die in Minettis Fußstapfen seitdem als Schauspieler zu sehen waren: kein einziges leeres Hemd darunter, und derzeit übernimmt Jürgen Holtz diesen Part. Das Aufeinandertreffen der beiden Schauspielgrößen Wuttke und Holtz ist der Höhepunkt des Abends und ein kabarettistisches Kabinettstückchen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25174-heiner-muellers-arturo-ui-feiert-am-be-sein-jubilaeum-martin-wuttke-nimmt-schauspielunterricht-bei-juergen-holtz.html
Leserkritik: Leonard Cohen im Theater Lübeck
Theater Lübeck: Zum Abschluss der Spielzeit eine Uraufführung

Wir sind Leonard Cohen

Lübeck, 5. Juni 2015. Das Lübecker Schauspiel bietet seit vielen Jahren mit großem Erfolg Liederabende – über die Beatles, Rio Reiser, Edit Piaf, Jim Morrison. Schauspieldirektor Pit Holzwarth hat selbst mehrere dieser Abende kompiliert. An diesem Freitag hatte seine neueste Arbeit "Leonard Cohen – I’m a hotel – Songs of love and hate" ihre gefeierte Uraufführung in den voll besetzten Kammerspielen.

Der kanadische Lyriker, Komponist und Sänger Leonard Cohen (81) ist für eine Darstellung auf der Bühne zweifellos ein harter Brocken. Im englischen Sprachraum wird er gefeiert. Aber auch in Europa ist er durch seine Tourneen bekannt geworden. Erst spät hat er zur Musik gefunden. Innere Ruhe wollte er auf einer griechischen Insel und in einem buddhistischen Kloster finden. Nachdem seine Managerin sein Vermögen unterschlagen hatte, musste er noch im Alter wieder "tingeln".
Der Leiter der Lübecker Bühnenmusik Willy Daum hat sechzehn Songs für seine fünfköpfige Combo und sieben Schauspieler arrangiert. Denn Pit Holzwarth – der sich für diese Produktion eingehend mit Cohen und seiner Philosophie befasst hat - lässt fast sein ganzes Schauspielensemble – Astrid Färber, Susanne Höhne, Vasiliki Roussi, Andreas Hutzel, Henning Sembritzki, Timo Tank und Jochen Weidenthal – als Leonard Cohen agieren. Das tun sie mit Hingabe und großer Brillanz auf einer äußerst schrägen Fläche in einem luftigen Pavillon (Ausstattung Werner Brenner). Warum allerdings in dieser Produktion so viel geraucht wird, bleibt dem Zuschauer verborgen. Über diese Zeiten sollten wir doch auch am Theater hinaus sein…

Handlung gibt es an diesem Abend kaum. Wie auch? Gerade einmal Cohens Zeit im Kloster lässt sich szenisch darstellen. Sonst beschränkt sich der Regisseur Holzwarth darauf, seine Darsteller weiße Küchenstühle hin- und hertragen zu lassen Die "Meditation über das Leben" erfolgt durch die Musik und gelegentliche Gespräche.. Der harte Beat entspricht sicher dem Lebensgefühl der jüngeren Generation, die im Premierenpublikum überwiegend vertreten ist. Die Älteren haben da ihre Mühe, sich hinein zu hören. Jedenfalls kommt diese Produktion gut an, wird mit viel Zwischenbeifall aufgenommen und am Schluss stürmisch gefeiert.

Weitere Aufführungen: 7.Juni, 18.30, 13., 23. und 25. Juni, 2. Juli, jeweils 20 Uhr.

http://www.theaterluebeck.de/index.php?seid=4&St_ID=719
Leserkritik: Muttis Kinder in der Berliner Bar Jeder Venunft
Christopher Nell, der Mephisto aus Robert Wilsons "Faust" am BE, ist Teil des beeindruckenden Trios "Muttis Kinder".

Mehr über den Auftritt der drei singenden Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich während des Studiums in Rostock kennengelernt haben, hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25184-muttis-kinder-beeindruckendes-schauspieler-trio-in-der-bar-jeder-venunft-nimmt-sich-zeit-zum-traeumen.html
Leserkritik: Nachtasyl in der Berliner Schaubühne
Wer gerne ein paar aufmunternde Botschaften mit nach Hause nehmen möchte, hat es an den Berliner Bühnen derzeit schwer: Johann Kresnik hämmerte uns in "120 Tage von Sodom" an der Volksbühne ein, dass der Turbokapitalismus uns alle unterjocht. Von Stephan Kimmig wurden wir mit Farid Nagims niederschmetternder These aus "Tag der weißen Blume" in den Sommerabend entlassen, dass die Lage in Russland ohnehin hoffnungslos sei und trotz aller Umwälzungen am Ende alles beim Alten bleibt. Am düstersten ist aber Michael Thalheimers neue Inszenierung an der Schaubühne.

"Nachtasyl" beginnt mit leisem Wummern, Bert Wredes Handschrift ist beim Soundtrack unverkennbar. Dieses Wummern bleibt uns 90 Minuten erhalten, die Monotonie dieses Klangbreis wird nur durchbrochen, wenn an einigen Stellen die Regler nach oben gedreht werden und die Bässe noch lauter wum mern. Auch Olaf Altmann ist ein bewährter Mitarbeiter von Thalheimer, seine eindrucksvollen Bühnenbilder z.B. bei "Medea" trugen dazu bei, dass Thalheimer-Inszenierungen zu einer starken Marke wurden: hohe Wiedererkennbarkeit, aber nach so vielen Jahren eben auch in der Gefahr, sich nur noch selbst zu kopieren.

Altmanns Bühnenbild verlangt den Schauspielern einiges an sportlichem Durchhaltevermögen ab. Nach und nach plumpsen sie in die Kloake. Das Milieu ist nicht nur für Freunde bildungsbürgerlicher Umgangsformen gewöhnungsbedürftig: wenn sich die Figuren einfach nur angiften, ist das nächste Brüllduell sicher nicht mehr weit. Sie verhöhnen sich, demütigen sich, der Sadismus trieft ihnen ebenso aus allen Körperöffnungen wie manche Flüssigkeit, die mit Knigge nicht vereinbar ist.

Vieles ist überdeutlich ausgepinselt und in seiner Botschaft schlicht, drei Figuren lohnen aber einen zweiten Blick: Neben Pepel und Luka ist das vor allem Wass ilisa (Jule Böwe). gemeinsam mit ihrem Mann leitet sie das Nachtasyl, in dem die unglücklichen Figuren gestrandet sind. Sie ist mit Abstand das fieseste Aas und zieht sadistisch alle Strippen.

Wie kann man in dieser trostlosen Kloake überleben? Wassilisa verfährt nach der Devise: Jeder ist sich selbst der Nächste. Mit einer Mischung aus Drohungen und geschickten Manipulationen versucht Wassilissa, alle gegeneinander auszuspielen, ihren Mann aus dem Weg räumen zu lassen und doch noch ein besseres Leben zu beginnen. Als sich alle in einer Traube um den Prediger Luka scharen, bleibt sie als einzige demonstrativ fern, lauernd in ihrer Ecke. Sie keift und bezirzt, faucht und umgarnt, und das alles mit einer Stimme, für die sie einen Waffenschein bräuchte. Bei der Tonlage, mit der sie ihrem Liebhaber, der sie verlassen möchte, ein verzweifelt-beleidigtes "Pepel! Pepel!" hinterherkräht, kann man gut verstehen, dass er nur noch weg will.

Händels opu lente Barockoper "Giulio Cesare in Egitto" (an der Komischen Oper zu sehen) scheint auf den ersten Blick ein Gegenprogramm zu Gorkis Elends-Panorama zu sein: hier ein “Happy-end” mit der Hochzeit des Traumpaars, dort hoffnungsloses Prekariat ohne Mut und Perspektive. Hier facettenreiche Arien mit großem Orchester, dort monotones, bedrückendes Wummern. Hier Schwelgen im Prunk der Ausstattung (ein besonderer Blickfang: die drei Krokodile in ihren Vitrinen!), dort verdreckte, heruntergekommene Gestalten.

Aber die Botschaft ist dieselbe: die Welt ist eine brutale, gewalttätige Kloake. Daraus gibt es kein Entrinnen: weder für Kleopatra, noch für Wassilisa!

Vollständiger Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25194-ist-die-welt-eine-kloake-oder-lohnt-es-sich-doch-zu-kaempfen-gorkis-nachtasyl-an-der-schaubuehne-und-haendels-giulio-cesare-in-egitto-an-der-komischen-oper.html
Leserkritik: Mahagonny im Theater Kiel
"Mahagonny": Die Kapitalismus-Anklage berührt nicht mehr

von Horst Schinzel

14. Juni 2015. Als vor 85 Jahren die Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" des Komponisten Kurt Weill (1901 – 1950) nach einem Textbuch von Bert Brecht in Leipzig uraufgeführt wurde, endete der Abend in einem handfesten Theaterskandal. Die Gesellschaft der Weimarer Republik goutierte diese Parabel von der eigens zu dem Zweck, die Mitmenschen auszubeuten, gegründeten und letztlich an ihrer inneren Zerrissenheit gescheiterten Stadt durchaus nicht. Seither haben wir erkennen müssen, dass andere Gesellschaftsformen genauso wenig erfolgreich waren. Und so hat sich diese Anklage gegen die Kapitalismus denn doch überlebt. Folgerichtig wird diese Oper nur noch selten gegeben – in Kiel zuletzt vor 39 Jahren.

Jetzt hat der als Fachmann über das unterhaltende Musiktheater gepriesene frei schaffende Regisseur Ansgar Weigner in seinem Kieler Debüt sich am Kleinen Kiel um dieses Werk bemüht.
Ihm ist ein überaus lebendiger Abend gelungen. In dem abwechslungsreichen Bühnenbild von Norbert Ziermann und den farbenfrohen Kostümen von Christof Cremer agieren Solisten wie der von Lam Tram Dinh einstudierteund von Viola Crocetti-Gottschall choreografierte Chor – in dem besonders die Solistinnen des Jugendchors gefallen – beweglich und mit Charme.
Das ändert nichts daran, dass die Aussage der Handlung heute nicht mehr beeindrucken kann. So bleiben die Zuschauer dieses Premierenabends höflich-unbewegt. Einzelne Ansätze zu Szenenbeifall verebben schnell. Und auch der Schlussbeifall ist nur etwas mehr als freundlich.

Er gilt vor allem den großartigen Solisten. Allen voran Michael Müller, der gesanglich wie darstellerisch eine eindrucksvolle Charakterstudie des unglücklichen Jim Mahoney abliefert. Neben ihm beeindrucken Marina Fideli und Agnieszka Hauser als schmierige – ihrem Fach sehr fremden – Leokardia Begbick und Jenny Hill Aber auch die übrigen Bewohner der erst von einem Hurrikan und dann von der eigenen Gier bedrohten Kleinstadt werden von Matthias Koslorowski, Ks Jörg Sabrowski, Fred Hoffmann, Andreas Winther Timo Riihonen und Martin Fleitmann überzeugend dargestellt. Leo Siberski – der sein Amt als Erster Kapellmeister zum Jahresende aufgibt – weiß den großen Apparat mit dem Philharmonischen Orchester geschickt zusammen zu halten. Schade, dass im letzten Drittel des zweiten Teils die Übertitlungsanlage versagt. Die Premierenzuschauer verlassen sehr nachdenklich das Opernhaus.

I
Leserkritik: Der Russe ist einer, der Birken liebt am Gorki Theater, Berlin
Cem (Dimitrij Schaad) ist der Sympathischste aus diesem Typen-Kabinett orientierungsloser Figuren und hält auch noch Kontakt zu Mascha (Anastasia Gubareva), als sie alle anderen Brücken hinter sich abgerissen hat. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie am Tod ihres Lovers schuld sei. Traumatische Erinnerungen an die Kindheit im Krieg brechen wieder auf. Sie entscheidet sich, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und geht nach Israel. Ihren neuen Job verliert sie schnell wieder und versucht, nach den Enttäuschungen mit den Männern nun mit einer Frau (Orit Nahmias) glücklich zu werden.

Nachtkritikerin Simone Kaempf ging mit “gemischten Gefühlen” von der Premiere im November 2013 nach Hause und auch die meisten anderen Kritiken waren wesentlich verhaltener als der einhellige Jubel der Feuilletons über Olga Grjasnowas Roman-Debüt "-Der Russe ist einer, der Birken liebt" (2012), das diesem Abend zugrunde liegt.

Die eingestreuten Songs und Anekdoten von Dimitrij Schaad, mit denen er ein neues Kapitel anmoderiert, eine willkommene Abwechslung von der mäßig interessanten Handlung. Vieles ist grotesk überzeichnet, manches immerhin gelungener Slapstick. Die größten Lacher erntet die Nazi-Karikatur Horst. Diese Kabarettnummern fügen sich mit der düsteren Schlussbotschaft der verstört am Boden kauernden Mascha, wie vergeblich alles menschliche Streben nach Glück doch sei, nicht recht zu einem stimmigen Ganzen.

Seit dieser Eröffnungs-Premiere am Gorki durften wir dort einige wesentlich stärkere Regie-Arbeiten von Yael Ronen erleben.

Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25318-der-russe-ist-einer-der-birken-liebt-am-gorki-schoene-musik-duesteres-ende.html
Leserkritiken: Die Lügen der Sieger
Ursina Lardi (Schaubühne) und Lilith Stangenberg (Volksbühne) in Christoph Hochhäuslers Polit-Thriller "Die Lügen der Sieger" im Kino.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25315-zwei-starke-filme-in-victorias-schatten-freistatt-und-die-luegen-der-sieger.html
Leserkritik: Dämonen, Berlin
Dieses Aufeinandertreffen von vier neurotischen Mittdreißigern in der Wohlstandshölle einer Designer-Küche ist sichtlich von Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" inspiriert.

Frank und Katarina können nicht mit-, aber auch nicht ohneeinander. Sie haben sich hoffnungslos ineinander verhakt. Demütigen und demütigen lassen ist das Prinzip ihres Aneinander-Vorbei-Lebens.

Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lars Noréns "Dämonen" ist eine gutgeölte Ehehöllen-Groteske, die manchmal etwas plakativ und zotig daherkommt, aber ansonsten treffsicher die Leiden von Paarbeziehungen aufspießt. Auch mehr als fünf Jahre nach der Premiere sorgen die Dämonen mit ihren zugespitzten Dialogen für viel Gelächter, ein volles Haus an der Schaubühne und langen Applaus.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25375-daemonen-an-der-schaubuehne-ein-stellungskrieg-der-sich-ehe-nennt-und-ratten-auf-dem-grabstein.html
Leserkritik: Die Ungehaltenen, Berlin
Hakan Savaş Mican und Necati Öziri nach dem Roman von Deniz Utlu: Die Ungehaltenen, Maxim Gorki Theater/Studio Я, Berlin (Regie: Hakan Savaş Mican)

Die Touristen, die “Skinny Jeans”, die Jutebeutel: Elyas ist wütend. Kreuzberg, seine Heimat verändert sich, verliert den Halt, der einzige, den der abgebrochene JuraStudent, Tod eines sterbenden Vaters, der nie Zeit für ihn hatte, je besaß. Die letzte Illusion von Heimat verschwindet für den Jungen, der da, wo seine Heimat zu sein hat, nie war, und an dem Ort, der als Heimatersatz diente nie mehr war als geduldet. Elyas ist ein Unbehauster, ein Haltloser, einer, der sich in die Lethargie geflüchtet hat, um nicht suchen zu müssen – nach Sinn, Heimat, sich selbst. Doch auch da kann er nicht, denn sein Schneckenhaus beginnt zu zerfallen. Er muss sich stellen: der Heimatlosigkeit, dem Schweigen der Familie, dem Vater, dessen pragmatische Kälte er stets mit Indifferenz zu strafen versuchte. Also konfrontiert er sich: mit dem Vater, mit der Heimat seiner Eltern, mit der eigenen Fähigkeit zu fühlen, zu lieben, der Unfähigkeit zu handeln. Deniz Utlus Roman Die Ungehaltenen befasst sich mit diesen doppelt Entwurzelten, jenen, die gegangen sind und nie ankommen dürfen, auch denen die geblieben sind, ohne je gegangen zu sein. Denn hier, in dieser Unbehaustheit treffen sie sich: der Kreuzberger Junge, der immer Türke sein soll, der abgeschobene Bochumer, der nicht Türke sein kann und die Eltern, die die Heimat nie hinter sich gelassen haben. Vater und Sohn, die nie wirklich miteinander sprachen und es nun nicht mehr können – sie teilen ein Schicksal.

Regisseur Hakan Savaş Mican inszeniert am Studio des Maxim Gorki Theaters die Suche, die dieses Schicksal ist und es vielleicht wenn nicht überwinden, so doch womöglich zu so etwas wie führen kann. Die Bühne (Sylvia Rieger) ist kahl, ein Drumkit, mehrere Instrumente, dahinter eine lange Sitzreihe aus grauen Plüschkissen. Ein Wartesaal verkleidet als Zuhause. Mehmet Ateşçí ist Elyas. Er wütet uns klagt und schimpft, verschließt sich, resigniert, spottet – und singt. Er probiert sie aus, alle möglichen Varianten, mit der eigenen Verlorenheit umzugehen. Er vergräbt sie unter Verachtung, schottet sich ab, und bekommt sie doch nicht los. Er verliebt sich und kann die Begehrte doch nicht festhalten, weil er sich sich nicht zu halten vermag – und sie, strauchelnd wie er, sich ebenso wenig. Er fährt in die Türkei, besucht das Grab des Vaters, spricht sich aus, doch bleibt es Monolog, kommt nichts zurück. Der Abend ist ein einziges Selbstgespräch. Die anderen drei Darsteller*innen sind Stichwortgeber, Projektionsflächen, Teile von Elyas, die er nicht akzeptieren kann oder weil und deshalb ausschließt. Doch sie lassen ihn nicht los, belagern ihn mit ihren Vorwürfen, ihren Augen (Mehmet Yilmaz’ stummer, mehr fragender als anklagender Blick als komatoser Vater), ihren Liedern und Melodien (Musik: Vulkan T.), die zwischen Heute und Gestern, Hier und Dort schweben. Stadtlandschaften erscheinen, die Dächer Berlins, dann die Istanbuls, dazwischen endlose vorbeiziehende Bänder namenloser Straßen und Autobahnen (Video: Benjamin Krieg). Ateşçí berührt die Leinwand und bleibt doch außen vor.

Mehr: https://stagescreen.wordpress.com/2015/06/30/der-nichtangekommene/
Leserkritik: Underdog, Kornél Mundruczós
Wie in Kornél Mundruczós Theaterarbeiten, die am Hamburger Thalia oder beim "Leaving is not an Option"-Festival im März 2014 am Berliner HAU zu sehen waren, treiben ihn auch in seinem Kinofilm "Underdog" die politischen Entwicklungen in Ungarn um.

Die Botschaft seines taz-Interviews von 2014 und dieses beeindruckenden Films ist: Europa darf nicht wegschauen, wenn mitten in der EU der ungarische Premier Victor Orbán und seine Fidesz-Partei Minderheiten ausgrenzen, das Verfassungsgericht entmachten und Freiheiten systematisch eingeschränkt werden.

Der Film spitzt sich mit Bildern, die sich ins Gedächtnis einbrennen, zu einer Politparabel zu: nicht nur Lili wehrt sich, sondern auch die Hunde. Hinter ihrem Anführer Hagen vereinen sie sich zu einer beißkräftigen, beängstigenden Kampfhund-Formation, die durch die Straßen rennt und sich an ihren Peinigern rächt. Die Anklänge an das Kinderfilm-Genre sind glänzend gefilmten Verfolgungsjagden und geballter Wut gewichen. In einem TV-Interview erzählte eine Hundetrainerin, wie aufwendig es war, bis sich die Hunde zu einer solchen Meute zusammenballten und als geschlossener Pulk gemeinsam losrannten.

Mehr dazu hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25394-ungarische-politparabel-underdog-rache-der-kampfhunde-brennt-sich-ins-gedaechtnis-ein.html
Leserkritik: "Schlafe, mein Prinzchen" im Berliner Ensemble
Eigentlich sollte Franz Wittenbrink am Berliner Ensemble einen Liederabend zur "Villa Aurora" inszenieren: Lion Feuchtwanger hat dieses Anwesen in den Hügeln bei Los Angeles gekauft, als er vor den Nazis ins Exil fliehen musste. Das im spanischen Stil erbaute Schlösschen entwickelte sich in den 1940er Jahren zu einem Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen. Thomas Mann, Charlie Chaplin oder Bertolt Brecht gehörten zu den prominenten Gästen. Heute dient die Villa Aurora als Künstlerresidenz inklusive Stipendiatenprogramm, unterstützt vom Auswärtigen Amt und der Staatsministerin für Kultur.

Wer Wittenbrink-Abende kennt, die an vielen großen Häusern zu erleben waren, kann sich sehr gut ausmalen, wie ein "Villa Aurora"-Abend aussehen dürfte: ein unterhaltsamer Reigen aus Liedern, bunt gemixt aus verschiedenen Genres, ohne Scheu, zwischen E und U hin und her zu springen. Das würde bestimmt wieder gute Unterhaltung im typischen Wittenbrink-Stil, von dessen "schwebender Leichtigkeit" die Süddeutsche Zeitung einmal schwärmte.

Aber diesen "Villa Aurora"-Abend können wir uns bisher leider nur in unserer Vorstellung ausmalen. Wittenbrink entschied, dass er sich stattdessen viel lieber einem ganz anderen Thema widmen möchte, das ihn seit langer Zeit beschäftigt.

Anfang 2010 begannen die Nachrichtensendungen fast täglich mit schrecklichen Enthüllungen, an welcher eben noch hochangesehen Bildungs-Institution offensichtlich systematisch sexueller Missbrauch an Kindern betrieben und vertuscht wurde. Regisseur Franz Wittenbrink war damals in Sandra Maischbergers ARD-Talkrunde zu Gast und berichtete über seine Zeit bei den Regensburger Domspatzen in den 60er Jahren. Auch im Programmheft zu Schlaf, mein Prinzchen schreibt er über seine Zeit bei diesem Chor mit Weltruf und ehrwürdiger Tradition. Er erwähnt harte Strafen für Banalitäten wie einen fallengelassenen Bleistift und Schläge auf den nackten Hintern. Vor “direktem sexuellem Missbrauch” sei er verschont geblieben, vermutlich auch weil sein Onkel damals bayerischer Ministerpräsident war.

Der Dramaturg Steffen Sünkel berichtete bei der Einführung, dass die erste Reaktion an Claus Peymanns Berliner Ensemble war: Ein Liederabend zum sexuellen Missbrauch – kann das gut gehen? Wie passen die fröhlichen Songs und Wittenbrinks oft ironischer Stil, die das Publikum an so vielen Abenden mit einem Lächeln nach Hause gehen ließen, zu diesem bedrückenden, zu lange tabuisierten Thema? Das kann doch kaum funktionieren, oder?

Darauf gibt es hier eine Antwort: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25426-wittenbrinks-schlaf-mein-prinzchen-ein-klassik-pop-liederabend-zu-kindesmissbrauch-kann-das-funktionieren.html
Leserkritik: Dietrich Brüggemanns Film "Heil"
Im Kino: "Heil" von Dietrich Brüggemann - Nazi-Farce mit Theaterprominenz

Intendant Ulrich Khuon stellte das edle Foyer des Deutschen Theaters für die Dreharbeiten zur Verfügung, sein Sohn Alexander übernimmt einen kleinen Part als schnöseliger Moderator einer Akademie-Diskussion vor den elegant gekleideten Anhängern der Sarrazin-Thesen. Jerry Hoffmann aus dem Gorki-Ensemble spielt als Bestsellerautor Sebastian Klein, der von Nazis entführt wird, eine der tragenden Rollen.

Mehr über die Kalauer, Karikaturen und Kumpels in "Heil" gibt es hier: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25534-dietrich-brueggemanns-nazi-farce-kalauer-karikaturen-und-kumpels.html
Leserkritik: Löwenverleihung an Christoph Marthaler
Goldener Marthaler

Im Rahmen des 43. Festival Internazionale del Teatro wurde zwischen Marmorsäulen und Parkettboden am vergangenen Montag in Venedig die Verleihung des Silbernen und Goldenen Löwen vollzogen. Beim Eintritt in die ehrwürdige Sala delle Colonne am Canal Grande glänzen die zwei Löwen auf der Tribühne; von Offizieren bis Studenten, durchschwitzten Hemden bis Samtkleidern, ist versammelt, um der feierlichen Zeremonie beizuwohnen. In seiner Rede wies Paolo Barrata, der Chef der Theater Biennale, auf das seit drei Jahren bestehende College-Theater im Rahmen des Festivals hin: Studenten aus über 37 Nationen nehmen dieses Jahr an verschiedenen Workshops der Meister-Regisseure teil, deren Stücke zur Biennale eingeladen sind. Sie unterrichten während der Biennale Dramaturgie, Tanz und Theater.

Der Silberne Löwe ging an die Freie Gruppe um Serrano aus Barcelona. Alex Rigola, künstlerischer Direktor des Festivals, begründete diese Entscheidung mit der durch die Truppe voran gebrachte glückhafte Verschmelzung von Film und Theater. Nach ein paar Blitzlichern ging es auch schon weiter zu Christoph Marthaler; er bekam den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk, wie Rigola betonte für die das einfühlsame Verständnis zwischen Musik und Theater und der menschlichen Atmosphäre zwischen ihm und seinen Mitarbeitern. Marthaler dankte mit einer etwas saloppen Mini-Ansprache, dass er sehr gerührt sei. Italien sei für ihn immer ein wichtiges Land für die Arbeit und den Ausbruch aus der Schweiz gewesen. Auch wenn der Preis sein Lebenswerk auszeichnet, solle dies nicht bedeuten, dass er aufhöre. Beim nächsten Mal würde er sich gerne den "goldenen Elefanten" abholen. V.S.
Leserkritiken: Tartüff und Hamlet, Monbijoutheater Berlin
Klassiker-Bearbeitungen "Tartüff" und "Hamlet" im Monbijoutheater

An Tagen wie diesen, an denen die Sahara-Hitze neue Allzeit-Rekorde knackt, lädt das Sommertheater zu einem Besuch ein. Vor allem wenn es so schön gelegen ist wie das Monbijoutheater, das unter dem früheren Namen Hexenkessel Hoftheater noch bekannter sein dürfte: neben der Strandbar Mitte an der Spree, gleich gegenüber vom Bodemuseum, werden in dieser Saison zwei Klassiker im Doppelpack angeboten: "Tartüff" und "Hamlet".

Das Sommertheater wird zwar oft geschmäht, zuletzt in dieser Kolumne (http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11345:kolumne-als-ich-noch-ein-zuschauer-war-wolfgang-behrens-ueber-das-zweifelhafte-vergnuegen-des-sommertheaters-und-den-masochismus-des-publikums&catid=1503:kolumne-wolfgang-behrens&Itemid=100389), dennoch haben sich auch an diesem Abend so viele Besucher vorgenommen, sich ein eigenes Bild zu machen, dass das Amphitheater sehr gut gefüllt ist.

Den Tartüff bringen Regisseur Darijan Mihajlović, der neben seiner Arbeit als Theater- und Opernregisseur sowie als Professor auch schon serbischer Kulturstaatssekretär war, und sein katalanischer Dramaturg Maurici Farré, der von seinen Heiner Müller-Arbeiten an der Volksbühne bekannt sein könnte, recht frei nach Molière auf die Bühne: die Hilflosigkeit, mit der Orgon und seine Familie dem Heuchler so sehr auf den Leim gehen, dass sie ihm sogar den gesamten Besitz überschreiben, bietet dem Regieteam und dem Ensemble einige Steilvorlagen für einen turbulenten Abend.

Wild wuseln sie durcheinander, toben über die Ränge, schleichen sich auch mal ins Publikum. Denjenigen, die bei der freien Platzwahl mutig nach ganz vorne gingen, rücken die Schauspielerinnen und Schauspieler auch ganz hautnah auf die Pelle. Köpfe werden gestreichelt, Küsse angedeutet und Lektionen erteilt: „Erste Reihe ist immer Scheiße“, stichelt der Darsteller der Madame Pernelle, der sich als Rampensau besonders lustvoll ins Publikum wirft, aber früh verschwindet.

Die Szene, als Orgons Frau Elmire dem Tartüff eine Liebes-Falle stellt, bietet besonders viel Raum für Komödienspaß, der sich dann auch gerne in derbere und zotige Regionen vorwagt. Der Spuk endet, als der Sonnenkönig auf großen Stelzen hereinschreitet und die Familie per Dekret von Tartüff befreit, den Roman Kanonik als Mischung aus „Teddybär und Arschloch“ spielt, wie Friedhelm Teicke in der zitty schrieb.

Etwas weniger drastisch geht es bei der Tragödie des Dänenprinzen Hamlet zu, die Gabriele Blum und Peter Kaempfe von der bremer shakespeare company mit nur drei Schauspielerinnen und Schauspielern stemmen. Hausmeister Olsen weist das Publikum ein, wie es das neue Königspaar mit den verteilten rot-weißen Fähnchen zu bejubeln hat, und stöhnt am Ende darüber, dass er schon wieder so viel Blut wegwischen muss. Die drei Akteure wechseln flink die Rollen: die Gertrud muss auch den Polonius und den Rosenkrantz übernehmen, der Hamlet ist im nächsten Moment Güldenstern und ganz am Ende Fortinbras. Auch dieser Dramen-Klassiker schnurrt ebenso wie Tartüff auf gut verdauliche, unterhaltsame 90 Minuten zusammen.

Das Sommertheater im Monbijoupark ist nicht nur willkommene Abwechslung für Theatergänger, die im Sommer nicht nur unter der Hitze, sondern auch unter den Entzugserscheinungen der Spielzeitpause der großen Häuser leiden, sondern eignet sich auch als Einstiegsdroge für alle, die ihre Schwellenangst überwinden und sich in einem schönen Ambiente an die klassischen Stoffe und die Freude am Theater heranwagen möchten.

"Tartüff" und "Hamlet" sind noch bis 6. September 2015 regelmäßig im Monbijoutheater zu sehen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25640-tartueff-und-hamlet-im-monbijou-sommertheater-besser-nicht-in-die-erste-reihe.html
Leserkritik: El Dschihad, Berlin
Claudia Basrawi und Team: El Dschihad, Ballhaus Naunystraße, Berlin (Regie: Claudia Basrawi)

El Dschihad beginnt wie ein Abend Hans-werner Kroesingers: ein nüchtern-sachlicher investigativer Versuchsaufbau, der bis zur Ermüdung Akten wälzt, Zeitzeugen befragt und Informationen sammelt, zusammenfügt und interpretiert. Doch das ist ihm schnell viel zu mühsam. Und so verlegt er sich, statt Fragen zu stellen, auf das möglichst vielgestaltige, vordergründig ironisch gebrochene Präsentieren vorgefertigter Antworten, denen der historische Rahmen eine allzu einfache Erklärungsgrundlage gibt. Statt sich dahin zu begeben, wo es weh tun könnte, zeigt er uns lustvoll und immer mit einem Augenzwinkern, wie leicht wir uns manipulieren lassen, natürlich überzeugt davon, dass er dies selbstverständlich nicht tue. Er schürft nicht tief, sondern wirft uns plakative Erklärungsmuster um die Ohren, die leicht verdaulich verabreicht werden, attraktiv verpackt sind und sich leicht konsumieren lassen. Der Zuschauer kann sich zurücklegen und sich wie in einer besonders kreativ gestalteten Unterrichtsstunde von vorgekauten Wahrheiten berieseln lassen. Selbst zu denken, ist hier nicht von Nöten, alles ostbekömmlich dosiert, um keinen Widerstand herauszufordern. Wie sehr der Abend die Mittel nutzt, die er vorgibt, zu kritisieren, wird dabei wohl kaum jemandem bewusst, zu sehr lässt man sich im wohligen Gefühl des Wissenden ablenken. Dass das Ballhaus Naunynstraße, vor nicht allzu langer zeit Keimzelle neuer theatraler Blicke und Perspektiven auf Themen, die wir gern verdrängen, die neue Spielzeit mit einem so selbstgefälligen und denkfaulen Abend eröffnet, stellt mehr Fragen, als El Dschihad es über seine 70 Minuten Dauer hinweg tut.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/09/02/der-vorhang-zu-und-keine-fragen-gestellt/
Leserkritik - Tanz im August, Berlin I
Tanz im August: "Voronia", La Veronal, Schaubühne; "Bul-ssang", Korea National Dance Company, Volksbühne

In dieser Woche dominierte der Tanz auf den Berliner Spielplänen. Auf der Zielgeraden des Festivals „Tanz im August“ waren zwei Gastspiele von klangvollen Namen zu erleben. "Voronia" der katalanischen Gruppe La Veronal in der Schaubühne enttäuschte jedoch komplett. André Sokolowski (Kultura-extra) ärgerte sich über apokalyptischen Kunsthonig, Frank Schmid versuchte dem Jammertal in seiner kulturradio-Rezension noch etwas abzugewinnen, musste aber auch das bittere Fazit ziehen, dass dieser Abend in „pathosgetränkten Mummenschanz“ kippt.

Während das Publikum Platz nimmt, sind die Ensemblemitglieder aus Barcelona auf der Bühne damit beschäftigt, zum Spielzeitauftakt noch mal richtig durchzuwischen: in weißer Anstaltskleidung gehen sie mit Staubsauger, Lappen und Wischmop gründlich zu Werke. Am besten hätten sie es dabei belassen, in den kommenden siebzig Minuten folgt nur ein lieblos aneinandergeklatschtes Sammelsurium aus verrätselten Motiven der Kunst- und Religionsgeschichte. Der Abend verliert sich zwischen einem Fahrstuhl zur Hölle, einer leeren Tafel, einer Eisbärenmaske, einem kleinen Jungen, einem Lamm und dem Kurzauftritt von vier nackten Männern, die verzweifelt gegen die Wand hämmern, in Belanglosigkeit. Das Ganze ist von bombastischen Opernklängen unterlegt, die Tänzer winden sich schmerzverzerrt in Verrenkungen. Erstaunlich, dass nicht noch wesentlich mehr Besucher vorzeitig gingen.

Die Vorschusslorbeeren waren groß, bei „Tanz im August“ 2014 galt die Gruppe „La Veronal“ mit ihrem Vorgängerstück Siena als Überraschungs-Hit des Festivals. Ihr neuer Auftritt ist jedoch gründlich misslungen.

Stimmiger war das Gastspiel der Korea National Contemporay Dance Company in der Volksbühne: „Bul-ssang“ von Anh Aesson stammt aus dem Jahr 2009 und ist ein bonbonbunter Mix, der Tradition und Moderne aufeinderprallen lässt. Zu den coolen Beats von DJ Soulscape (am rechten Bühnenrand) tänzeln und springen die fünfzehn Artisten durch einen Parcours aus Buddha-Statuen und Konsumtempeln.

Der Versuch, die Zerrissenheit des asiatischen Landes zwischen dem Bewahren traditioneller Werte und Gangnam Style-Turbo-Beschleunigung zu zeigen, kommt phasenweise etwas platt daher. Dennoch ist Ahn Aesson und ihrem quirligen Ensemble zugutezuhalten, dass sie aus ihrer Grund-Idee eine schlüssige und auch unterhaltsam anzusehende Choreographie entwickeln. Für mehr als 60 Minuten hätte ihr Konzept aber kaum getragen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25705-25705.html
Leserkritik - "Cantatatanz", Nico and the Navigators, Zionskirche, Berlin
Einen deutlichen Kontrast zu diesem südkoreanischen Gastspiel setzte die Gruppe Nico and the Navigators mit der Wiederaufnahme von Cantatatanz (aus dem Jahr 2011) in der Zionskirche. In dem sakralen Raum herrschen an diesem Abend protestantische, karge Strenge und der Weltschmerz von Johann Sebastian Bachs Kantaten. Die japanische Tänzerin Yui Kawaguchi tritt zunächst verhüllt, fast wie unter einer Burka, in den Altarraum, während Countertenor Terry Wey sein „Bist Du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh.“ (BWV 508) anstimmt. Beide umkreisen sich in den nächsten knapp 75 Minuten, nehmen sich nach und nach mehr Raum und navigieren durch das gesamte Kirchenschiff, so dass die Besucher auf den vorderen Plätzen die Wahl haben, sich die Hälse zu verdrehen oder über weite Strecken nur die Musik ohne die szenischen Bilder auf sich wirken zu lassen.

Dieses Experiment, Bachs „asketische Schlichtheit“ und „mathematische Klarheit“ („Nico and the Navigators“-Gründerin Nicola Hümpel in einem Interview mit dem Stadtmagazin tip) hat seinen ästhetischen Reiz. Gegen Ende hätte dem Stück aber noch ein stärkerer Regiezugriff gutgetan, da sich einige Längen eingeschlichen haben.

Womit haben wir es bei diesem Aufeinanderprallen von Tanz und christlicher Barockmusik im religiösen Raum zu tun? Hümpel grenzt sich in dem besagten Interview ab: „Nein, denn wir sind ja nicht Tanz. Wir waren immer: weder noch. Musiktheater sind wir in einem gewissen, noch nicht festgelegten Sinne. Bildertheater sind wir inzwischen auch nicht mehr, denn das finden wir bäh!“ Konsequenterweise war dieser Abend auch kein Bestandteil des „Tanz im August“-Festivals, sondern stand ganz für sich in der Berliner Kulturszene, gefördert von Bundes- und Landesmitteln.

Thematisch dockt Cantatatanz mit seinen Fragen nach dem Sterben, dem Jenseits und der Religion allerdings genau an das Spielzeit-Motto „Der leere Himmel“ des Deutschen Theaters Berlin an, das Intendant Ulrich Khuon bei der „Früh-Stücke“-Matinee mit seinen Regisseuren, Dramaturginnen und Schauspielern vorstellte. Ein Zufall der Spielplan-Gestaltung? Oder Untersuchungsmaterial für Soziologen, Kultur- und Religionswissenschaftler, die sich in ein paar Jahren intensiver damit befassen könnten, was diese geballte Auseinandersetzung mit den letzten Dingen über eine Gesellschaft aussagt, die zwischen Griechenland-Hilfspaketen und Anschlägen auf Flüchtlingsheime ganz offensichtlich darum ringt, neuen Halt zu finden?

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25705-25705.html
Leserkritik: "Hiob" in Bochum
Bochum, 06.09.2015 Hiob (nach dem Roman von Joseph Roth)
Die Premiere in den Bochumer Kammerspielen endete mit stehenden Ovationen für die Schauspieler, besonders Michael Schütz (als Mendel Singer) und Jana Schulz (als dessen Sohn Menuchin). Auf einer leeren, schrägen Bühne waren sie und Irene Kugler (als Deborah), Xenia Snagowski (als Mirijam) und Florian Lange, Damir Avdic und Klaus Weiss (alle in mehreren Rollen) immer sichtbar. Wer gerade in welcher Rolle agierte wurde teilweise durch minimale Requisitenausstattung deutlich. Die Jahre, die die Romanvorlage umfasst, wurden per Text verdeutlicht. Den Emotionen ließen die zumeist verhalten agierenden Rollen nur gelegentlich heraus. Und hier liegt wohl auch der Knackpunkt dieser Inszenierung. Während der Roman eine Hiobfigur als modernes Märchen des 20. Jahrhunderts entwirft, in dem ein einfacher und frommer jüdischer Lehrer zu einem Herausforderer Gottes wird, der durch ein Wunder wieder zum erträglichen Leben zurückfindet, kann diese Theaterfassung nicht die emotionale Dichte, ja vielleicht auch Rührseligkeit der Vorlage widerspiegeln, obwohl die manchmal etwas eigen - manchmal Nebensächlichkeitn zu stark betonende- wirkende Textfassung sich an den Roman hält. Mag der Widerspruch zwischen einem in Hose und Jacket gegkleidetem Mendel Singer, der erzählt, er würde einen Kaftan tragen, noch die Fantasie anregen, so ist eine vergleichbar spröde Textpassage über innere Stimmen, Gedanken und Gefühle im Theater bei so einer Vorlage vielleicht unpassend. Es wird ja kein Jelinek-Text inszeniert! Manche Versuche der Lichtdramaturgie versuchten emotionale Akzente zu setzen, zumal das Stück ohne Kenntnis des Romans nicht vollständig verständlich gewesen wäre. Dessen Humor wurde teilweise aufgenommen, dessen Ernsthaftigkeit in seiner Tiefe nur gestreift. Warum also ein kaum ironisches und nicht-metaphysisch dargebrachtes Stück eines Theodizeeproblems, erschließt sich dem Zuschauer nicht.Vielleicht könnten aber Lisa Nielebock (Regie) und Koen Tachelet (Textfassung) hier weiterhelfen.
Leserkritik: Fidelio in Lübeck
Viel Glanz zur Eröffnung der Spielzeit

von Horst Schinzel

7. September 2015. Vor dem Hause wurden Unterschriften für den ungekürzten Erhalt des Angebots des Lübecker Stadttheaters gesammelt. Und drinnen erlebten die Lübecker Theaterfreunde zur Eröffnung der Spielzeit an diesem Sonntag eine glanzvolle – wenn auch nicht widerspruchslos aufgenommene - Inszenierung von Beethovens Freiheitsoper „Fidelio“. Die mit der Umsetzung betraute – an der Trave schon bekannte – freischaffende Regisseurin Waltraud Lehner aus Frankfurt hat der Versuchung nicht widerstehen können, das zweihundert Jahre alte Werk gegen den Strich zu bürsten. Generell spielt die Oper bei ihr im Hier und Jetzt. Wozu das etwas beängstigende Bühnenbild von Ulrich Frommhold beiträgt.

In der Eröffnungsszene bügelt Andrea Stadel als Marzelline nicht etwa die Wäsche, sondern zieht genüsslich an ihrer Zigarette. Dies auch in späteren Szenen. Ihr Verehrer Jaquino (Daniel Jenz) kommt als Hippie daher, der seine Gitarre malträtiert. Wenn die Gefangenen nach ihrem Hofgang in ihre Zellen zurückgeführt werden, werden sie mit Eis am Stil delektiert. Zwar singt Jean-Noel Briend als Florestan dem Textbuch gemäß „Gott, welch Dunkel hier“, aber in seinem Verließ ist es erstaunlich hell. Und in der Schlussszene tritt der von Joseph Feigl brillant einstudierte Chor als eben befreite Gefangene im dunklen Anzug und Abendkleidern auf. Wen wird es da wundern, dass sich in den Schlussbeifall vereinzelte Buh-Rufe mischen.

Das große Erlebnis dieses Abends ist, als Gast in der Rolle der Leonore die von Madagaskar stammende Yannick-Muriel Noah zu sehen und zu hören. Ihr Umgang mit der fremden Sprache ist beachtlich. Sie weiß zu spielen und zu singen. Sie führt ihre große Stimme bis in die Höhen scheinbar mühelos. Neben ihr glänzt Jean-Noel Briend als Florestan eindrucksvoll. In der sehr statuarischen Inszenierung haben es Taras Konoshchenko als Kerkermeister Rocco, Joachim Goltz als Gouverneur Don Pizarro und Steffen Kubach als Minister Don Fernando doch recht schwer. Dennoch bleibt der Abend nicht zuletzt durch das von Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri sicher geführte Orchester eine abgerundete Leistung, und das Premieren-Publikum geizt nicht mit Beifall.
Leserkritik: Hiob, Regie: Lisa Nielebock, Bochum
Hiob, oder: die Begegnung mit sich selbst

von Ulrich Sollmann

Bochum, 7. September 2015. Premiere im Schauspielhaus Bochum. Eröffnung der Saison in den Kammerspielen. Eine ungeschminkte Inszenierung, die gerade durch die Ästhetik der Einfachheit und Klarheit der Figuren besticht.

Die Geschichte ist einfach und schnell erzählt. Lisa Nielebock führte Regie und bringt es auf den Punkt: „Sein eigenes Leben mit allen Beschwerlichkeiten zu akzeptieren und in Gott zu vertrauen, ist das zentrale Motiv der biblischen Hiob-Geschichte“. Nielebocks Inszenierung macht unmissverständlich klar, dass man seinem eigenen Leben mit all seinen Schicksalsschlägen nicht entgehen kann.

In enger Anlehnung an den gleichnamigen Roman von Joseph Roth verleiht Nielebock dem Stück „Hiob“ eine besondere Aktualität. Geht es doch um ein basales und existenzielles, man könnte fast schon sagen, ewiges Thema des Menschen: nämlich die Suche nach sich selbst. Indem man seine eigenen Schicksalsfragen an Gott richtet, schützt dies nicht davor, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Vor sich selbst Farbe zu bekennen, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.

Indem man den Umweg über das Zwiegespräch mit Gott sucht, ihm alles Wirken zuschreibt, baut man sich seine eigene Schicksalsinstanz. Diese verkörpert die persönliche, unbewusst nicht eingestandene Ohnmacht. Und verlagert Selbstzweifel, Selbsthass aber auch Selbstliebe in eine Lichtgestalt, die man bekämpfen oder verehren kann. Je nach persönlicher Stimmungslage. Persönliches Schicksal wandelt sich unbemerkt in göttliche Vorsehung, göttliche Bestimmung oder göttliche Liebe. Schicksal kann somit nicht mehr als persönliches Schicksal wahrgenommen und gelebt werden.

Menschen handeln auf Erden, im Hier und Jetzt. Als Erwachsene müssen sie mit dem Leben, mit all seinen Besonderheiten, den vielfältigen Überraschungen und Schmerzen klarkommen. Trägt man doch eine umfassende Verantwortung, die sich zumindest in der Verantwortung darin spiegelt, dass man und wie man fühlt. Eine Verantwortung, die darin mündet, gerade dies Erleben als sein eigenes Erleben anzunehmen. Sich selbst dem eigenen Erleben hinzugeben.

Nielebock stellt die einzelnen Figuren in ihrer jeweiligen Besonderheit, ihrer Individualität und auch Einsamkeit auf die Bühne. Jeder hat seinen eigenen Platz. Jeder prägt das Bühnenbild auf seine eigenen Art und Weise.

Es erübrigt sich daher auch jegliches besonderes Bühnenbild. Gerade die Einfachheit besticht überzeugend. Und bietet Raum sowie die Möglichkeit, dass sich die einzelnen Figuren entfalten können, wo auch immer sie stehen und wirken. Ob aufeinander bezogen oder dadurch, dass sie die gefühlte Einsamkeit zum expressiven Ereignis werden lassen. Jeder für sich. Jeder als Ereignis für sich.

Mendels Zusammenbruch schließlich bringt die Wende. Enttäuscht von Gott, ohnmächtig dem unausweichlichen Strudel der eigenen Gefühle ausgeliefert, bricht er zusammen und erfährt in diesem Moment sich selbst. Und darum geht es ja schließlich: innerlich loszulassen, sich selbst (dem eigenen Schicksal) hinzugeben, das Leben als Leben und nicht als göttliches Schicksal zu erleben und anzunehmen.

Mendel kann schließlich (wieder oder zum ersten Mal?) am wahren Leben teilhaben, an seinem eigenen Leben teilhaben.

Nielebocks Inszenierung ist eine sensible, unmissverständliche und mahnende Einladung, (wieder) am lebendigen Leben teilzuhaben und nicht indem man den Umweg über das Zwiegespräch mit Gott sucht. Nicht auf die göttliche Vorsehung oder gar Erlösung zu warten. Und dabei das Leben zu verpassen.
Leserkritik: Hiob, Bochum: ernste Klarheit
Was für ein schöner, sensibler und ergreifender Kommentar! - Da kann man Frau Nielebock, ihrem Team und Bochum zu seiner Wahl von Regie und Vorlage nur gratulieren, wenn das bei auch nur einem einzigen Zuschauer dabei herauskommt! (Neidzerfrissmichnichtbitte!) Abgesehen davon, dass bei dieser ernsten Klarheit in so einem kleinen Text jeder dem Spott hingegebene Berufskritiker erblassen müsste...
Leserkritik: Publikumspreis in Gütersloh
Publikumspreis für „Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen“

Im Rahmen der Saisoneröffnungsfeier 2015/2016 wurde im Theater Gütersloh am Samstag zum ersten Mal der Publikumspreis „Güte-Siegel“ für die Theater-Saison 2014/2015 verliehen. Gewonnen hat das Staatsschauspiel Dresden mit Stefan Bachmanns Inszenierung „Der Parasit oder Die Kunst sein Glück zu machen“ von Friedrich Schiller, die im Oktober 2014 dort zu sehen war. Bürgermeisterin Maria Unger und der Künstlerische Leiter Christian Schäfer überreichten im Namen des Gütersloher Publikums Siegerurkunde und eine Siegertorte an Ines Marie Westernströer und Christian Clauß. Praktischerweise waren die beiden Schauspieler an diesem Abend im Haus, denn das Staatsschauspiel gastierte am Wochenende erneut mit Lessings „Miss Sara Sampson“ im Gütersloher Theater. Das überraschte Ensemble freute sich riesig!
Auf Platz 2 landete „Alice“ von Gauthier Dance Stuttgart, Choreographie von Mauro Bigonzetti, auf Platz 3 Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ vom Deutschen Theater Berlin in der Inszenierung von Michael Thalheimer.
Leserkritik: Cyrano, Theater Bielefeld
Leserkritik: Cyrano, Regie: Thomas Winter, Bielefeld – Wolfgang Ueding

Bielefeld, 6. September 2015. Das Herausragendste am Titelhelden des ersten Musicals der Saison in Bielefeld darf man nicht beim Namen nennen. Darauf stößt uns die deutsche Indoor-Erstaufführung des niederländischen Singspiels von 1992 gleich in der ersten Szene mit der - na - Sie wissen schon. Schließlich kennt man den erfundenen „Cyrano de Bergerac“ aus vielen Filmen und Musicals und eigentlich schon seit 1897.
Damals machte sich Edmond Rostand in Frankreich einen folgenschweren Spaß mit dem echten Cyrano. Der führte ungefähr zur Zeit der drei Musketiere eine scharfe Klinge, eine freche Zunge sowie ein Adel und Kirche lästerndes Leben. Außerdem fabulierte er von seiner Reise zum Mond. Rostand verpasste seiner Version ein romantisch schmachtendes Herz und in rasenden Reimen einen historisch nicht belegten Riesenzinken. Oops. Jetzt ist sie heraus, die Nase, für deren Erwähnung der fechtende Poet jedem Prügel verpasste. Bis der Rüpel an die schöne Roxanne gerät und eine der großen Liebesgeschichten der Welt beginnt.
Genauer: eben nicht so richtig los geht. Denn erstens soll Roxanne der Familie wegen reich verheiratet werden, und der begattungswillige Graf Guiche fummelt ständig in die Handlung. Zweitens verguckt sich der schöne, kurznasige und ganz unpoetische Christian in das Fräulein. Weil er, drittens, gut Freund ist mit Cyrano, diktiert der Haudegen dem Trampel die Liebesbriefe und wirbt so über Eck um die Frau, die er sich wegen seines Gesichtshandicaps nicht selbst zutraut.
Das Drama spitzt sich zu, als Roxanne nun ihrerseits sich mehr in die wohlformulierende Seele Christians verirrt als in den schönen Körperschein. Und damit es richtig tragisch wird, schickt der böse Guiche die befreundeten Konkurrenten auch noch in den Krieg. Es entbrennt eine Schlacht um die Liebe, bei der alle verlieren, aber das Herz gewinnt.
Der Cyrano-Stoff wurde vielfach bearbeitet, als Oper, als Ballett, als Komödie mit Steve Martin, aber noch nie so, wie jetzt in Bielefeld. Musik und Liedtexte blieben, wie die Niederländer Koen und Ad van Dijk sie erfanden, nahe an Andrew Lloyd Webbers Phantom-Pop und den orchestralen Les Miserables. Dazu bastelte der Bielefelder Regisseur Thomas Winter gesprochene Passagen aus dem Originalstück von Rostand hinein, um die opulenten Bühnenszenen mit tanzenden Bäckern und Nonnen, und die furiosen Degenduelle mit gleichzeitig aufgesagten Spottgedichten besser zu verbinden. Außerdem tummelt sich manchmal mitsingendes Volk im Zuschauerraum, sodass dieser „Cyrano“ ein packendes Rundum-Spektakel wird.
Wenn auch in einem eher spärlichen Bühnenbild. Und leider ohne Hit und trotz manierlicher Klingenarbeit ohne echte Treffer. Sogar das Paradestück des Stoffs, bei dem der Nase-Weise (sorry!) sich spitz formulierend besser disst als sein Beleidiger, und bei jeder Pointe einen Stich setzt, geht im Gewühl eher unter.
Trotzdem: Wer Musicals mag, sollte seine Nase in dieses Stecken (sorry!).
Leserkritik: Katze im Sack, Theater Bielefeld
Leserkritik: Katze im Sack, Regie: Christian Schlüter, Bielefeld – Wolfgang Ueding
Bielefeld, 16. Mai 2015. Am Premierenabend gingen draußen gerade die Regionalliga-Aufstiegsfeierlichkeiten des lokalen Fußballvereins in die Verlängerung, da plante drinnen ein Neureicher seinen endgültigen Durchbruch zur Oberklasse. Durch Vortäuschung und Hinterlist. Er wird an Zufall und Verwechslung komisch scheitern, ganz wie schon am vorvorletzten Jahrhundertende. Damals wuppte sich Georges Feydeau gerade mit schnellen Lustspielen zum König des Pariser Vaudeville hoch. Heute verlegt Regisseur Christian Schlüter den dünnen Stoff in eine imaginäre 50er Jahre Welt. Der Kern aber bleibt.
Der Süßstofffabrikant Pacarel möchte gern außer reich auch noch anerkannt werden. Also bestellt er einen hoffnungsvollen Sänger aus der Provinz, bindet ihn vertraglich, und will ihn samt einer von seiner Tochter selbstgebastelten Oper am örtlichen Theater herausbringen. Das verspricht viel Ehre für die Familie und liefert wackelige Gründe für viele Verwechslungen. Denn natürlich ist der prompt erscheinende junge Mann nicht der Tenor, für den ihn alle halten. Und natürlich verliebt der sich in Pacarels Frau, hält sie aber für die dessen Freundes. Während Pacarels Tochter lieber dem Scheinsänger verfällt als ihrem aufgezwungenen Verlobten. Der nun wieder hat einen Sprachfehler, den er aber auch nur vortäuscht, weil er sie gar nicht will und weil diese Sorte Komödie einfach jeden albernen Trick benutzt. Um ihn mehrfach zu brechen, was es noch lustiger macht.
Vertauschte Briefe, verpatzte Verabredungen, amouröse Peinlichkeiten und eine offensichtliche Lust an der Unmoral im Verborgenen treiben sämtliche Fälscher mehrfach wechselnd zu Fast-Paaren. Ein paar modernere Anspielungen auf „Monty Python“, „The Big Lebowski“, „Saturday Night Fever“ und, jedenfalls am Premierenabend, die Arminia, heben die brüchige Spießigkeit des Adenauer-Settings nicht auf. Sie dienen bloß dem Effekt und bieten den Schauspielern Gelegenheit für Körperkomik. Besonders Christina Huckle als irrtümlich Geliebte und Oliver Baierl als irrtümlicher Aufsteiger nutzen die weidlich.
Am Ende feierten draußen vor dem Theater Am Alten Markt immer noch einige Aufsteigerfans mit einem kleinen, verkehrsbehindernden Feuerchen. Fast als Fanal gegen das dem Original gehorchenden happy ending. Kauf' nicht die Katze im Sack. Glaub' nicht, das Glück liege in der Klassenerhebung. Auf der Bühne führt das amoureske Doppelbodenbrechen nämlich zu gar nichts außer Spaß.
Leserkritik: El Dschihad, Ballhaus Naunynstraße Berlin
„El Dschihad“: Dokumentartheater ohne klaren Zugriff

Das Projekt von Claudia Basrawi und ihrem Team klingt sehr interessant: zur Spielzeiteröffnung des Ballhaus Naunynstraße wollten sie in einem Dokumentartheaterabend dem facettenreichen Begriff "El Dschihad" auf den Grund gehen. Ein naheliegender Gedanke in einem Jahr, das mit dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" begann, in dem Meldungen über Geiselnahmen oder Zerstörungen von Kunstschätzen durch den IS einen Stammplatz in den Nachrichten haben und in dem ein Ende des syrischen Bürgerkriegs und des Leids der Flüchtlinge noch längst nicht abzusehen ist.

Dem El Dschihad-Abend ist auch einige Rechercherabeit anzumerken: aus den Archiven wurde beispielsweise ein Plan aus der Ära des deutschen Kaiserreichs ausgegraben. Max von Oppenheim wollte muslimische Kriegsgefangene in einem sogenannten „Halbmondlager“ in Wünsdorf bei Berlin mit islamistischen Ideen aufwiegeln und „die ganze mohemmadanische Welt zum wilden Aufstand entflammen“. Ausgerechnet dort, wo nur noch die Überreste einer hölzernen Moschee an die Instrumentalisierungsversuche aus dem Kaiserreich erinnern, soll demnächst ein Erstaufnahmelager für Flüchtlinge entstehen.

Es gäbe also genügend Ansatzpunkte für einen anregenden, lehrreichen Theaterabend. Dass das Projekt nicht gelungen ist, liegt vor allem daran, dass Claudia Basrawi, die den Abend mit einem autobiographischen Monolog eröffnet, und ihre Mitspieler Elmira Bahrami, Erdinç Güler, Mario Mentrup und Rahel Savoldelli ihr Material nicht in den Griff bekamen.

Mit gespielter Naivität stellen sie sich gegenseitig Fragen, spielen Experten-Interviews nach und springen durch die Jahrzehnte. Sie bemühen sich sehr darum, das ernste Thema möglichst komisch zu präsentieren, verheddern sich aber in einer Aneinanderreihung kleiner Schnipsel. Der Erkenntnisgewinn blieb deshalb leider gering. Schade, dieser Stoff hätte wesentlich mehr hergegeben.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25858-25858.html
Leserkritik: Zwei Herren aus Verona, Berliner Ensemble
Zwei Herren aus Verona, Berliner Ensemble, Pavillon

„Zwei Herren aus Verona“: Ernst Busch-Hochschüler holen aus Shakespeares Frühwerk das Beste heraus

Eine schlechtere Ausgangssituation hatten die sieben Studentinnen und Studenten der HfS Ernst Busch, die unter der Regie von Veit Schubert Zwei Herren aus Verona im Pavillon des Berliner Ensemble einstudierten. Diese Komödie gehört zum Frühwerk von William Shakespeare und ist vermutlich 1590/91 entstanden. Dass dieses Stück im Gegensatz zu Othello, Hamlet oder Romeo und Julia kaum auf den Spielplänen steht, hat seine Gründe: viele Themen und Motive werden angerissen, der Schluss wirkt unglaubwürdig. Die Dramaturgin Anika Bárdos urteilte bei der Einführung im Gartenhaus, dass es sich um einen Text voller Anfängerfehler handele, weil Shakespeare zu viel gewollt habe.

Dennoch schaffen es die jungen Talente, aus diesem Stoff einen wunderbaren Theaterabend zu machen. Die Übersetzung von Frank Günther wurde auf eine knapp zweistündige Fassung klug gekürzt, ihr frischer Ton und die schnellen Rollenwechsel sorgen für eine komischen, schwungvolle Inszenierung.

Aus dem sehr guten Ensemble ragen Leonard Scheicher und Felix Strobel als Valentin und Proteus heraus: der beste Freund wird im Streit um die begehrte Frau zum Intriganten. Zwischen all den Verwicklungen um nicht abgeschickte Briefe, chancenlose Nebenbuhler, sächselnde, aus Klappen im Boden auftauchende Waldbewohner und kauzige Kammerdiener bleibt genug Raum für eine feine Charakterisierung der Hauptfiguren. Zu dem gelungenen Theaterabend trägt auch die schöne musikalische Untermalung bei. Schon bevor sich der Vorhang hebt, gibt Felix Strobel mit der Gitarre eine Kostprobe seines Könnens.

Die Zwei Herren aus Verona sind seit ihrer Premiere im Dezember 2014 ein Publikumserfolg auf der kleinen Bühne des Berliner Ensembles und bieten die Chance, vielversprechende Talente bei ihren ersten Karriereschritten zu erleben.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25858-25858.html
Lesereinwurf: warum nicht Darmstadt?
Liebe nachtkritik, bei aller Liebe, ich muss da mal ein paar Zaubersprüche loswerden:
Ein Theater, wie jenes in Darmstadt, das immerhin nach einer wie auch immer relevanten, aber national weltberühmten Kritikerumfrage in Deutschland auf Platz 3 gelistet wird, und auf nachtkritik.de schonungslos in die klickzahl- und werbeeinahmeträchtigen Schlagzeilen gehoben wurde, als es mal im Personalgebälk krachte, wäre doch auch mal einen klitzekleinen Kritikerbesuch zur Saisoneröffnung wert. Wenn schon nicht zur gestrigen Premiere, dann doch wenigstens zur heutigen. Selbst die Besprechung einer weiteren Vorstellung wäre ja schon mal ein Fortschritt zur bisherigen Nichtbeachtung Darmstadts, die schon erwähnte einmalige Aufregung einmal beiseite gelassen. Obwohl selbst diese doch auch ein Grund wäre, mal zu berichten, wie es in Darmstadt weitergeht, oder ob, und überhaupt.
Andernfalls müsste ich leider mit Ariel und Caliban ein paar für euch dann eher unerfreuliche Takte wechseln, ihr wisst, das kann ich...
Calibanistan, 1611


Lieber Prospero,

In der letzten Spielzeit haben wir Darmstadt bereits gut abgedeckt. Um den "Sturm" wurde hier auch sehr gekämpft. Aber die Inszenierung kam an einem Tag heraus, als im deutschsprachigen Raum insgesamt 20 Premieren stattfanden. Etwa 50 können wir im Monat insgesamt nur besprechen. Besonders zu Spielzeitbeginn kriegt man dann nien alle Eröffnungspremieren unter. Da müssen wir manchmal Entscheidungen treffen, über die wir selber nicht glücklich sind. Unsere Berichterstattung über die Personalien hatte nichts mit Klickkalkül zu tun, sondern schlicht mit der Tatsache, dass wir es als unsere journalistische Aufgabe betrachten, diesen Themen eine überregionale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber daran sehen Sie auch: Wir haben Darmstadt im Blick und werden sicher ein amderes Mal kommen.

Herzliche Grüsße ais der Redaktion, Esther Slevogt
Leserkritiken: Back to Black
„Back to Black“: Tänzeln um den Tod in der Box des Deutschen Theaters

Der Anfang des Abends wirkt fast wie ein Meditationskurs: die Box des Deutschen Theaters ist bis auf Notbeleuchtung abgedunkelt, mit sonorer Stimme fordern die drei DT-Ensemblemitglieder Katrin Wichmann, Markwart Müller-Elmau und Thorsten Hierse das Publikum auf, sich auf die Dunkelheit einzulassen und die kommenden 90 Minuten über Kopfhörer zu verfolgen.

Das Regie-Duo Auftrag: Lorey, das sich selbst an der Grenze zwischen Performance und installativer Kunst verortet, hat sein „Back to Black“-Experiment im Programmheft als Schule für die Wahrnehmung folgendermaßen theoretisch aufgeladen: „Die Dinge, die uns umgeben, sind nicht einfach da und müssen nur passiv wahrgenommen werden. Unser Gehirn konstruiert sie, indem es alle Sinneseindrücke miteinander verbindet, verarbeitet, filtert und formt. Mithilfe einer spezifischen Zuschauersituaton trennen Auftrag: Lorey die Ebene der akustischen Wahrnehmung von der visuellen. Dahinter steckt der Versuch, die Wahrnehmung darauf zu lenken, wie wir wahrnehmen und mit der gleichzeitigen An- und Abwesenheit von Sinnesinformationen zu spielen. Hier eröffnet sich mithilfe des Theaters ein Raum, unser Verständnis von Tod als kulturelles und geschichtlich bedingtes Konstrukt zu erkennen. Darin liegt die Chance, die eigenen Wahrnehmungsmuster und die Gestalt der eigenen Realität zu befragen.“

Als das Licht wieder angeht, geht der Abend zum Glück nicht so verquast weiter. Zunächst schildern die Schauspieler sehr persönliche Erlebnisse, wie sie mitten im Alltag mit dem Tod konfrontiert wurden. Katrin Wichmann erzählt von einem Workshop mit Flüchtlingskindern in diesem Sommer, bei dem ein Jugendlicher ertrank. Thorsten Hierse berichtet von einem Ausflug, bei dem seine Mutter plötzlich das Bewusstsein verlor und erst nach einigen Minuten wiederbelebt werden konnte.

Im Saal wurde es bei diesen traurigen Schilderungen sehr still. Die Schauspieler legen nun schnell den Schalter um und versuchen für den Rest des Abends, auf möglichst humorvolle Art um die Themen Sterben und Tod zu kreisen. Katrin Wichmann stimmt den Gute-Laune-Song Dumb Ways to die an, ihre beiden Mitstreiter schlenkern mit ihren Armen und Beinen – genauso wie die Animationsfiguren im Video. So leichtfüßig tänzeln die Drei um ihr Thema auch im Rest des Abends herum, der streckenweise aber zu leichtgewichtig daherkommt.

Assoziativ kommen sie vom Hundertsten ins Tausendste, springen von den Sterbeszenen, die sie schon immer mal spielen wollten, über die letzten Worte und Mahlzeiten in US-Todeszellen zu einem weiteren Web-Video, das eine Anleitung gibt, wie man den eigenen Tod fingiert und dann – am besten in der Ostukraine – untertaucht. Wir erfahren außerdem, dass das Kunstblut am Deutschen Theater nach Himbeere schmeckt. Ganz basisdemokratisch wurde das ausdiskutiert, zur Auswahl standen noch die Geschmacksrichtungen Erdbeere und Pfefferminz.

Während Thorsten Hierse im Kugelhagel zu Boden sinkt und sich langsam eine Kunstblutlache um ihn herum ausbreitet, fragen sich seine Kollegen Katrin Wichmann und Markwart Müller-Elmau gegenseitig, was sie unbedingt noch erleben möchten, bevor sie sterben: ein Jahr in Paris leben, in einem Kostümschinken á la „Sissi“ mit wallenden, schönen Kleidern mitspielen, lange Gespräche mit guten Freunden führen. Als das Ping-Pong nach einigen Runden endet, hat das Publikum einen streckenweise unterhaltsamen Abend überstanden, der sein Thema nicht recht zu fassen kriegt, aber uns immerhin mit der interessanten Frage in den Herbst-Abend entlässt: Was will ich
vor dem Sterben unbedingt noch erleben?

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25965-25965.html
Leserkritiken: Diskussionsveranstaltung "Streit ums Politische"
"Streit ums Politische: Heimatloser Antikapitalismus?" im Studio der Schaubühne: den populistischen Bewegungen auf der Spur

Die Flüchtlinge werden wohl bald wieder vor verschlossenen Türen stehen, prognostiziert der Soziologe Heinz Bude zum Auftakt der Gesprächsreihe „Streit ums Politische“, die an der Schaubühne in Kooperation mit der Vodafone-Stiftung fortgesetzt wird. Seine düstere Analyse: die gesellschaftliche Mitte droht zwischen wachsendem Prekariat und einer reichen Oberschicht zerrieben zu werden. Der demokratische Kapitalismus kann seine Versprechen kaum noch einlösen. Linke Volksparteien werden fast in ganz Europa zum Auslaufmodell, neue Bewegungen entstehen am rechten Rand.

Am ersten von vier Abenden, die sich mit dem „heimatlosen Antikapitalismus“ auseinandersetzen wollen, ist Claus Leggewie zu Gast. Der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen engagierte sich in der 68er-Protestbewegung und hat die wissenschaftliche und öffentliche Debatte über gesellschaftliche Konflikte in den vergangenen Jahrzehnten mit zahlreichen Veröffentlichungen mitgeprägt.

In einer Tour d´horizon skizzierte Leggewie das antikapitalistische Denken der vergangenen anderthalb Jahrhunderte als ein „freiflottierendes“ Phänomen: Noch in den 1940er Jahren war Kapitalismuskritik auch in den westlichen Gesellschaften tief verwurzelt, ein bekanntes Beispiel ist das ganz der katholischen Soziallehre verpflichtete Ahlener Programm der CDU von 1947.

In den Nachkriegsjahrzehnten ist es gelungen, den Kapitalismus durch den Sozialstaat zu domestizieren und breite Bevölkerungsschichten am Wohlstand eines „Spätkapitalismus auf Pump“ teilhaben zu lassen: In den 1970ern kam es zu einem markanten Einschnitt: der Club of Rome und die Ökologiebewegung stellten die Frage nach den Grenzen des Wachstums. Maoistische und trotzkistische Kadergruppen debattierten an den Universitäten über die aus ihrer Sicht bevorstehende Revolution. Weltpolitisch setzte sich jedoch plötzlich die Deregulierungsphilosophie der Chicago-Schule in den Regierungsprogrammen von Thatcher und Reagan durch, China begann seinen langen Marsch in den Staatskapitalismus.

Leggewie zeichnete das Bild einer seit den 80er Jahren anhaltenden Dauerkrise. Gleichzeitig erstarkte der Populismus an den Rändern, vor allem dort ist der antikapitalistische Diskurs heute zu Hause. Die Front National-Vorsitzende Marine Le Pen wettert gegen die Ausbeutung billiger „Arbeitssklaven“, auf der linken Seite des politischen Spektrums wird Jeremy Corbyn mit seiner entschiedenen Absage an Tony Blairs „New Labour“-Kurs und der Forderung nach Verstaatlichungen der umjubelte Star der Urwahlen um den Parteivorsitz in Großbritannien.

An dem Abend dominierte die Ratlosigkeit, mit welchen Rezepten man diesem Populismus begegnen und kritisches politisches Denken wieder satisfaktionsfähig machen kann. Rückbesinnung auf die Rezepte von John Maynard Keynes? Oder eine sozial-ökologisches Modernisierung, die sich Rot-Grün auf die Fahnen geschrieben hatte, bevor Gerhard Schröder das Ruder übernommen hat?

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25965-25965.html
Leserkritiken: Schwankender Westen
"Schwankender Westen" mit Udo di Fabio und Harald Schmidt, Auditorium Friedrichstraße

Wann haben wir eigentlich das letzte Mal etwas von Harald Schmidt gehört? In diesem Jahr, in dem sich die Schlagzeilen nur so überschlagen, wird so richtig klar, welche Leerstelle er hinterlassen hat. Harald Schmidt fehlt mit seiner bissigen, manchmal auch zynischen, immer lebensklugen Rundschau über die Aufgeregheiten des Politikberiebs und mit seinem Spott über aufgeblasene Nichtigkeiten im Medienbusiness und Kunstgewerbe.

Am Donnerstag Abend durften wir ihn auf Einladung des C.H.Beck-Verlags im Auditorium Friedrichstraße erleben. Es war absehbar, dass er sich bei der Buchvorstellung von Schwankender Westen des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio nicht brav auf die Rolle des Stichwortgebers beschränken würde. Harald Schmidt lief sich im Lauf des Abends wieder warm, setzte hier einen kleinen Nadelstich mit einer Anekdote über die schon fast vergessenen „Stuttgart 21“-Wutbürger, ließ dort eine kleine Sotisse aus dem Gehege seiner Zähne fallen.

Ansonsten bot der Abend wenig Neues: in gewohnt selbstverliebter Art zitierte Udo di Fabio seine bekannten Stichworte von Pico della Mirandola bis zur normativen Doppelhelix. Wer wollte seiner Gegenwartsanalyse widersprechen, dass wir uns in einem merkwürdigen Schwebezustand zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Öffnung der Grenzen und neuen Kontrollen befinden?

Schmidt und di Fabio endeten am selben Punkt wie Leggewie und Bude: der Druck der Populisten macht es den „Krawattenträgern“ und „Eliten“ schwerer, auf die Krisen besonnen zu reagieren. Di Fabio konstatierte „Verkantungen“ und fragte bang, ob die Stabilitätskultur der gesellschaftlichen Mitte noch tragfähig sei.

Das Selbstbewusstsein der westlichen Gesellschaften sei durch Finanz- und Staatsschuldenkrise erschüttert, die Träume á la Francis Fukuyama von einer Idylle nach 1989 geplatzt. Als Ausweg hatte di Fabio nur anzubieten, dass wir unser kulturelles Erbe besser kennenlernen und unserer Identität selbstvergewissern müssten: das sind natürlich Steilvorlagen für weitere bohrende Sticheleien von Schmidt, der mit Seitenhieben und Anekdoten die Frage umkreiste, was sich denn nun eigentlich hinter den Schlagworten vom kulturellen Erbe des Westens und der Aufklärung verberge.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/25965-25965.html
Leserkritiken: Dracula, Oldenburg
Dracula in Oldenburg Kleines Haus.

Premiere mit berechtigt tosendem Applaus. Schauspieler bis auf einen gebremsten Dracula wunderbar, was aber nicht stoert.

Bild, Ton, Ausstattung, Kostuem ueppig und lustig.

Komplett perfekte Uebertragung ins Element of Crime. Herzzerreisend lustig ohne beliebigen Trash.

Keine Minute Spannungsabfall. Grosse Projektion ohne Videokunstmuell.

Muss man hin und nur wenige Spieltage.
Leserkritiken - Rainald Grebes "Westberlin" an der Schaubühne
„Westberlin“: Rainald Grebes Nostalgie-Revue an der Schaubühne

Sieben Zeitzeugen, echte „Insulaner“ aus dem Kalten Krieg, machen sich gemeinsam mit Rainald Grebe auf eine Zeitreise nach Westberlin.

In einer runtergekommenen, verqualmten Kaschemme hängen sie ihren Jugenderinnerungen nach. Evelyn, mit 84 Jahren die Älteste, berichtet von den Rosinenbombern der Luftbrücke. Die Jüngeren erzählen von ihren Erlebnissen auf dem Straßenstrich hinter dem Bahnhof Zoo oder einem gescheiterten Experiment in einem besetzten Haus im hintersten Winkel Kreuzbergs: die Kommune kapitulierte am Ende vor den Bergen ungespülten Geschirrs und der Ratten.

Zwischendurch werden berühmte Szenen wie der Sprung des Grenzsoldaten am Tag des Mauerbaus nachgespielt. David Bowie, Rolf Eden, Wolfgang Neuss und Christiane F. geistern durchs Bühnenbild, gegen Ende wird der Birkenwald aus Peter Steins „Sommergäste“-Inszenierung beschworen, die 1974 an der Schaubühne damals noch am Halleschen Ufer Premiere hatte.

Die Zeitzeugenberichte sind authentisch. Der Rest des etwas mehr als zweistündigen Abends kommt streckenweise unterhaltsam, aber doch wesentlich uninspirierter daher, als wir es von Rainald Grebe gewohnt sind. Der gebürtige Kölner, der mit seinen Oden auf Thüringen, Brandenburg und die Pärchen in den gentrifizierten Wohngebieten von Mitte und Prenzlauer Berg bekannt wurde, fremdelt auf West-Berliner Terrain.

Der Grundton des Abends ist nostalgisch, der Altersdurchschnitt des Publikums recht hoch. „Far Out“ und „Dschungel“ sind Geschichte und von denen, die das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Frontstadt prägten und an diesem Abend aufgezählt werden, lebt auch niemand mehr: Harald Juhnke, Brigitte Mira, Günter Pfitzmann, Otto Sander… Am stärksten bleiben die beiden Gesangseinlagen in Erinnerung, als das gemischte Ensemble aus West-Berliner Bürgern und Schaubühnen-Profis „Heroes“ von David Bowie anstimmt und Iggy Pops „The Passenger“ covert.

Bleibt nur noch die Frage: War West-Berlin wirklich so piefig, wie es bei dieser Show am Ku’damm dargestellt wird?

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26048-26048.html
Leserkritiken - Thisisitgirl im Studio der Schaubühne
"Thisisitgirl": Feminismus-Revue zwischen Lachen und Kopfschütteln im Studio der Schaubühne

Als einen „Abend über Frauen und Fragen und Frauenfragen für Frauen und Männer“ hat die Schaubühne ihre neue Produktion „thisisitgirl“ angekündigt. Herausgekommen ist ein typischer Patrick Wengenroth-Abend: temporeich, mit Hang zu stark überzeichneter Komik und Travestie, manchmal aber gefährlich nah am Trash. Ein Abend, bei dem die eingeflochtenen Diskurs-Schnipsel feministischer Theorie nur eine Nebenrolle spielen und bei dem das Publikum zwischen Lachen und Kopfschütteln hin- und hergerissen ist.

In einem spießigen 50er-Jahre-Wohnzimmer-Ambiente saugt der Regisseur erst noch mal persönlich durch. Als er sich dezent zurückgezogen hat, übernimmt Iris Becher, die einzige Frau, die an diesem Abend auf der Bühne steht, das Kommando. Sie ruft nacheinander ihre drei Kollegen Ulrich Hoppe, Laurenz Laufenberg und Andreas Schröders auf die Bühne, stellt sie kurz vor und platziert sie dann in einer Ecke.

Die Sketche und Songs dieser etwas mehr als zweistündigen Revue werden lose von einer Rahmenhandlung zusammengehalten: Die Sessel werden zur Psycho-Couch, auf der Iris Becher sich als Psychotherapeutin um die drei verzweifelten Häuflein Elend kümmert, die von Panikattacken und Ödipus-Komplex geplagt unter der Last, traditionelle männliche Rollenbilder erfüllen zu müssen, zusammengebrochen sind. Das kommt stellenweise äußerst platt daher, z.B. mit dem Running-gag, dass die drei Schauspieler regelmäßig daran scheitern, die Tür zur Praxis zu öffnen.

In einem Spiel mit dem zum Beispiel hier kritisierten sexualisierten Blick auf Schauspielerinnen wird Laurenz Laufenberg von seiner Kollegin Iris Becher auf sein blondes, blauäugiges Äußeres reduziert und als „Traumschwiegersohn, Ryan Gosling unter den Berliner Schauspielern“ vorgestellt. Sie taxiert ihren Kollegen mit Blicken und zieht ihn bis auf verrutschendes Träger-Hemdchen und Frauen-Unterwäsche aus, mit der er durch den Abend stakst.

Zwischendurch setzt Iris Becher von der Tribüne aus zu einer Wutrede an, die entfernt an Thomas Wodiankas Auftritt in „Small Town Boy“ erinnert, ohne dessen Intensität zu erreichen. Auf der Bühne dominieren aber weiterhin Zerrbilder von Männlichkeit: grölende Fußballfans berauschen sich an ihren Gesängen und am Bier. Ein Büroangestellter buckelt vor dem Chef und reagiert seinen Frust einem Rap über das Aufreißen von Frauen im Club ab.

Der schnelle Wechsel kleiner Miniaturen hat trotz einiger flacher und zu klamaukiger Passagen auch unterhaltsame Momente. Tiefere Erkenntnisse zu Feminismus und Geschlechterfragen sind an diesem Abend jedoch kaum zu erwarten.
Leserkritik - On Fire, Constanza Macras im Gorki Theater
"On Fire": Gastspiel von Constanza Macras am Gorki

Constanza Macras und ihr Dorky Park-Ensemble produzieren Schlag auf Schlag neue Chroeographien: ihre „Ghosts“ hatten gerade erst Premiere an der Schaubühne, nun gastiert On fire am Gorki zum ersten Mal in Europa. Diesen Abend entwickelte Macras gemeinsam mit südafrikanischen Tänzerinnen und Tänzern, die Premiere fand im Februar in Johannesburg statt.

Das Grundproblem dieser Inszenierung über die Frage, „wie Traditionen und Riten in urbanen Zentren heute aussehen“, haben Elisabeth Nehring im Deutschlandfunk und Sandra Luzina im Tagesspiegel gut auf den Punkt gebracht: die Stereotype werden temporeich auseinandergenommen und durcheinandergewirbelt. Aber viele Anspielungen auf arikanische Mythen und Riten sowie auf die aktuelle Situation im Post-Apartheid-Südafrika sind ohne fundierte Einführung kaum verständlich.

In die 90 Minuten, die über weite Strecken ohne Dialog auskommen, hat Constanza Macras (zu) vieles hineingepackt, aber doch nur angerissen. Ihr „On Fire“-Abend dreht sich in Hochgeschwindigkeit um sich selbst und rauscht somit über weite Strecken an seinem Publikum vorbei.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26048-26048.html
Leserkritik - Buchvorstellung "Protest! Wie man Mächtige ..."
Buchvorstellung/Diskussion: "Protest! Wie man Mächtige das Fürchten lehrt", Studio der Schaubühne

Srdja Popovic über politischen Protest im Schaubühnen-Studio: Vom Rocksänger zum weltweiten Berater von NGOs

Eine muntere Einführung in die Strategien von Protestbewegungen und zivilen Ungehorsam gab der serbische Aktivist Srdja Popovic. Wie es sich für ein mittlerweile global tätigen Vortragsreisenden und Berater gehört, startete er den Abend im leider nicht gut besuchten Studio der Schaubühne mit einer kurzen, knackigen, launig vorgetragenen Power-Point-Präsentation.

Im Gespräch mit taz-Redakteur Martin Reichert und in seinen Antworten auf Publikumsfragen stellte er die Quintessenz seines Buches Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt vor : Wer gegen Diktatoren wie Assad oder Milosevic kämpfen will, dürfte hoffnungslos unterlegen sein, wenn er auf Gewalt setzt. Stattdessen sollten sich Protestbewegungen kreative Aktionen ausdenken, mit denen sie das Regime im besten Fall der Lächerlichkeit preisgeben oder zumindest in unangenehme Situationen bringen. Als Beispiel nannte er das Abspielen verbotener Lieder auf Recordern, die überall in der Stadt in Papierkörben versteckt waren, so dass die Sicherheitskräfte hektisch damit beschäftigt waren, im Müll zu wühlen.

Natürlich gehöre zu erfolgreichem Protest auch immer eine durchdachte Strategie, aber den ersten Stein müsse man durch sympathische Aktionen ins Rollen bringen. Unbedingt ist auch darauf zu achten, dass die Protestbewegung sich nicht nur auf kritische, junge Akademiker beschränkt, da sie dann so folgenlos zu verpuffen droht wie die Demonstrationen und Sitzblockaden in Hongkong. Die Aktivisten müssen für weite Teile der Gesellschaft attraktiv sein und immer auch den Mainstream im Blick haben.

Lesenswert ist auch dieses Guardian-Porträt (https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/macht-laune) über Popovic, der als junger Rocksänger in Belgrad in die Otpor-Protestwelle in Belgrad hineinrutschte, die im Herbst 2000 zum Sturz von Milosevic führte.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26048-26048.html
Leserkritiken: Claus Peymann liest "Holzfällen" am BE
One Man Show im Berliner Ensemble

Claus Peymann liest „Holzfällen. Eine Erregung“ von Thomas Bernhard

Am 8. September, einem bereits kühlen Berliner Herbstabend standen wir im Foyer des Berliner Ensemble, unter vorwiegend älteren Damen und Herren, und warteten ungeduldig auf Peymanns groß angekündigte Lesung. Es wird, alle warten ungeduldig, eine Verspätung wegen der noch zu dekorierenden Bühne bekannt gegeben. Daraufhin schimpft eine ältere Dame, ganz im Stil Bernhards, dem Verspätungen überaus zuwider waren, „nur Peymann kann so etwas zumuten“.

Peymann hatte Holzfällen bereits im Juli in Bad Vöslau bei der Eröffnung des „Schwimmenden Salon“ gelesen. Eine Darbietung, die er, wie er beim Steigen auf die grell beleuchtete Bühne kundtut, als misslungen betrachtet. Er hoffe, wie er sagt, nun auf einen Erfolg im zweiten Versuch zu Hause im BE. Die Bühne des bürgerlichen Foyers, dessen Wände von Spiegeln bedeckt sind, ist trotz der angeblich so aufwändigen Dekorierung karg. Es findet sich nur ein Ohrensessel, während von der Decke ein mit Hand geschriebenes Zitat von Voltaire, das Motto von Holzfällen, hängt: „Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich.“

Der ehemalige Direktor des Wiener Burgtheaters, seit 15 Jahren Intendant am BE, liest mit gebrochener, fast heiserer Stimme, wobei er einem beinahe wie ein Opa vorkommt, der seinen Enkeln ein Kinderbuch vorliest. Obgleich Peymann mit dem Text innig vertraut ist, entfallen ihm beim Lesen oft die Worte. Auffallend ist, dass Peymann, wie ein Theatermann die Geschichte des künstlerischen Abends bei den Auersberger schauspielert. Bei jeder Wiederholung betont er die Aussprache aggressiver, trifft jedoch selten den richtigen Ton und wird so laut, dass er beinahe schreit. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf den gelesenen Text: Das Schimpfen, Bernhards Merkmal, wird von Peymann durch seine gekünstelte Schauspielerei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die zentrale Figur des Ich-Erzählers wird von Peymann dabei verschlungen, womit die Musikalität des Bernhardschen Texts in Peymanns Stimme untergeht. Dass Peymann die einzelnen Seiten der von Angelika Hager gekürzten Fassung auch noch gewalttätig umblättert, schlägt in dieselbe Kerbe und ist ermüdend.

Im Lauf der Lesung gerät Peymann, unruhig gestikulierend, ins Schwitzen und verfällt immer mehr der Atemlosigkeit. Jeder, der es einmal versucht hat, weiß, dass sich Bernhards Texte am Schönsten im eigenen Kopf lesen. Daher ist das Wagnis, Bernhard laut vorzulesen immer mit großem Respekt zu betrachten. Umso mehr stellt sich da die Frage, weshalb Peymann auf eine Lesung insistiert, während er de facto eine Vorführung gibt? Das theatrale Element misst die zentrale Idee des Texts, das Selbstgespräch, dass die Figur des Erzählers ruhig in ihrem eigenen Kopf führt. Da wird nicht gestikuliert, aufgestanden oder sonst wie bewegt, sondern still gesessen. Die Beweglichkeit und Dynamik besteht allein in der Kette der Gedanken, die den Erzähler während des Abends in der Wiener Wohnung zurück zu den Gefühlen und Ereignissen von vor 30 Jahren führen und ihn in eine höchst innerliche Erregung versetzen.

Peymann beeilt sich sehr beim Vorlesen des Textes, wobei es scheint, als hätte er den ganzen Abend nur auf jene eine Stelle gewartet, in der der Burgschauspieler gefragt wurde, was er denn von dem neuen Mann, dem deutschen Theatergenie, im Burgtheater halte? Peymann geniert sich auch nicht den impliziten Bezug zu explizieren und macht dem Publikum damit endgültig klar, worum es bei der Lesung geht: ihn selbst! Auch wenn Peymann mit dem Bezug nicht falsch liegt, er ist 1986 Burgdirektor geworden, ist jedoch das offene Aufdecken der Identität der Figur (während der Lesung!) fehl am Platz, denn der Text von Bernhard lebt, wie Daniel Kehlmann einmal schrieb, von dem komplexen Verhältnis zwischen Fiktion und Realität, was auch bedeutetet, dass die eindeutige Identifikation einer Figur mit einer Person in der Realität, den Tod des Textes bedeutet. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Claus Peymann die Lesungen von Bernhards Texten besser seinem Kollegen Hermann Beil überlassen und sich auf Inszenierungen, wie jene von „Die Macht der Gewohnheit“ konzentrieren, sollte. Das macht er deutlich besser.
Leserkritiken: zur Peymann-Lesung
Wenn Bernhard je ein Selbstgespräch ruhig im Kopf geführt hätte, gäbe es wohl seine ganze Literatur nicht.

Dass er seine Kopfgeburten in Bühnenfiguren reden hat lassen, weist wohl eher auf den Wunsch hin Dynamik und Beweglichkeit nicht nur als Gedankenketten erlebt zu wissen.

Wie weit es heute noch möglich ist, die "künstlerische Abendgesellschaft" der 80ziger Jahre in Wien, samt jener eitlen Burgschauspieler, die ja so gegen Bernhard und Peymann revolutioniert haben, in Berlin im Foyer begreifbar zu machen, kann ich natürlich nicht beurteilen. In Bad Vöslau, waren auch viele ältere Menschen, die diese Zeit und den Hochmut gegen Bernhard und Peymann noch erlebt haben. Da entstand in der Erinnerung alles wieder. Auch an die Freude, dass Bernhard und Peymann als Sieger aus diesen Kulturkampf hervorgegangen sind. Ich habe mit mehreren Besuchern darüber gesprochen, die das auch so sahen. Warum Peymann die Lesung als nicht gelungen bezeichnet, weiß ich nicht. Sein Wiener Publikum war anderer Meinung.
Leserkritiken: Rainald Grebes Westberlin
Jede Geschichte ist eingebettet in eine Spielsituation, wird von ihr auch ironisch gebrochen und erhält eine Distanz, die sie nur noch wahrhaftiger erscheinen lassen. Hier blitzen Leben auf, zu kurz, die gemeinsam mit einer Vielzahl anderer ein Bild malen könnten, von dem, was West-Berlin gewesen sein mag. Die mediale Bespiegelung durchbrechen sie nicht. Und so führt Grebe eine Parade bekannter Bilder und Episoden auf: Es geht um die Luftbrücke und den Mauerbau, um Alltagsprobleme wie die chronische Wohnungsnot, die Pfitzmanns und Bowies und Juhnkes dürfen ebenso wenig fehlen wie Christiane F., Grebe gibt den Langhans und die Hagen und den späten Neuss (stilecht in seinem fotoverklebten Zimmer), dem schwulen Nachtleben wird ebenso Tribut gezollt wie dem Café Kranzler und der alten Schaubühne – Grebe lässt eine Reminiszenz an Peter Steins legendäre Sommergäste spielen und schwadroniert über den Geruch der 300 Birken des Bühnenbilds. Liselotte Pulver tanzt auf dem Tisch, man singt “Heroes” von Davis Bowie und lauscht Kennedys Rede, bevor Iggy Pop am Ende alle Stühle und Tische umstößt. Zurück sind wir in der Stunde Null, am Anfang, wie in diese Torso-Stadt schon so manches mal erlebte.

Grebe selbst hält sich ungewöhnlich stark zurück. Lange dauert es, bis er überhaupt erscheint, und erst als er die West-Berlin-Nostalgie wegwischt, in dem er seine eigene Vergangenheit im Ost-Berlin der frühen 1990er verklärt, übernimmt er so etwas wie Kontrolle über den Abend. Doch auch im Rolf-Eden-Kostüm bleibt er Außenstehender, Beobachter, Nicht-so-recht-Verstehen-Könner. Sein Blick auf West-Berlin hat etwas antiquarisches, ist getränkt von einer Anti-Nostalgie, die denn doch verklärt, wo sie aufklären, verdeckt, wo sie entdecken sollte. Westberlin ist ein Abend, der von der Macht medial vermittelter Klischees handelt und sich selbiger nie ganz entziehen kann. Und der doch in seiner Collagenhaftigkeit, seiner Wertungsverweigerung, in der jede Assoziation, jede Vignette gleich wichtig ist, und in der in kurzen Momenten aufblitzenden Wahrhaftigkeit gelebter Leben, in der Reibung zwischen Wahrheit und Klischee, deren Grenzen schnell verschwimmen, andeutet, warum dieses seltsame Gebilde, bei dem schon die Frage, ob man es mit oder ohne Bindestrich schreibt (Grebe wählt sicher nicht zufällig die DDR-Variante), von existenzieller Bedeutung schien, eine solche Faszination ausübte und dies – die zahlreichen Film- und sonstigen Projekte, die sich derzeit damit befassen, sprechen eine deutliche Sprache – bis heute tut. Kein großer Abend und auch kein kleiner. Oder vielleicht beides gleichzeitig: weltbewegend bedeutsam und ungeheuer trivial. Wie West-Berlin, Westberlin oder Berlin (West) eben.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/10/13/currywurst-im-birkenhain/
Leserkritiken: Les Contes d'Hoffmann, Komische Oper Berlin
„Les Contes d´Hoffmann“ an der Komischen Oper: Barrie Koskys Ideen zünden diesmal nicht

Jaques Offenbach hinterließ „Les Contes d´Hoffmann“ (noch bekannter unter dem deutschen Titel „Hoffmanns Erzählungen“) als unfertige Materialsammlung, dennoch wurde das Werk zum Welterfolg. Jeder Regisseur muss seine eigenen Schneisen durch den Wust an verschiedenen Fassungen schlagen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgetürmt haben. Ulrich Lenz, der Chefdramaturg der Komischen Oper, gab dankenswerterweise eine kenntnisreiche, ausführliche Einführungsgeschichte in die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Werks.

Dieses Unfertige wäre eigentlich wie geschaffen als Spielwiese für Barrie Kosky, den Intendanten der Komischen Oper, der zur Spielzeit-Eröffnung selbst Regie führt. Seine Inszenierungen sprühen vor Ideen, überzeugen durch ihren Witz und überraschen mit neuen Lesarten. Leider springt bei „Hoffmanns Erzählungen“ diesmal der Funke jedoch nicht über.

Er entschied sich, die Titelfigur auf drei Personen aufzusplitten: Hoffmann wird vom Schauspieler Uwe Schönbeck sowie den beiden Sängern Dominik Köninger und Edgaras Montvidas verkörpert. Als armer Tropf sitzt Schönbeck im Dunkeln auf einer abschüssigen Rampe inmitten eines Meeres leerer Flaschen. Bei solch düsteren Szenen wähnt man sich eher in einer Inszenierung von Michael Thalheimer und seinem Bühnenbildner Olaf Altmann als bei Kosky.

Nicole Chevalier beeindruckt zwar in ihrer Vierfach-Rolle als Stella, Olympia, Antonia und Giulietta, die durch die Phantasien in Hoffmanns alkoholgeschwängertem Kopf geistern. Daraus wird aber kein wilder Galopp und erst recht kein albtraumartiger Horrortrip, wie in der Einführung versprochen worden war. Der gesamte Abend bleibt ungewohnt ideenlos und brav, die angezogene Handbremse löst sich nicht. Georg Kasch kritisierte in der Berliner Morgenpost: „Am Ende ist einem dieser passive Kopferotiker einfach egal. Zumal das Unheimliche seiner Fantasien merkwürdig abstrakt bleibt.“

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26192-26192.html
Leserkritiken: Toxik, HAU Berlin
„Toxik“: Rate-Krimi von machina eX im HAU 3

Wer sich durch den Kreuzberger Hinterhof bis in den 2. Stock bis ins HAU 3 durchgekämpft hat, hat schon mal die erste Bewährungsprobe bei „Toxik“, dem neuen Abend von „machina eX“ und Martin Ganteföhr, bestanden. Als auch die letzten der 12 Zuschauer eingetrudelt sind, öffnet sich für die Gruppe die Tür zu einem dunklen, langgestreckten Raum. Die meisten treten recht zögerlich ein und tasten sich dann zum Krankenbett der Frau M. (Lea Willkowsky) vor.

Gemeinsam mit dieser verstörten Frau macht sich die Gruppe auf eine 90minütige Spurensuche. Alle Teilnehmer sind ständig in Aktion: unter Zeitdruck muss der nächste Code geknackt werden, bevor es dann gleich zum übernächsten Beweismittel weitergeht. Mit dem Rateteam, das sich am Mittwoch Abend im HAU 3 zusammengefunden hat, habe ich einen Glücksgriff getan. In der sehr jungen, studentisch dominierten Gruppe sind alle mit Begeisterung bei der Sache. Durch ein gutes Zusammenspiel und dank einiger Geistesblitze in den jeweils letzten Sekunden konnten fast alle Rätsel des Indizien-Parcours gelöst werden.

Dieser Abend steht und fällt mit den Erfolgserlebnissen und der Gruppendynamik: Einige Kritiken blieben sehr verhalten und beklagten sich, dass ihre Teams zu sehr im Nebel stocherten. Wenn es nicht gelingt, zumindest mehr als die Hälfte der Rätsel zu lösen, steht man am Ende mit Puzzleteilen, die nicht zueinander passen wollen, und geht mit leeren Händen nach Hause.

Wenn man dagegen das Glück hat, ein gut funktionierendes Team zu erwischen, macht das Knobeln Spaß und wird durch eine schlüssige Auflösung belohnt, die hier natürlich nicht verraten werden darf.

Die vier Schauspieler mischen sich unter die Gruppe, besonders die aufdringliche Nachbarin (Katharina Schenk) sucht ständig Kontakt und raunt uns etwas ins Ohr, wobei man nie sicher sein kann: Ist das die richtige Fährte? Oder will sie uns nur ablenken? „Toxik“ ist eine sehr unterhaltsame Alternative zum Sonntagabend-Krimi und eine willkommene Abwechslung zu den klassischen Theaterabenden, die man vom Parkett aus verfolgt.

Die weiteren Termine im HAU 3 bis zum 21. Oktober sind leider bereits ausverkauft.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26192-26192.html
Leserkritiken: Starman, Sven Ratzke im Tipi Belrin
David Bowie-Hommage: „Starman“-Premiere von Sven Ratzke im tipi

An David Bowie kommt man derzeit nur schwer vorbei: Vor einem Jahr widmete ihm der Martin Gropius-Bau eine Retrospektive. In Rainald Grebes „Westberlin“-Revue an der Schaubühne durfte er natürlich auch nicht fehlen, sein „Heroes“ war sogar einer der Höhepunkte der vor sich hinplätschernden Show.

Nun widmet ihm Sven Ratzke einen ganzen Abend: „Starman“ hatte am 13. Oktober im tipi am Kanzleramt Premiere und ist dort noch am 17. und 18. Oktober zu sehen, bevor die Tour beginnt.

In seiner androgynen, schillernden Erscheinung, die von den hochtoupierten roten Haaren bis zu den schwarzen High Heels perfekt aufeinander abgestimmt ist, wirkt Ratzke, als sei er gerade mit einer Zeitmaschine aus den 70er Jahren im Regierungsviertel gelandet. Gemeinsam mit seiner dreiköpfigen Band bietet der deutsch-niederländische Entertainer ein gelungenes Konzert aus Bowie-Nummern, das sich bis hin zu „Heroes“ dramaturgisch geschickt steigert.

Zwischen den Songs nimmt er sein Publikum im vollbesetzten Kleinkunstzeit mit auf versponnene Trips durch Anekdoten, die manchmal zum Schmunzeln sind, sich aber auch manchmal allzu sehr verheddern. Bevor er wieder zu dem zurückkehrt, was er am Besten kann, nämlich zu singen, lässt Ratzke meistens noch eine neckische Bemerkung über die bedauernswerten Gäste in der ersten Reihe fallen. Vor allem der Tourist, den er im Lauf des Abends einfach nur noch als „Mannheim“ abspricht, bekommt sein Fett weg. Aber das sind wir ja von Ratzke schon aus früheren Prigrammen wie „Hedwig and the angry Inch“ gewohnt.

Ratzke bekommt glücklicherweise aber immer noch rechtzeitig die Kurve, so dass er mit „Starman“ sein Ziel erreicht: eine gelungene Hommage an David Bowie zu bieten.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26192-26192.html
Leserkritiken: X-Freunde, Theater unterm Dach Berlin
"X-Freunde", Theater unterm Dach (Gastspiel: Box des Deutschen Theaters Berlin)

Selbstausbeutung des Kreativprekariats

Hysterisch strampeln sich die drei Figuren auf der fast leeren Bühne durch das Hamsterrad ihres Lebens. Felicia Zeller nimmt in ihrem Stück „X-Freunde“ die Selbstausbeutung des Kreativprekariats aufs Korn: ein Abend, der Pflichtprogramm für die bis zum Burn-out von Projekt zu Projekt weiterhetzenden Mitarbeiter der PR-Agenturen und Unternehmensberater-Szene sein sollte.

Tilla Kratochwil, Jaron Löwenberg und Christoph Schüchner spielen die drei bedauernswerten Turbobeschleuniger, die dem Traum vom Glück vergeblich hinterherjagen, in Stephan Thiels Inszenierung, die in der Box des Deutschen Theaters Berlin gastierte und noch 2x (am 17. und 18. Oktober) im Theater unterm Dach zu sehen sein wird.

Für die eine sind die spöttisch hochgezogenen Mundwinkel des Projekt-Koordinationsmanagers auf die Dauer so unerträglich, dass sie in ihrer Agentur kündigt und sich lieber selbständig macht. Der Neustart endet absehbar im Fiasko: dauertelefonierend preist sie ihr Anti-Gleichgültigkeits-Konzept an, während ihr arbeitsloser Mann orientierungslos zwischen Kühlschrank, Fernseher und Baumarkt schlurft. Der Dritte im Bunde ist ein Künstler, der ständig twittert oder mit seiner Kuratorin telefoniert, aber bei seinem Skulpturen-Projekt „X-Freunde“ nicht vom Fleck kommt.

Die Inszenierung kreist 90 Minuten lang um die Neurosen durchaus realistisch dargestellter Großstädter. Bissige Dialoge und hingeknallte Satzfetzen wechseln sich ab. Kritisch bleibt anzumerken, dass auch dieser Abend Gefahr läuft, in seinem Hamsterrad auf der Stelle zu treten. Die Botschaft ist schnell angekommen, wird nur immer wieder neu ausgepinselt: Tillmann Strauß und Jule Böwe haben das Drama der ständig super-busy um sich selbst rotierenden Jobnomaden und Workaholics in Falk Richters Zeitdiagnosen-Choreographie „Never forever“ in einem kurzen Sketch prägnanter und unterhaltsamer vorgeführt.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26192-26192.html
Leserkritiken: Felix Krull, Berliner Ensemble
"Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", Berliner Ensemble/Pavillon

Die beiden Ernst Busch-Schauspielstudenten Leonard Scheicher und Felix Strobel, die in der Shakespeare-Komödie „Zwei Herren aus Verona“ überzeugten, sind derzeit noch an einem weiteren Abend zu erleben. Für die kleine Bühne im Pavillon des Berliner Ensembles haben sie sich einige Szenen aus Thomas Manns Roman „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ herausgepickt.

Während einer unterhaltsamen, knappen Stunde wirbeln sie in schnellem Rollentausch durch ihre Best-of-Auswahl aus dem Klassiker. Natürlich dürfen die berühmte Musterungsszene, bei der Krull einen epileptischen Anfall simuliert, ebenso wenig fehlen wie seine erfolgreichen Versuche, sich vor der Schule zu drücken. Auch bei den Szenen im Pariser Luxushotel, wo der Sohn des bankrotten Schaumweinfabrikanten, landet, kommen die beiden Schauspieler fast völlig ohne Requisiten aus.

Wie gut die beiden Talente aufeinander eingespielt sind, merkt man vor allem bei den turbulenten Szenen in der zweiten Hälfte: als Krull der exzentrischen Madame Houpflè in die Hände fällt, als Lord Kilmarnock ihn als zukünftigen Kammerdiener anwerben möchte und er schließlich vom Marquis de Venosta ein Angebot bekommt, das er nicht ablehnen kann.

„Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ sind eine amüsante, kleine Zugabe. Ihr Duo-Auftritt ist aber nicht so überzeugend wie die „Zwei Herren aus Verona“, wo Scheicher und Strobel in eine gelungene Ensemble-Leistung eingebettet und vom Regisseur Veit Schubert noch besser geführt worden waren.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26192-26192.html
Leserkritiken: Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind, Schauspiel Leipzig
„Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind" von Bernhard Studlar in der Diskothek am Schauspiel Leipzig

Der Hausherr einer Dachgeschosswohnung im 8. Stock überrascht bei den Vorbereitungen zu einer Party auf seiner Terrasse einen ungebetenen Gast, eine junge, lebensmüde Frau. Diese findet schnell gefallen an der Situation und zwingt den Gastgeber mit dessen Pistole, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wer sich am Ende der ausufernden Party von der Terrasse stürzen wird, bleibt dabei offen. Der österreichische Autor Bernhard Studlar lässt in seinem neuen Stück „Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind" eine illustre Gesellschaft von typischen Großstädtern aus der bürgerlichen Mittelschicht aufeinandertreffen. Lauter Figurenklischees von Nichtrauchern, Biofanatikern, Ökokleingärtnern, Linksliberalen oder Anlagestrategen und vor allem gestresste Eltern am Rand des Wahnsinns, die mit zunehmendem Alkoholkonsum ihre Kontenance fahren und es danach umso mehr krachen lassen.

Werden die Szenen zwischen dem Gastgeber (Dirk Lange) und der jungen Frau (Sophie Hottinger) immer wieder per Video eingespielt, hat Hausregisseurin Claudia Bauer für die Gespräche auf der eigentlichen Party dann eine fast schon geniale Idee. Während ein Teil der in neonfarbenen Satinkleidern steckenden SchauspielerInnen am Rand die Texte per Mikro einspricht, bewegen sich die anderen dazu pantomimisch in immer wieder neuen, teils bizarr durchchoreografierten Szenen. Dabei tragen sie Masken und spielen ihre namenlosen Figuren unabhängig vom Geschlecht, wobei auch die Stimmen teils cross gesprochen oder verzerrt und immer wieder in Loops, fast schon wie ein melodiöser Sing Sang vorgetragen werden.

Ein großartiger Verfremdungseffekt, der tatsächlich auch über den gesamten Abend seine Spannung halten kann. Die sechs SchauspielerInnen Sophie Hottinger, Dirk Lange, Wenzel Banneyer, Tilo Krügel, Annett Sawallisch und Katharina Schmidt lösen sich immer wieder beim Sprechen und Performen ab. Es gibt keine Charaktere, nur ein Typenballett austauschbarer Figuren. Sie wirken wie fremdgesteuert und reagieren in einer körperlich stark überzogenen Dauererregung direkt auf die jeweiligen Gegenüber. Gehetzte ihrer selbst, übermüdet und im ständigen Stress nicht wahrgenommen zu werden. Abhängig voneinander oder dem Handy, das wie ein monströser Hinkelstein an ihnen hängt. Identifizieren kann man sie, wenn überhaupt, nur mittels ihrer ständig wiederholten in Worthülsen gekleideten Satzfetzen.

Dem gegenüber stellt die Regisseurin am Beginn des Abends noch während des Einlasses, kaum bemerkt vom Publikum, Versfragmente aus der Offenbarung des Johannes über die apokalyptischen Reiter in Dauerschleife. Zu einer Art Apokalypse entwickelt sich schließlich auch die ganze Party. Und so sind die folgenden Gespräche lose mit den Schlagworten Hunger, Krieg, Krankheit und Tod überschrieben. Von verhasstem Smalltalk über kleine Komplimente und Sticheleien bei Biobier und asiatisch veganem Essen gerät man schnell in Ekstase über Themen wie Kindererziehung, Biogärtnern, Sex oder Politik und teilt seine Ängste, Psychosen und Coachingversuche. Wobei man sich schnell wieder aus zu anstrengenden, fordernden Beziehungsgesprächen verabschiedet und lieber über sich selbst spricht. Die Partygäste mutieren dabei langsam von Maskenmenschen zu Pelzkopfträgern mit Pestschnabelmasken, und schließlich bleibt auf der zugemüllten Bühne nur noch ein schmatzendes Wurmwesen übrig, während im Video ein großer Komet auf die Stadt zurast. Eine bemerkenswerte Inszenierung und Schauspielleistung, die Appetit auf mehr machen.

Quelle: http://www.kultura-extra.de/theater/spezial/urauffuehrung_bernhardstudlar_diermuedeten.php
Leserkritiken: Kritische Masse, Berlin
„Kritische Masse“: wütende junge Frauen im Gorki-Studio

Was Patrick Wengenroth mit „thisisitgirl“ nur versprochen hat, hat Suna Gürler mit ihrer Jugendgruppe „Aktionist*innen“ im Studio Я am Gorki bereits vor einigen Monaten eingelöst: „einen Abend über Frauen und Fragen und Frauenfragen für Frauen und Männer“, der auf der Höhe der Zeit ist.

Die Regisseurin und ihr ausschließlich aus jungen Frauen zusammengesetztes Ensemble setzen sich in dieser Stückentwicklung mit den Konflikten auseinander, die sie aus ihrem Alltag kennen: den Schönheitsidealen, die ihnen von der Werbung eingetrichert werden und manche in die Magersucht treiben; die Wut darüber, nicht den Mut gehabt zu haben, auf eine schräge Anmache in der U-Bahn konsequent zu reagieren; oder die von Aneinander-Vorbei-Reden und fehlender Augenhöhe geprägte Kommunikation mit ihrem Freund.

Herausgekommen ist „Kritische Masse“: eine energiegeladene, unterhaltsame, sehr persönliche Stunde der jungen Protagonistinnen, die uns ihre Sicht auf die Welt vorstellen. Die Eröffnungsszene nimnmt parodistisch Bezug auf die ersten zehn Minuten von „Fallen“, als ein Trupp testosterongeladener junger Männer in Sebastian Nüblings Choreographie über den Sand auf dem Gorki-Vorplatz jagte: Die Mädchen rennen auf das Publikum zu und kommen mit Urschrei-Lauten abrupt zum Stehen.

Eine schnappt sich das Mikro und beginnt mit ernster Miene aus Traktaten von Feministinnen und Kulturanthropologinnen zu zitieren, deren Namen nur den wenigsten im Publikum vertraut sein dürften. Recht schnell greift eine der Mitstreiterinnen ein: Wir wollten doch anders anfangen! Auch im späteren Verlauf wendet sich die restliche Gruppe ab, als eine von ihnen es wagt, den Begriff „Feminismus“ in den Mund zu nehmen.

Statt abgelesener Theorien wird es authentisch: dieser Grundton tut dem Abend sehr gut. „Kritische Masse“ ist bei aller Wut sehr unterhaltsam und gerade wegen der unverblümten Tonlage, mit der je nach Typ etwas zögerlich-abwägender oder auch ganz rotzig frisch von der Leber weg aus dem echten Leben erzählt wird, auch lehrreich. Ein „energetischer und kluger Sturmlauf“, wie Patrick Wildermann im „Tagesspiegel“ treffend schrieb.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
Leserkritiken: Tucké Royale, Berlin
Tucké Royale im Studio Я: Performance gegen Schubladen-Denken

Wenn es einen Wettbewerb um den längsten und skurrilsten Stücktitel gäbe, hätte Tucké Royale beste Chancen auf den ersten Platz: „Ich beiße mir auf die Zunge und frühstücke den Belag, den meine Rabeneltern mir hinterließen“ heißt die Solo-Performance, die im Dezeber 2013 im Ballhaus Ost Premiere hatte und mittlerweile zum Repertoire des Gorki-Studios gehört.

Mit Witz und beeindruckender Bühnenpräsenz führt Tucké Royale durch den kurzen, knapp einstündigen Abend aus LGBT-Theorie, autobiographischen Erzählungen, Songs, Verwandlungskünsten und kleinen Scherzen.

Die stärkste Passage ist, als Tucké Royale von der Aufnahmeprüfung an der HfS Ernst Busch berichtet. Die Auswahl-Jury sei mit dieser schillernden Persönlichkeit, die in keine ihrer Schubladen passt, sichtlich überfordert gewesen. Erst im zweiten Anlauf und nach schmerzhaften Kompromissen wurde Tucké Royale unter bürgerlichem Namen zum Puppenspiel-Studiengang zugelassen. Aber als „humanoider Hermaphrodit“ (so die Selbstbezeichnung) eckte Tucké Royale auch dort an und sah sich mit irritierten Nachfragen konfrontiert.

Auf die „Sprengung des Körpergefängnisses“ folgt ein Sprachkurs: „Die Sprache muss befreit werden, damit sie uns nicht hinterherhinkt“, referiert Dr. Tucké Royale. Das Publikum wird aufgefordert, die Lektionen der Personalpronomen (aus „er“, „sie“ und „es“ wird „herm“) nachzusprechen.

Nach der nächsten Umziehpause folgt ein weiteres Lied. Über die „Rabeneltern“ erfährt man nichts Näheres, die im Programmheft erwähnte Geburtsstadt Quedlinburg spielt auch nur eine kleine Rolle. Aber das macht nichts, der Abend dreht sich vor allem um das Hier und Jetzt.

„Ich beiße mir auf die Zunge…“ ist ein selbstbewusster Auftritt, der „frontal gegen die Wand unseres Schubladensystems“ fährt, wie es Elke Koepping treffend ausdrückte.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
Leserkritiken: Münchhausen, Deutsches Theater Berlin
münchhausen, Deutsches Theater/Kammerspiele

Milan Peschels „münchhausen“: Mit Schirm, Charme und Melone, aber zu wenig Tiefgang

Ein vertrautes Gesicht kommt zurück auf die Bühne: Milan Peschel, eine der Größen vergangener Volksbühnen-Zeiten (1997-2008) und ein Eckpfeiler des Gorki der Petras-Ära, der zuletzt eher auf der Kinoleinwand zu sehen war, linst hinter dem mit kitschig-blauen Wolken bedruckten Vorhang hervor. Mit Schirm, Charme, Melone und einer kleinen Verspätung kommt er auf die Bühne. Da sein Bühnenpartner, ein Franzose, der mittlerweile bei „Zalando“ arbeitet, um die Familie zu ernähren, nicht auftaucht, plaudert Peschel erst mal los.

Einige Anekdoten dieses münchhausen-Solos, zu dem erst kurz vor Schluss Martin Otting hinzustößt, sind ganz hübsch anzuhören: an Champions League-Abenden spielen einige Kollegen extra schnell, um noch rechtzeitig zu Bier und Chips auf die Couch zu kommen. Die Frauen sind davon genervt und spielen provozierend langsam. Milan Peschel erzählt mit seinem charakteristischen schelmischen Grinsen, dass er an solchen Abenden dann gerne mit Tempo-Variationen noch zusätzliche Verwirrung stiftet. Auch seine Frank Castorf-Parodie sorgt für einige Lacher: Peschel malt sich aus, wie sein alter Kumpel ihn demnächst wieder anrufen wird, dass er doch dringend einspringen müsse, da einige Kollegen die Exzesse der Berlin-Premiere der siebenstündigen „Brüder Karamasow“ nicht überstehen.

Für eine gute Stunde könnte so ein Abend wunderbar funktionieren. Aber die fast zwei Stunden nehmen leider Kurs auf seichte Gewässer: Zwischen Zigarettenqualm und Bierkonsum tigert Peschel durch das Gerümpel auf der Hinterbühne und bittet einen älteren Herrn auf die Bühne, dem er Uralt-Kalauer erzählt. Sehr verständlich, dass ein älteres Ehepaar zum Ausgang flüchten will, dabei aber in die falsche Richtung irrt. Peschel ist so charmant, eine kurze Pause in seinen Monolog einzulegen und den beiden anzubieten: „Gehen Sie doch einfach hier vorne vorbei“. Er vergisst auch nicht, den beiden noch ein „Schönes Wochenende“ zu wünschen.

In den Monolog streut er Ausschnitte aus alten Tschechow-Aufführungen und vor allem aus der „Anna Karenina“-Inszenierung, die er mit Fritzi Haberlandt in der Regie von Jan Bosse am Haus von Armin Petras spielte. Petras und Bosse waren auch an diesem „münchhausen“-Abend beteiligt: der eine schrieb die Vorlage, der andere führte wieder Regie.

Als dritten Themenstrang hat Peschel einige Reflexionen über den Theaterbetrieb eingeflochten. Zwischen Slapstick, einem „Aufhören!“-Zwischenruf, den Peschel mit einem knappen „Neee, geht noch weiter!“ an sich abprallen lässt, und dem nächsten Schluck Bier finden sich zwar immer wieder auch ein paar nachdenkliche und nachdenkenswerte Sätze, „Was zum Mitnehmen“, denn das Publikum soll ja „nicht nur Faxen konsumieren“. Aber die Durststrecken dieses Abends sind zu lang, so dass es keine Überraschung ist, dass einige Peschels Parole „Da müssen wir gemeinsam durch!“ nicht länger folgen wollen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
Leserkritiken: Idomeneus, Deutsches Theater Berlin
Idomeneus, Deutsches Theater Berlin

„Idomeneus“: Fröhliches Klassentreffen und intelligentes Spiel mit dem Mythos

Die Premiere von „Idomeneus“ am Deutschen Theater Berlin war im April 2009 von der schweren Erkrankung des Regisseurs Jürgen Gosch überschattet. Die Kritiken rückten damals den Schlussmonolog von Alexander Khuon („ich hänge am Leben“) und die Tränen angesichts von „Grauen“ und „Schmerz“ in den Mittelpunkt und setzten ihn mit dem persönlichen Schicksal des Regisseurs in Beziehung. Gosch wurde bei seiner letzten Premiere zum Schlussapplaus im Rollstuhl auf die Bühne geschoben und erlag nur wenige Wochen später seinem Krebsleiden.

Im Herbst 2015, mehr als 6 Jahre später, haben sich die Vorzeichen grundlegend geändert: „Idomeneus“ steht ab und zu weiterhin als eine der letzten Übernahmen aus der Willms-Ära, bevor Ulrich Khuon und sein Team vom Hamburger Thalia-Theater die Intendanz am DT übernahmen, auf dem Spielplan. Das Ensemble ist mittlerweile in alle Himmelsrichtungen verstreut. Margit Bendokat, Meike Droste, Alexander Khuon und Bernd Stempel gehören immer noch zum Ensemble, andere wie Christian Grashof und Barbara Schnitzler sind mittlerweile nur noch selten zu sehen. Die dritte Gruppe ist längst an anderen Häusern engagiert (Niklas Kohrt, Katharina Schmalenberg, Valery Tscheplanowa, Kathrin Wehlisch) und kommen für dieses Stück an die alte Wirkungsstätte zurück.

So bekommt der Abend den Charakter eines fröhlichen Klassentreffens: Nicht nur in den ersten Minuten ist eine große Vertrautheit zu spüren, als die Körper ineinandergeknäuelt vor der weißen Wand hin und herwogen, sich sehr nah auf die Pelle rücken und dennoch ein erstaunlich konzentriertes chorisches Sprechen hinbekommen. Vor allem auch später ist dem Ensemble anzumerken, dass es sich über das Wiedersehen freut und gerne wieder mal zusammen auf der Bühne steht. Diese kleinen Gesten, hier ein Zwinkern, dort ein Zulächeln oder ein gemeinsames Schmunzeln, prägen den „Idomeneus“ sechs Jahre nach der Premiere.

Und das Stück selbst? Roland Schimmelpfennigs Vorlage, die er für Dieter Dorn schrieb, ist ein kurzweiliges, intelligentes Spiel mit dem Mythos: Wie aus Mozarts Oper bekannt, verspricht der König dem Meeresgott, ihm die erste Person zu opfern, die sie am Strand treffen, wenn er sie aus dem Unwetter rettet und heil nach Hause kommen lässt. Als dem Idomeneus ausgerechnet sein Sohn Idamante in die Arme läuft, entspinnt sich ein dramatischer Konflikt: Muss Idomeneus sein dem Gott gegebenes Versprechen halten und den eigenen Sohn opfern? Oder darf er sich darüber hinwegsetzen?

In flapsigem Ton und kurzen Szenen spielt das Ensemble mehrere Varianten durch, bis zum nächsten Cut: „So war´s nicht. So ist es nicht gewesen.“ – Der Mythos wird zur Spielwiese, auf der sich Assoziationen, Überschreibungen und Neuinterpretationen austoben.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
Leserkritiken: Coup Fatal, Wien et al
Coup Fatal, Haus der Berliner Festspiele

„Coup Fatal“: Crossover aus Barock-Arien, E-Gitarre und afrikanischen Trommeln

„Coup Fatal“ hatte im Juni 2014 bei den Wiener Festwochen Premiere und tourt nun über die Festivals, Mitte Oktober war es im Haus der Berliner Festspiele zu Gast. Der belgische Regisseur Alain Platel entwarf mit dem Countertenor Serge Kakudji und 13 Musikern ein Crossover aus Barock-Arien (v.a. von Gluck und Händel), die neben afrikanischen Trommelklängen stehen und auch noch durch E-Gitarren verzerrt werden.

Der Abend zeigt beispielhaft, was bei einem solchen Stilmix schief gehen kann: unverbunden stehen die verschiedenen Traditionen und Stile nebeneinander. Weder Fisch, noch Fleisch reiht sich ein Musikstück an das nächste. Von dem angekündigten theoretischen Überbau, dass der Abend auch die Lage in dem von Bürgerkrieg und Rohstoff-Ausbeutung geplagten Kongo thematisieren wird, sind in diesem hektischen Stilmix höchstens Spurenelemente zu erahnen.

Der Saal im Festspielhaus ist bei der Berliner Premiere nur zur Hälfte gefüllt, einer der drei geplanten Abende wurde kurzfristig abgesagt. Von denen, die sich nach Wilmersdorf aufgemacht haben, bejubeln dennoch einige die Musiker mit stehenden Ovationen. Immer wieder nahmen die Künstler schon während der Konzert-Performance Kontakt zum Publikum auf und tigerten durch die ersten Reihen: zwei Zuschauerinnen wurden zu einem Tanz auf der Bühne eingeladen.

So kam zwar Partystimmung auf, ein sehenswerter Abend wurde dennoch nicht daraus. Drastisch, aber leider nicht unberechtigt schrieb der Wiener „Standard“ schon nach der Uraufführung von der „Crossover-Hölle der Verharmlosung“.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
Leserkritiken: Gift, Deutsches Theater Berlin
Gift, Deutsches Theater Berlin

„Gift“ am DT: Starschauspieler Ulrich Matthes und Dagmar Manzel als verzweifelte Schiffbrüchige an der Boje

Vor dem heruntergelassenen Eisernen Vorhang sieht es aus wie im Wartezimmer beim HNO-Arzt oder bei der Meldestelle im Bürgeramt: schlichte weiße Plastikstühle, ein Kaffeeautomat und ein Wasserspender mit Pappbechern. „Am Bühnenbild wurde wirklich sehr gespart“, raunt eine Sitznachbarin ihrem Begleiter zu. Für das Bühnenbild mag spartanisch noch ein Euphemismus sein, dafür trumpft Christian Schwochow bei seinem Regie-Debüt „Gift“ am Deutschen Theater mit einer Deluxe-Besetzung auf: Dagmar Manzel und Ulrich Matthes.

Sie spielen „zwei Verzweifelte, zwei Schiffbrüchige, die sich an einer Boje festhalten“: Sie waren mal ein Paar. Erst haben sie ein Kind verloren, dann einander. Nach langer Zeit treffen sie sich an diesem Un-Ort, dem Wartesaal eines Friedhofs, wieder. Ihr Sohn Jakob wurde dort beerdigt, auch das ist etliche Jahre her. Sie wurden in einem Brief benachrichtigt, dass sein Grab wegen Gift im Boden verlegt werden müsse.

Stockend überwinden sie das Schweigen. Aufgestaute Aggressionen machen sich Luft. „Er“ sei – wie immer – so schrecklich distanziert. „Er“ mache es sich so furchtbar leicht, beginne mit einer jüngeren Frau einfach ein neues Leben in der Normandie. „Sie“ sei unfähig, über die Vergangenheit hinwegzukommen und habe sich in ihrem Schmerz eingerichtet.

Es ist symptomatisch, dass wir an keiner Stelle die Vornamen dieses gescheiterten Paares erfahren. Die beiden Protagonisten sind nur Sprachrohre für die Textbausteine, die ihnen die niederländische Autorin Lot Vekemans in ihrem „Klipp-Klapp-Dialogstück“ zugewiesen hat.

Das Problem dieses Abends sind die Schwächen der Textvorlage, die zwischen „Geh wohin Dein Herz Dich trägt“-Erbauungsliteratur á la Susanna Tamaro (daran fühlte sich auch Mounia Meiborg in der SZ erinnert) und dem glücklosen Versuch, die Melancholie aus Ingmar Bergman-Filmen zu kopieren (ähnlich Thomas Rothschild in einem Kommentar auf Nachtkritik) schwankt.

Dennoch machen die beiden Schauspielstars das Beste aus dieser schwachen Vorlage: auch wenn die hölzernen Dialoge allzu vorhersehbar und „wohltemperiert“ vor sich hinplätschern, ist es dennoch sehenswert, Matthes und Manzel zuzusehen: ihre kleinen Gesten, ihre unsicheren, sich belauernden Blicke, ihre sarkastische Schärfe zu erleben.

Für diese beiden Könner hat sich der Weg an diesem November-grauen Abend mitten im Oktober ins auch fast zwei Jahre nach der Premiere vollbesetzte Deutsche Theater doch gelohnt. Ohne ihre schauspielerische Klasse wäre dieses Kammerspiel auf der Großen Bühne in grauer Trübsal auf Grund gelaufen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
Leserkritiken: 100 Sekunden, Deutsches Theater Berlin
100 Sekunden (wofür leben), Deutsches Theater Berlin/Kammerspiele

Märtyrer-Clips, Comedy und Kerzen-Kitsch am DT

Auf einem verschlungenen Weg geht es in den Backstage-Bereich der Kammerspiele des Deutschen Theaters, wo recht unbequeme, kunterbunt zusammengewürfelte Stühle bereitstehen, wie man sie eher auf dem Flohmarkt als auf der Theaterbühne vermuten würde. Die vier Schauspieler (Michael Goldberg, Camill Jammal, Katharina Matz und Wiebke Mollenhauer) haben sich unter das Publikum gemischt. Abwechselnd erheben sie sich und stellen das Schicksal eines Menschen vor, der für seine Überzeugung in den Tod ging.

Die Uhr tickt unerbittlich: es bleiben genau 100 Sekunden. Eine Stimme aus dem Off zählt die letzten Sekunden herunter und ruft dann mit schneidender Stimme: „Stopppp!“ Provozierend stehen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten völlig unvermittelt nebeneinander: vom Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennnung ein Auslöser der Arabellion war, geht es zum Hungerstreik des RAF-Mitglieds Holger Meins. Der Chef-Archäologe von Palmyra, der im August vom IS geköpft wurde, steht neben Magda Goebbels, die ihren Kindern Gift gab, neben Jeanne d´Arc, die Katharina Matz mit viel zu großem, verrutschendem Helm spielt, neben dem biblischen Abraham, der im Alten Testament Gott seinen Sohn Issak opfern sollte, neben japanischen Kamikaze-Piloten im Zweiten Weltkrieg, neben einem Atomwissenschaftler, der sich nach dem Super-Gau von Tschernobyl verstrahlen ließ, und so weiter und so fort.

In diesem Sammelsurium aus Märtyrer-Clips fällt es nicht weiter auf, dass sich auch die Geschichte des sowjetischen Offiziers Stanislaw Petrow, der die Welt am 26. September 1983 vor dem Atomkrieg rettete, dazwischenschmuggelt. Nach 100 Sekunden kommt der Cut und dann gleich die nächste Geschichte, sofern nicht doch wieder der sakral wirkende Klagegesang dazwischen geschoben wird, in dem Wiebke Mollenhauer und Camill Jammal anscheinend Athena beschwören.

Noch etwas haben diese kurzen Szenen gemeinsam: historische Figuren mit der Autorität von Säulenheiligen wie Friedensnobelpreisträger Mahatma Gandhi werden ebenso ironisch gebrochen wie die schon erwähnte Jeanne d Arc mit ihrem schlecht sitzenden Helm. Im Fall von Gandhi lässt sich Jammal einfach nicht davon abbringen, ihn ständig mit Ben Kingsley zu verwechseln, der für seine Gandhi-Darstellung den Oscar gewann.

All die Überzeugungstäter kann man nicht mehr richtig ernst nehmen: „Die Aufklärung hat mit den Göttern und großen Geschichten gehörig aufgeräumt. Doch nicht nur das fortschreitende wissenschaftliche Zeitalter, sondern auch das Ende des großen Systemwettlaufs zwischen Ost und West hat den Himmel der Überzeugungen, der Utopien und Ideologien entleert“, beklagt der Text im Programmheft zu „100 Sekunden (wofür sterben)“, das den Besuchern in die Hand gedrückt wurde.

Das Ende der Utopien mündet in eine schräge Party. Die Wand wird durchgebrochen, Katharina Matz schlüpft in einen Raumfahrer-Anzug, Camill Jammal wirft sich einen Poncho über, setzt sich Insekten-Fühler aus Plastik auf und spielt am Klavier, auf dem sich Wiebke Mollenhauer im Abendkleid räkelt. Von „Live is Life“ bis „Atemlos“ werden Stimmungshits angespielt. Die gute Laune des Ensembles will aber nicht so recht auf das Publikum übergreifen.

Das Publikum wird am Schluss von der Hinterbühne in die Zuschauerränge der Kammerspiele geführt. Auf jedem leeren Platz wird eine Kerze angezündet. Diesen Abend kann dann auch das kitschige Schluss-Bild nicht mehr retten: Christopher Rüpings jüngste Arbeit am Deutschen Theater verliert sich in Ironie und Comedy.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
Leserkritiken: Fear, Schaubühne Berlin
"Fear", Schaubühne

„Hässliche hassende Frauen“ könnte das Stück heißen, ätzt Tilman Strauß. Oder „Kelle, Kuby, von Storch“ in Anlehnung an „Ritter, Dene, Voss“, legt er nach. „Aber das wollten wir Dir nicht antun, Ilse“, ruft er Ilse Ritter zu, seiner Bühnenpartnerin aus Falk Richters vorheriger Arbeit „Never Forever“, die in einer der ersten Reihen sitzt.

Es ist auch nicht notwendig, sich noch weiter den Kopf über einen alternativen Titel für die neueste Stückentwicklung von Falk Richter zu machen: „Fear“ ist die passende Überschrift für diesen zweistündigen Streifzug durch wabernde Ängste vor Islamisierung und durch Hasspredigten. Diese bunte, temporeiche Collage ist – wie wir es von Falk Richter gewohnt sind – mit tänzerischen Elementen verknüpft, für die an diesem Abend vor allem Denis Kuhnert, Frank Willens und Jakob Yaw zuständig sind.

„Fear“ ist eine fulminante Abrechnung mit AfD, Pegida und Co., ganz auf der Höhe der Zeit. Von Akif Pirinçcis „KZ“-Rede, die mittlerweile ein Fall für den Staatsanwalt ist, bis zu Björn Höckes Deutschland-Fahnen-Auftritt bei Jauch wurde bei den Endproben aktuellstes Zitate- und Video-Material aufgenommen.

Schlag auf Schlag geht es von einem Pamphlet zum nächsten Einspieler. Gut recherchiert werden nicht nur die bekannten Köpfe der rechtspopulistischen Bewegung zitiert, sondern Bezüge hergestellt, Netzwerke aufgezeigt und auch einige Namen genannt, die der breiten Öffentlichkeit noch nicht so bekannt sind. Zu Wort kommen natürlich die Demo-Teilnehmer, die treuherzig darauf pochen, dass sie ganz bestimmt keine Nazis seien, aber man müsse doch mal sagen dürfen…

Als diese Auseinandersetzung mit Pegida, AfD und Co. im Sommer von der Schaubühne angekündigt worden war, wähnten sich viele noch in dem Glauben, dass das Randphänomene seien, die sie nichts angingen und bald vergessen seien. Die AfD schien sich in parteiinternen Machtkämpfen vor allem mit sich selbst zu beschäftigen. „Im Sommer noch hätte Veranlassung bestanden, das Ende von Pegida zu prognostizieren. Von einer Bewegung, die Zehntausende zu mobilisieren vermochte, war eine kleine Gruppe dauerprotestierender wütender Bürger übrig geblieben“, leitete Hans Vorländer seine Pegida-Analyse in der FAZ ein.

Falk Richter und seinem Ensemble geht es darum, dass wir genau hinsehen, uns mit dem Denken und der Sprache derer auseinandersetzen, die Ängste schüren, Minderheiten beschimpfen und Hass säen. Wenn Bernardo Arrias Porras zu Beginn die Haltung eines Hipsters karikiert, d er lieber auf Dachterrassen feiere und Serie wie „True Detective“ gucke, weil ihn diese Proteste irgendwo in Dresden oder Heidenau doch nichts angingen, dann wird sehr deutlich: So einfach dürfen wir es uns nicht machen.

Gegen Ende drohte diesem hochtourig rasenden Abend etwas die Luft auszugehen. Aber da musste er offensichtlich noch mal Atem holen, bevor er in einer Travestie-Nummer kulminiert, die ihr Publikum auch weiter polarisieren wird: Tilman Strauß schlüpft in ein Glitzer-Abendkleid und gibt sich als AfD-Europaparlamentarierin Beatrix von Storch aus, die ihre Ahnen ihres Adelsgeschlechts beschwört und auf ihrem Schloss von nächtlichen Angstattacken vor Überfremdung geplagt wird.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26385-26385.html
Leserkritiken: Wintersonnenwende, DT Berlin
"Wintersonnenwende", Deutsches Theater Berlin

Jutta Wachowiak hatte bei ihrem Comeback auf der Großen Bühne des Deutschen Theaters Pech: mit Roland Schimmelpfennigs „Wintersonnenwende“, das nach der Uraufführung am „Dramaten“ Stockholm als deutsche Erstaufführung auf dem Spielplan stand, erwischte sie eine schwache Vorlage.

Der raunende Tonfall dieser kruden Mischung aus einer Prenzlauer Berg-Bashing-Komödie à la „Stück Plastik“ und einer Mahnung à la „Biedermann und die Brandstifter“ ist kaum auszuhalten.

Der Abend begann noch recht vielversprechend: gebildete Akademiker, der Schriftsteller Albert (Felix Goeser) und seine Frau Bettina, eine Filmemacherin, (Judith Hofmann) bereiten sich auf Weihnachten und den Besuch der etwas überspannten Corinna (die bereits erwähnte Jutta Wachowiak) vor. Mutter und Tochter sind sich in herzlicher Abneigung verbunden.

Die Nachricht, dass sich Corinna bis Anfang Januar in der Altbau-Wohnung einquartieren wird, weckt Vorfreude auf pointierte Wortgefechte und vergnügliche zwei Stunden im bewährten Salonkomödien-Stil, im besten Fall so zündend wie bei Yasmina Reza oder Edward Albee.

Leider fehlt schon diesem ersten Teil das nötige Temperament. Zwischen Chopin und Bachs „wohltemperiertem Klavier“ schleppt sich der Abend dahin. Statt scharf gewürzter Dialoge hören wir viel Betuliches und sehr viele ins Publikum gesprochene Regieanweisungen: in der Regel sind das Gedanken über andere Anwesende, die man aus Höflichkeit vor allem in den hier porträtierten gutbürgerlichen Kreisen lieber für sich behält. Wie der Dramaturg David Heiligers in der Einführung erklärte, war es der ausdrückliche Wunsch des Autors Roland Schimmelpfennig, dass diese Regieanweisungen gesprochen werden.

Noch schlimmer wird es aber im zweiten Teil: der ungebetene Gast Rudolph (Bernd Stempel), eine Zufallsbekanntschaft von Corinna, der ihr während der Bahnfahrt mit guten, geradezu „ritterlichen“ Manieren den Hof machte, entpuppt sich als antisemitischer, esoterisch angehauchter Rattenfänger.

Plumpe Anspielungen auf den Traum der Nationalsozialisten von einem „1000jährigen Reich“ und auf das Abtauchen vieler Nazis nach Südamerika (Paraguay wird immer wieder genannt) werden zu einer schwer erträglichen Textmasse angedickt, die mit dem Holzhammer davor warnt, dass das gutsituierte Bürgertum den Extremisten schutz- und kraftlos gegenüber steht.

Die Endzeitstimmung von Schimmelpfennigs Text schreibt Regisseur Jan Bosse im Programmheft-Interview einfach fort: „Die Zwischenzeit, in der wir leben, geprägt von der Ahnung wie der Befürchtung großer kommender Umwälzungen, wird wohl von unseren Nachfahren als Inseldasein zwischen den großen Kriegen wahrgenommen werden.“

Der Abend scheitert jedoch daran, diese These überzeugend zur Diskussion zu stellen und die geeigneten theatralischen Mittel dafür zu finden. Er kommt nicht über ein Raunen hinaus, mit dem er sein Unbehagen artikuliert. Er ist ärgerlich, vor allem für Jutta Wachowiak, die einen würdigeren Rahmen für ihr Comeback verdient hätte.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26385-26385.html
Leserkritiken: Arms and the Man
Leicht und bekömmlich
Arms and the Man (George B. Shaw) – Regie: Richard Cottrell – Drama Theatre, Sydney Opera House
Der Poet W. B. Yeats schrieb über die Wirkung von „Arms and the Man“ bei der ersten Aufführung, dass das Publikum geteilter Meinung gewesen sei. Ein Teil amüsierte sich, der andere Teil war entgeistert und sprachlos. Ich würde mich wohl eher zum zweiten Teil zählen. Nicht etwa des Textes, sondern der Inszenierung wegen.
Der Dreiakter im Drama Theatre der Sydney Oper beginnt plötzlich. Auf der Rundbühne ist Raina zu sehen, die schmachtend an ihrem Fenster steht und in die Nacht hinausschaut, umgeben von weißem Interior und aufwendig gestaltetem Bühnenbild. Belangloses Palaver zwischen Mutter und Tochter enthüllt, dass Raina mit dem Offizier Sergius verlobt ist, der mutig gegen die Russen kämpft. Im Kanonenhagel schneit ein Schweizer durchs Fenster hinein, der als serbischer Soldat Bekanntschaft mit Sergius gemacht hat – Kapitän Bluntschli, der statt Patronen Schokolade in seinem Munitionsgürtel bunkert. Und so geht die Dreiecksgeschichte los. Raina verguckt sich in den ungewöhnlichen, sarkastischen Opportunisten und lädt ihn ein für ein Weilchen bei ihr und ihrer Mutter zu verweilen.
Der Krieg ist vorbei, Sergius und Rainas Vater kehren zurück und geben sich als siegreiche, kampferfahrene Männer – wie das halt so ist. Unangenehmerweise berichten die beiden von einem Schweizer, der sich bei einer bulgarischen Dame und ihrer Tochter während des Krieges eingenistet hatte. Nebenher spinnt sich eine Geschichte zwischen dem Dienstmädchen Louka und Sergius, der seine angestauten lieblichen Gefühle für Raina irgendwo abladen muss. Der Schweizer Bluntschli kehrt zurück und nimmt die notgedrungene Einladung zu bleiben gern an. Zwischen all den beteiligten Personen kommt es zum Hiat, die Aussprache steht an, nur der Vater hat eine lange Leitung.
Dann Partnertausch: Ohne weiteres Getue lösen Sergius und Raina ihre Verbindung, Louka angelt sich den jungen Offizier und der Schweizer gesteht irgendwie seine Zuneigung zu Raina und umgekehrt. Diese galt seit ihrer ersten Begegnung ihm, dem „chocolate cream soldier“.
So also die Geschichte, unterhaltsam, ohne Probleme zu verstehen. Was die ganze Sache langweilig macht, ist die Einfaltslosigkeit und die Bravheit. Von der Dekoration bis zu den Kostümen, über die Positionierung im Raum, die Beleuchtung, ist alles leicht verdaulich. Peinlich genau achten die Darsteller darauf die Drehbühne nicht zu übertreten, fast schon schamlos ist es, als das Kleid der Mutter über den weißen Boden der Drehbühne ragt. Alles ist hübsch ausdekoriert bis hin zu den Löckchen der Damen. Was nun also sagen, über diese Inszenierung.
Die übertriebene Darstellung einzelner Situationen, besonders in den Momenten zwischen Raina und Sergius verwenden die Techniken des Darstellenden Spiels. Der lieblichste Luftkuss aller Zeiten, die triefigsten Worte, schmerzlich schmachtende Blicke. Im Gegenzug die unterkühlte Liebesbekundung am Ende zwischen Raina und Bluntschli. Der Fokus wird allmählich deutlich: die Aufdeckung der Künstlichkeit der romantischen Konventionen. Das Warten auf den heiß Geliebten, die den Krieg überdauernde Liebe wird komplett entmystifiziert, ins Reich der Fantasie verbannt und ins absurd Lächerliche gezogen.
All die Mittelchen und die Überzeichnung wirken äußerst blechern und einstudiert, dass sie kaum bei mir ankommen. Sie sind nur zu beobachten.
Das wirklich Überraschende und für mich als deutschen Zuschauer Ungewöhnliche, ist der Herr vor mir, der sich zum Applaus erhebt und die rechte Seite des Publikums zu Standing Ovations auffordert; nach nur drei Applausordnungen ist aber Schluss mit der Begeisterung und der Applaus versiegt rasch und die Lichter gehen an.
Nichts Aufregendes, nichts Interessantes, schlichte Unterhaltung, kein inneres Aufstoßen, leicht und bekömmlich wie Fischfilet mit Gemüsebeilage.
Leserkritiken: Transit, Deutsches Theater Berlin
„Transit“ – Monolog in de Box des Deutschen Theaters über eine Flucht nach dem Roman von Anna Seghers

Thorsten Hierse sitzt verloren in der Box des Deutschen Theaters Berlin. Das karge Bühnenbild beschränkt sich auf einen Stuhl und die Flasche Rosé, die der Schauspieler in den 90 Minuten seines „Transit“-Monologs leeren wird. Aus dem Hintergrund sorgt Tobias Vethake für einen Live-Musik-Klangteppich, der die Erinnerungen des Gestrandeten untermalt.

Hochkonzentriert arbeitet sich Hierse durch den Abend und nimmt die Perspektive des namenlosen Ich-Erzählers aus der Romanvorlage von Anna Seghers ein: er ist aus einem Zwangs-Arbeitslager bei Rouen entkommen und hat sich nach Südfrankreich durchgeschlagen. Mit vielen Leidensgenossen verbringt er seine Zeit vor allem mit Warten: in Konsulaten auf ein Visum, am Hafen auf ein Schiff, das die Flüchtlinge vor den Nazis in Sicherheit bringen soll, oder im Café auf eine interessante Begegnung, einen kleinen Flirt.

Während Hierse auf seinem Stuhl sitzt, einige Schritte geht, wieder zum Glas greift und aus dem Leben eines Flüchtlings berichtet, tänzelt Wiebke Mollenhauer in unregelmäßigen Abständen diagonal über die kleine Bühne: mal spielerisch tänzelnd, mal atemlos rennend. Sie spielt die Marie, auf der Suche nach ihrem Geliebten, jedoch ständig zwischen mehreren Männern hin und hergerissen. Der Ich-Erzähler genießt ihre Nähe, bekommt sie aber nicht zu fassen.

Alexander Riemenschneider blieb in seiner Regiefassung nah am Roman-Text und verzichtete auf Aktualisierungen. Das Programmheft referiert zwar Statistiken und Entscheidungsquoten des BAMF, das für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig ist, der Abend vertraut aber ansonsten ganz auf die Kraft der Vorlage.

„Transit“ ist ein kleiner, stiller Abend in der sehr gut besuchten „Box“, auch die nächste Vorstellung am 25. November ist bereits wieder ausverkauft.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26385-26385.html
Leserkritik: Die juristische Unschärfe einer Ehe, Berlin
Die juristische Unschärfe einer Ehe, Gorki:

Sie finden keinen Halt: auf der schrägen weißen Wand versuchen die vier Schauspieler, sich nach oben zu hangeln und vorwärts zu krabbeln, sie rutschen aber doch immer wieder ab.

Altay, Jonoun und Leyla sind auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ beschreibt eine queere Ménage-à-trois, die zwischen Sehnsucht nach Nähe und der Jagd nach Abenteuern im Nachtleben hin und hergerissen ist. Wie unter einem Brennglas wird ihr „unaufgeräumter Gefühlshaushalt“ (FAZ zur Roman-Vorlage von Olga Grjasnowa) im Schlussmonolog zusammengefasst: Wo gehöre ich hin?

Es ist eine Stärke dieses Abends von Nurkan Erpulat, dass er sich hier von seiner Roman-Vorlage löst: diese Worte über die Ratlosigkeit, über das „Finden“ und das „Bleiben“ bringen auf den Punkt, worum die Protagonisten kreisen. Der Schluss ist überzeugender als Grjasnowas abrupt abbrechende letzte Roman-Seite, die einen Rückflug bei Champagner von Baku nach Berlin schildert.

Damit macht Erpulat auch einiges wett, das in den vorangegangenen knapp zwei Stunden nicht funktionierte. Am schwersten wiegt, dass er seine Figuren nicht ernst genug nimmt.

Mehr Tiefenschärfe und klarere Konturen hätten zwar auch den Figuren im Roman gut getan. Aber auf der Bühne geht noch mehr verloren: Was motiviert sie? Wie stehen sie zueinander? Vor allem der Psychiater Altay (Taner Şahintürk) wird in einigen Episoden zum albernen Abziehbild banalisiert.

Eine der Schlüsselszenen des Romans ist das Auftauchen von Yves, einer Trans-Schönheit mit Perlen, blauen Lidschatten und einem nachtblauen Satinkleid, der vom schwulen Altay mit nach Hause gebracht wird. Dort entspinnt sich ein subtiler Dreiecks-Flirt mit der lesbischen Leyla, die mit Altay in Moskau eine Scheinehe einging und vor der Homophobie in den Westen flüchtete. Aus Grjasnowas behutsamer Beschreibung eines Spiels mit Geschlechterrollen wird auf der Bühne nur oberflächliche Travestie (mit Mehmet Ateşçi im Fummel).

Der Roman bietet mehr lange Erzählstrecken als knackige Dialoge. Er würde sich sehr gut als Vorlage für ein Road-Movie mit Off-Stimme eines Erzählers im Programmkino eignen. Auch die sehr scharf beobachteten Skizzen, mit denen Grjasnowa Berliner Kieze von Charlottenburg über Mitte und Kreuzberg bis Neukölln pointiert beschreibt, mit denen sie vor allem Missstände in den postsowjetischen Kaukasus-Republiken kommentiert, sind sicher nur schwer in theatralische Mittel zu übersetzen. Auf diese Stärken des Romans müssen wir bei Erpulats Inszenierung verzichten.

Die vier Schauspieler helfen sich, indem sie abwechselnd mit dem Mikro an die Rampe treten und längere Passagen in den Zuschauerraum sprechen, bevor sie sich wieder einander zuwenden.

Leider haben Erpulat und sein Ensemble aber auch einige der raren Chancen verschenkt und z.B. diesen bühnenreifen Dialog aus der Vorlage einfach links liegengelassen: auf drei Seiten schildert Grjasnowa, wie sich Krankenschwestern, Ärzte und der Chefarzt eines Moskauer Krankenhauses in Altays Anwesenheit in homophobe Hasstiraden hineinsteigern.

Statt diese gelungene Steilvorlage dankbar aufzunehmen, wird in Erpulats Bühnenfassung nur das übliche Stammtisch-Gebrabbel wiederholt. So bleibt diese Szene weit hinter dem Witz der Vorlage zurück und erreicht leider auch nicht das Niveau und den Biss von Falk Richters Anklagen homophober Ressentiments („Small Town Boy“ am Gorki und „Fear“ an der Schaubühne).

Trotz dieser genannten Schwächen ist dem Abend zugute zu halten, dass er es schafft, eine stimmige Atmosphäre zu entwickeln. Wenn die Protagonisten ins Berliner Nachtleben zwischen Berghain und SO 36 eintauchen, dröhnen die Beats, tanzen die Körper ekstatisch und werden gestählte Muskeln auf der Videoleinwand stolz präsentiert. Zum „Vorglühen“, als Einstimmung auf den Feier-Marathon, eignet sich Erpulats Stück dennoch nur bedingt: diese Szenen machen nur einen Bruchteil des Abends aus, vor der Party müssen noch längere Durststrecken im Frontal-Unterricht-Stil ausgehalten werden.

In Erinnerung bleiben auch die Ballett-Szenen: alle vier Akteure (Mehmet Ateşçi / Mareike Beykirch / Lea Draeger / Taner Şahintürk) quälen sich in weißen Kleidern und Schühchen durch den Drill. Schaufensterpuppen-Gliedmaßen werden unnatürlich abgespreizt. Die drei Arten des Schmerzes, die Grjasnowa beschreibt, sind ihnen ins Gesicht geschrieben.

Fazit: Ohne die genannten Mängel wäre die Auseinandersetzung mit den Themen, die das Gorki beschäftigen, noch interessanter geworden: mit der Zerrissenheit zwischen unterschiedlichen Kulturen, der Suche nach den Wurzeln, dem Ausprobieren alternativer Lebensentwürfe.

„Die juristische Unschärfe einer Ehe“ ist zwar kein neues Aushängeschild des Gorki, fügt sich aber schlüssig ins Repertoire.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26518-die-juristische-unschaerfe-einer-ehe-am-gorki-unaufgeraeumter-gefuehlshaushalt-zwischen-berlin-moskau-und-baku.html

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26518-die-juristische-unschaerfe-einer-ehe-am-gorki-unaufgeraeumter-gefuehlshaushalt-zwischen-berlin-moskau-und-baku.html
Leserkritiken: Fidelio für Kinder, Taschenoper Lübeck
Jugendoper über die Lust, gefangen zu sein

Von Horst Schinzel

Die private Theatertruppe „Taschenoper Lübeck“ der Prinzipalin Margrit Dürr bemüht sich seit vielen Jahren mit großem Erfolg, klassische Opern für Kinder zu bearbeiten.
Jetzt hatte im Lübecker Theater die neueste Produktion „Fidelio für Kinder“ ihre Uraufführung .Nun eignet sich Beethovens Freiheitsoper nur sehr bedingt, auf ein kind- und jugendgemäßes Format herunter gestutzt werden. So sind den Bearbeitern Margrit Dürr und Julian Metzger arg die Gäule durchgegangen. Herausgekommen ist ein „fideles Gefängnis“ – so Gouverneur Pizarro (Jan Westendorff) bei seinem ersten Auftritt -, in dem es fünfundsiebzig Minuten lang ausgesprochen heiter und fidel zugeht. Das entspricht sicher dem Gesichtskreis der anvisierten Zuschauer ab acht Jahren, lässt aber von Beethoven nur die herrliche Musik übrig.
Die Vorstellung beginnt durchaus dramatisch. Die erwartungsvoll im Kammerfoyer versammelten Zuschauer werden von Rocco (Tobias Hagge) und seiner Tochter Marcelline (Dorothee Bienert) gefangen genommen und über geheimnisvolle Stiegen in das Studio getrieben, wo sie auf kargen Hockern Platz nehmen müssen. Sie teilen ihr Schicksal mit dem aufmüpfigen Florestan (Richard Neugebauer). Eine Gefangenschaft, die aber durchaus erträglich ist. Rocco, Marzelline und der später hinzu kommende Fidelio (wuschelköpfig Margrit Dürr) treiben mit ihren Gefangenen Sport und üben einen makabren Kanon ein „Ich bin gefangen, Du bist gefangen, wir sind gefangen“. Das alles ist von Sascha Mink zur Musik einer siebenköpfigen Combo – deren Musiker mit Pickelhauben ausgestattet sind – flott und jugendgemäß inszeniert worden. Die musikalische Leitung hat Carl Augustin.
Der ernste Hintergrund dieser Gefangenschaft zeigt sich erst sehr zum Schluss. Gouverneur Pizarro gibt sich lange durchaus jovial. Doch dann will er Florestan mittels einer geheimnisvollen Elektrokonstruktion ermorden. Fidelio gelingt es, diese so umzupolen, dass Pizarro selbst ihr Opfer wird.
Die Zuschauer der Uraufführung – die dank der Zuwendungen Lübecker Stiftungen ermöglicht wurde – waren begeistert und feierten alle Beteiligten lang und anhaltend.


HS-Kulturkorrespondenz Eutin
Leserkritik Fidelio: Kinderstutzopern alle schrecklich
ALLE auf Kinder zurechtgestutzte Opern sind schrecklich und lassen nicht einmal die Musik zurück, weil die vom Inhalt dabei verharmlosend getrennt wird. Oper ist die beste musische Bildung für Kinder die man sich vorstellen kann (sehr überzeugend dazu z.B. Anne-Sophie Mutter), weil sie mit Theater und szenischer Darstellung verknüpft ist. Bild, Ton, Lebensproblem werden wahrnehmbar eins. Etwas, was angeht. Auch Kinder. Für Kinder zurechtgestutzte Opern sollten später durch die jeweiligen Kinder zu schwersten Bestrafungen im Sinne von Racheakten an Erwachsenen führen!!
Leserkritiken: Peer Gynt, Deutsches Theater Berlin
Peer Gynt, Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin

„Peer Gynt“: Margit Bendokat und Samuel Finzi tasten sich durchs Dunkel

Das Licht ist in den Kammerspielen des Deutschen Theaters stark heruntergedimmt. Samuel Finzi (als Peer Gynt) und Margit Bendokat (in allen anderen Rollen von Aase bis Solveig) tasten sich über den Sand und durch eine stark gekürzte Fassung von Henrik Ibsens dramatischem Gedicht.

Gotscheff-Schüler Ivan Panteleev trieb den Minimalismus, der schon in seiner „Warten auf Godot“-Inszenierung polarisierte, an diesem knapp zweistündigen Abend noch weiter auf die Spitze.

Kunstpausen dehnen sich zu halben Ewigkeiten, jede kleine Geste wird zelebriert. Das mag zwar stellenweise virtuos gemacht sein und Margit Bendokats Stimme, für die man in der deutschen Sprache erst noch ein passendes Adjektiv erfinden müsste, ist immer ein Hörerlebnis. Aber diese Inszenierung ist ansonsten einfach entsetzlich langweilig.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26544-26544.html
Leserkritiken: Macbeth, Film mit Michael Fassbender
Leserkritik zur "Macbeth"-Verfilmung mit Michael Fassbender

An „Macbeth“-Bearbeitungen gibt es wahrlich keinen Mangel. Am Deutschen Theater Berlin hatte erst vor wenigen Monaten Ulrich Matthes in dieser Shakespeare-Rolle Premiere, leider blieb Tilmann Köhlers Regiearbeit ziemlich blutleer.

Der australische Regisseur Justin Kurzel entschied sich für ein opulentes Leinwandspektakel an schottischen Originalschauplätzen: mittelalterliche Heere prallen aufeinander, das Blut spritzt. Die Kamera hält in Großaufnahme drauf, wenn Macbeth den König Duncan ermordet und auch immer sonst, wenn Leiber von Schwertern durchstoßen oder Speeren durchbohrt werden.

Wir erleben eine gekürzte Fassung, die nah an der klassischen Vorlage bleibt, nur ganz am Anfang, vor dem berühmten Auftritt der Hexen, etwas hinzudichtet: das Ehepaar Macbeth bestattet ein Baby. Dass sie ein Kind verloren haben, wurde von Shakespeare nur kurz angedeutet. Hier wird es an so prominenter Stelle in Szene gesetzt, weil Kurzel uns sagen will: die beiden sind schwer traumatisiert und reißen die Welt um sich herum mit in den Abgrund.

Dräuend und wabernd breitet sich ein düsterer Klangteppich über dem Drama aus, graue Nebel wallen durch die Herbstlandschaft, zum großen Finale wird die Leinwand in Rot getaucht. Fürs Auge ist in dieser neuen Shakespeare-Verfilmung, die in Cannes Premiere feierte und in diesem Herbst in den Kinos startete, manches geboten. Es ist deutlich zu merken, dass der Regisseur sein Handwerk bei Werbe- und Videoclips gelernt hat.

An Oberflächenreizen mangelt es in diesen zwei Stunden nicht, leider fehlt dem Film aber der erhoffte Tiefgang. Dieses Defizit kann auch der Glanz der prominenten Besetzung mit Michael Fassbender als Macbeth und Marion Cotillard als Lady Macbeth nicht überstrahlen. Dementsprechend verhalten war die Resonanz in den Feuilletons.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26544-26544.html
Kommentar zu Leserkritiken: Macbeth, Film
Die erste Shakespeare-Verfilmung, die mich schon im Vorfeld nicht interessiert hat. Nach gelesenem Interview mit Cotillard hab ich gewusst warum: es war ja so eine riesenhafte Leistung das Shakespeare-Englisch zu lernen. Also die Aussprache. Original-Aussprache 16./17.Jhdt. Uns von Tonaufnahme authentisch ünerliefert - wow! - Alleerdings kann man heute keinem Regisseur mehr vorwerfen, sein Handwerk bei Werbe- und Videoclip erlernt zu haben, es gibt bereits eine ganze so hergestellte Kinofilm-Generation, das ist auch Filmgeschichte, die genutzt UND überwunden werden will... Vielleicht.
Leserkritiken auch unter Rezensionen posten
Eine Anmerkung: ich finde die Rubrik Leserkritiken ja gut und sinnvoll. Aber wäre es nicht auch gut, wenn die Leserkritiken zu auf nachtkritik schon besprochenen Inszenierungen auch dort gepostet oder dorthin sortiert werden? Und: sollen hier auch Filmkritiken stehen? Wenn ja, auch gut, aber dann kommt von mir demnächst (nur noch bis zum 17.12. warten) eine Hymne auf 'Star Wars - Das Erwachen der Macht'. Nicht das Beschwerden kommen!

(Liebe/r dabeigewesen,
das geschieht auch so.
Gruß
jnm)
Leserkritiken: Kommentar zu Beiträgen kulturblog
Von den letzten 24 Beiträgen sind 18 von kulturblog. Liebe nachtkritik, dann bitte lieber diesen Pfad schließen. Oder verlinken. Dies lebt doch von eurer journalistischen Auswahl?
Ich verliere die Lust, hier etwas zu schreiben, wenn ich schon diese textkolonnen sehe.
Leserkritiken: My fair Lady in Kiel
Wer kennt nicht Ohrwürmer wie „Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen“ oder „Ich hab getanzt heut Nacht“? Wenn dann Frederik Loewes immerhin schon sechzig Jahre altes Musical „My fair Lady“ so schwungvoll über die Rampe kommt, wie an diesem Sonnabend in der Regie und Choreografie der an der Förde schon bekannten frei schaffenden Ricarda Regina Ludigkeit, kann der Erfolg nicht ausbleiben. In dieser Produktion müssen alle Beteiligten 165 Minuten lang in dem fantasievollen Bühnenbild von Hans Kudlich und den prächtigen Kostümen von Gabriele Heimann und Silja Oestmann vor allem tanzen. Aber auch spielen und singen. Das tun alle Beteiligten in dem großen Ensemble mit Hingabe.
Die Geschichte von dem schrulligen Phonetik-Professor Henry Higgins, der aus dem Straßenmädchen Eliza eine Dame der Gesellschaft machen will, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Mit Kammersänger Jörg Sabrowski und Lesia Mackowycz – die mit Julie Caffier alterniert – sind diese beiden Hauptrollen überzeugend besetzt. Eine großartige Charakterstudie bietet der Gast Rudi Reschke als Alfred Doolitle. Ihnen zur Seite stehen Fred Hoffmann als Oberst Pickering, Michael Müller als Freddy Eynsford- Hill und Ilka von Holtz als Mrs. Higgins. Sie alle kommen eigentlich von der Oper, aber sie schlagen sich in diesem schwierigen Genre tapfer. Dass die Stubenmädchen Barbara Wanasek und Vera Scholten ständig Treppen rauf und runter laufen müssen, ist halt ein Gag.
Am Pult stellt sich Till Drömann vor. Er führt das Philharmonische Orchester mit Schwung durch den Abend. Der Opernchor ist von Lam Tran Dinh sicher einstudiert- Das Premierenpublikum ist begeistert und feiert alle Beteiligten.

Weitere Aufführung

26. November, 19.30 Uhr
Leserkritiken: Es wechseln die Zeiten + Wir wollen spielen, Berliner Ensemble
Leserkritiken zu "Es wechseln die Zeiten" und "Wir wollen spielen!", Berliner Ensemble

„Es wechseln die Zeiten“: altbackene, verqualmte Brecht-Revue am Berliner Ensemble

Hinter „Es wechseln die Zeiten“ verbirgt sich genau das, was der Untertitel ankündigt: „Eine Revue durch Brechts Stücke in Liedern und Gedichten“. Als das Berliner Ensemble mit „Mutter Courage und ihre Kinder“ am Théâtre de la Ville in Paris zu Gast war, schlugen die französischen Theatermacher vor, als Rahmenprogramm ein Best-of aus Brechts Songs und Texten zu gestalten. Seit der Premiere im September 2014 stand die Produktion „Es wechseln die Zeiten“ auch einige Male an Bertolt Brechts alter Wirkungsstätte am Berliner Schiffbauerdamm auf dem Spielplan.

Es ist eine naheliegende Idee und durchaus legitim, den Ahnherrn und Übervater des Hauses mit einer kleinen, etwas mehr als einstündigen Hommage zu ehren. Aber dieser Abend ist eine altbackene Enttäuschung. Regisseur Manfred Karge sitzt vorne links am Bühnenrand und hangelt sich streng chronologisch durch Brechts Werk. Hinter ihm sitzen die Musiker, rechts haben sich BE-Ensemble-Mitglieder um einen langen Tisch versammelt. Wenn sie nicht gerade an der Reihe sind, einen kurzen Song zum Besten zu geben, vertreiben sie sich die Zeit damit, sich und das Publikum mit Qualm einzunebeln.

Dieser Abend ist eine Zumutung für die Atemwege und in all seiner Einfallslosigkeit schnell abzuhaken.

„Wir wollen spielen!“: Ernst Busch-Schauspiel-Absolventen zeigen ihr Können auf der BE-Probebühne

Empfehlenswerter war einen Tag später „Wir wollen spielen!“: der aktuelle Absolventen-Jahrgang der Ernst Busch-Hochschule zeigte kurz nach dem Intendantenvorspiel auf der Probebühne des Berliner Ensembles ihr Können mit kurzen Ausschnitten ihrer Abschlussarbeiten.

Der Schwerpunkt lag auf klassischen Stoffen: Stella Hinrichs sprach das Gretchen, Annemarie Brüntjen und Jaela Carlina Probst duellierten sich als Elektra und Klytaimnestra. Tschechow war mit gleich drei Szenen vertreten: aus „Die Möwe“, „Platonow“ und „Der Bär“.

In den mehr als drei Stunden, die von einer kurzen Pause unterbrochen waren, ragten folgende Kabinettstückchen besonders hervor:

Leonard Scheicher und Felix Strobel (das Duo aus „Zwei Herren aus Verona“ und „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“) schlüpften in die surrealen Figuren aus Roland Schimmelpfennigs Theaterfassung von „Alice im Wunderland“.

Lukas Darnstädt spielt den Monolog eines Beziehungsunfähigen, der seine Partnerinnen nach allen Regeln der Kunst verführt und dann eiskalt abserviert: eine Episode aus dem Band „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ von David Foster Wallace, der die Feuilletons zu Beginn des Jahrtausends begeisterte.

Jaela Carlina Probst interpretierte das Lied „Gastgeber“ des Kleinkunstduos „Pigor singt. Benedikt Eichhorn muss begleiten“, das über Gäste, die zu früh erscheinen und nur im Weg stehen, lästert.

Zum Schluss sorgte das Quartett Annemarie Brüntjen, Gaja Vogel, Tim Riedel und Tiomcin Vogel mit einem längeren Ausschnitt aus dem Broadway-Hit „The Odd Couple“ für Komödienspaß.

Auch in den anderen Szenen präsentierte sich der Abschlussjahrgang 2016 als talentierte Truppe. Hoffentlich sehen wir viele von ihnen bald mit festen Engagements wieder.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26593-26593.html
Leserkritiken: Hoffmanns Erzählungen in Lübeck
Der freischaffende Regisseur Florian Lutz hatte sich in der vorigen Spielzeit in Lübeck mit einer hoch umstrittenen und viel diskutierten „Tannhäuser“-Inszenierung vorgestellt. So sind denn Lübecks Theaterfreunde an diesem Freitag mit vielen Erwartungen, wohl auch Befürchtungen, in das Haus an der Beckergrube gekommen. Und sie sind positiv überrascht worden. Lutz bot drei Stunden lang eine weitgehend werkgetreue und überaus phantasievolle Produktion von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ – eine Produktion überdies, die die neuesten Erkenntnisse über die Intentionen des Komponisten, dem der Tod die Feder aus der Hand genommen hatte, berücksichtigt.
Bei Lutz ist Hoffmann – der von dem in Lübeck bereits bekannten Franzosen Jean-Noel Briend gesungen wird – ein dem Untergang geweihter Alkoholiker. Der die Liebe einer idealen Frau sucht und doch nur sich selbst liebt. Konsequent werden die Rollen der vier vermeintlichen Geliebten Stella, Olympia, Antonia und Guilietta von nur e i n e r Sängerin Fabienne Conrad – auch sie Französin – dargestellt. Sie verfügt über eine große einschmeichelnde Stimme. Bei den vertrackten Koloraturen der Olympia sind freilich Schärfen nicht zu überhören. Aber im Laufe des Abends fängt sich die Sängerin und bietet sängerisch wie darstellerisch Großartiges. Kaum etwas Anderes ist über den Hoffmann des Jean-Noel Briend zu sagen. In dem von dem Leiter der Bühnenmusik Willy Daum arrangierten „Chant bachique“ zur Begleitung von Rock-Musikern gewinnt er geradezu dämonische Form. Ihm steht als kommentierende Muse Wioletta Hebrowska als Staatsministerin für Kultur in gewohnter Qualität zur Seite. Beachtlich auch, dass endlich einmal auf einer Opernbühne gutes Französisch zu hören ist.
In dem fantasievollen Bühnenbild von Martin Kukulies- das alle technischen Möglichkeiten des Hauses nutzt – und in den bunten Kostümen von Mechthild Feuerstein müssen fast alle Mitglieder des Ensembles mehrere Rollen übernehmen – so Gerard Quinn die der Bösewichter. Viele Aufgaben kommen dem von Joseph Feigl und Jan-Michael Krüger einstudierten Chor kommen zu. Den Olympia-Akt hat Regisseur Lutz in ein Fitness-Studio verlegt, wo Daisy Reinhard als Model und Oliver Reinhard als Bodybilder gefallen. Eindrucksvoll auch die Lichtgestaltung durch Falk Hampel. Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri hat das Philharmonische Orchester wie das Geschehen auf der Bühne jederzeit im Griff.
Das Premierenpublikum ist sehr angetan, geizt nicht mit Szenenbeifall und feiert zum Schluss alle Beteiligten. Einzelne Buh-Rufe wird der Regisseur verschmerzt haben.

Weitere Aufführungen: 22, November, 16 Uhr, 11. Dezember, 19.30 Uhr
Leserkritiken: Jugend.Erinnerung 1945/2015
Junges DT: Jugend.Erinnerung 1945/2015

Jugend.Erinnerung 1945/2015 ist mehr als ein Theaterabend, ja, er ist nicht einmal in erster Linie einer. Es ist ein Projekt des Zusammenkommens, des einander und sich selbst Hinterfragens, des Infragestellung eigener Überzeugungen und des Finden von Gemeinsamem jenseits über Generationen verhärteter, meist konfrontativer Narrative. Es ist eine reise, metaphorisch und im Wortsinn. Eine Reise zum Kern von Menschsein, von Jugend, von Leben. Ein daraus resultierender Theaterabend kann nur Versuch bleiben, Stückwerk sein, er muss an der Nichtvermittelbarkeit der gemeinsamen Erfahrung scheitert. Dieser macht es sich mitunter ein wenig zu leicht, bleibt oft ratlos und vermittelt doch eine, dennoch meist schwache, Ahnung dessen, was diese Jugendlichen gemeinsam erlebt haben und wie sich Erinnerung lebendig halten kann, selbst wenn jene, die sich erinnern könnten, längst tot sind. Vor allem aber deutet er an, warum die Erinnerung so wichtig ist und wohin es führen könnte, sich dieser gemeinsam zu stellen. Eine Idee, die gerade im heutigen Europa etwas mehr Beachtung verdient.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/11/16/krieg-der-flaschen/#more-4831
Leserkritiken: Herzerlfresser/DT Berlin
Ferdinand Schmalz: der herzerlfresser, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Ronny Jakubaschk)

Es ist Schmalz wie Jakubaschk zu verdanken, dass die Figurenzeichnungen zum Spannendsten gehören, was der Abend zu bieten hat. Insbesondere Harald Baumgartner als Bürgermeister sticht heraus: Sein Rudi ist skrupelloser Pragmatiker und rastlos Suchender zugleich, Baumgartner gibt ihn als harten Machtmensch und pubertären Verliebten. Und doch erfasst die Eindeutigkeit des Textes bald auch die Figuren. Hier jedoch zeigt sich die Stärke von Jakubaschks Zugriff: Seine Mischung aus Schauermärchen und fast Brüchiger Moritat, seine Beschwörung der Künstlichkeit hält den Text am Leben, weil er dem grandiosen Ensemble die Gelegenheit zum Spiel lässt und dem Text als ebensolches eine Freiheit verleiht, die er auf dem Papier nicht hat. Und so brechen sich durch die schnell ermüdende Eindeutigkeit der Botschaft – von der Notwendigkeit, unser Leben zu ändern, ist mehrfach die Rede – vor allem Fantasie und ein naiv-neugieriges Liebesbedürfnis Bahn, das dem Text zwar ein wenig in den Rücken fällt, ihn aber letztlich stärkt, indem es seine Schwarz-Weiß-Malerei in unterschiedlichsten Tönen einfärbt. Auch wenn Jakubaschks Rahmen – der Abend beginnt mit einem stilisierten Figurenreigen und kehrt später dahin zurück – ein wenig eng wirkt, so bleibt doch eine Restanarchie, die sich nicht so leicht kategorisieren und noch weniger einfangen lässt. Am Ende stehen Spott und Hoffnung. Ein interessantes Pärchen.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/11/30/spott-und-hoffnung/
Leserkritik "Gewehre der Frau Carrar", Berlin: Brecht-Museum
Bertolt Brecht: Die Gewehre der Frau Carrar, Berliner Ensemble (Probebühne), Berlin (Regie: Manfred Karge)

Brecht wollte in den Kopf des Zuschauers, nicht in sein Herz. Auch hier, in der Geschichte der Mutter, die glaubt, ihre Söhne retten zu können, in dem sie im Krieg neutral bleibt und zu den Waffen greift, als sie erfährt, dass sie gescheitert ist. Wenn der Abend etwas schafft, dann kurze Momente der Berührung zu schaffen. In der innigen Beschwörung der Toten durch den sacht berührenden Chor, in der versteinerten Verzweiflung des trotzig verhärteten Gesichts der Titelfigur und der wütenden ihres Bruders (Roman Kaminski), in der Stille, die sich zwischen Brechts eher plakativ geratenen Texten immer wieder Bahn bricht. Das Hirn des Zuschauers dagegen darf auf Standby bleiben. Dieser Abend spricht nicht zum Publikum, hat ihm nichts zu sagen. In einer zeit, in der die Frage, ob, wofür und wie man Partei ergreifen sollte, welche Rolle Gewalt spielen darf oder gar muss, aktueller ist denn je, kapselt sich Karges Inszenierung ab wie in einer Zeitblase. Man meint, in einem Brecht-Museum zu sein, die Zeit eingefroren wie das an Wiegel erinnernde Spiel, ins Archiv zu blicken zurück in eine Zeit, in der die Standpunkte fest und klar waren, das Theater eine propagandistische Funktion hatte und sich die Welt unterteilen ließ in Schwarz und Weiß. Es ist ein befremdlicher Blick, nachdem das Hinaustreten in die Verwirrung und Ratlosigkeit unseres Heute beinahe befreiend wirkt.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/12/02/abends-im-museum-2/
Leserkritik "Gewehre", BE Berlin: Museum als Wahrheit?
Ich weiß nicht - jemand der so jung Baal geschrieben hat, hatte wohl selbst kein Problem mit den Etagenwechseln zwischen Zeh und Scheitel... Brecht wollte vielleicht Kapitalismuskritik in den Kopf der Leute kriegen UND Theater machen für sein eigenes Herz. Weil Theater halt in das Herz der Zuschauer geht, ist der Weg nach oben leichter. So oder so. Und ein Brecht-Museum ist doch ganz schön! Lauter schöne feste klare Standpunkte in den Vitrinen? - Sehr schön. Wenn das für die Verwirrung und Ratlosigkeit heute befreit, hat ja Katharsis stattgehabt! Wenn das möglich ist mit Brecht am Stück, ist das Museum vielleicht eine Wahrheit?
Leserkritik: Hochzeit des Figaro, Staatsoper Hamburg
Figaros Hochzeit in der Hamburgischen Staatsoper
eine unprofessionelle Kritik

Im Jahr 1953 hörte und sah ich als Schüler die erste Opernaufführung meines Lebens: den Figaro in der Hamburgischen Staatsoper – ein prägendes, bis heute erinnertes schönes Erlebnis. Jetzt, als Opa, wollte ich meinen beiden zwölfjährigen Enkelmädchen ein Gleiches zukommen lassen. Das war ein Fehler!

Statt der Komödie, der Ironie und Schalk versprühenden Bloßstellung einer spätfeu-dalen Gesellschaft, erlebten wir eine mit angedeuteten Obszönitäten „angereicherte“ Groteske, zu welcher selbst der optische Rahmen keinerlei der Handlung adäquate Atmosphäre schuf. Nur die Stimmen und das Orchester vermittelten Mozart in her¬vorragender Weise, die Musik hatte man nicht kaputtgekriegt.

Man kann dem Regisseur nicht absprechen, dass er Einfälle hatte, sogar manche guten und erheiternden. Z.B. während der Ouvertüre die Leinwand mit den zu Figu-ren und Symbolen sich wandelnden Noten. (Obwohl auch der sonst übliche geschlossene Vorhang durchaus Erwartungsstimmung entstehen lässt.) Doch wer setzt Grenzen, wenn, wie so oft, eine die Gesamtwirkung dominierende, überehrgei-zige Regie sich in den Vordergrund drängt und das Werk missachtet.

Manche „genialen“ Einfälle entpuppen sich als fixe Ideen, die, um sie konsequent durchzuhalten, bewirken, dass für die Handlung unerlässliche Komponenten nur in Form von Notlösungen zu realisieren sind. So z.B. der anfangs noch mit Notenblät-tern tapezierte kubische Raum in dem bis zum Ende alles abläuft. (Wieso eigentlich Notenblätter? Um selbst dem Dümmsten im Publikum zu verdeutlichen, dass Mozart ein Komponist war!) Die Folgen sind, dass Cherubino nicht durch ein Fenster entfleuchen kann, sondern sich durch das matrat¬zenlose Bett in einen imagi¬nären Abgrund stürzen muss; und dass man den Sängern die Angst vorm Stolpern über das bis zum Finale auf dem Boden angehäufte Papier anmerkt.

Natürlich kann man unter diesen Bedingungen auch nicht im letzten Akt der Oper das Versteckspiel in einem von Büschen umgebenen dunklen Hain zeigen. Zuschauer, die den Figaro von früheren Opernbesuchen schon kennen, werden sich das doch wohl selbst so vorstellen können! Für den Neuling müssen eben sechs Akteure mit nach oben gehaltenen Papierfidibussen genügen. (Shakespeare lässt grüßen.) Und die intimen Zwiegespräche laufen natürlich vor den Augen und Ohren der auf der Bühne agierenden kompletten Darstellerriege ab. Wozu denn heimlich und dunkel?

Was die heutzutage in Mode gekommenen obszönen Einlagen betrifft: Sicher – wer weiß es nicht? – Mozart war selbst kein Kind von Traurigkeit. Möglicherweise wäre ihm und da Ponte Ähnliches eingefallen, hätten sie in unserer Zeit gelebt (nur viel-leicht etwas charmanter). Haben sie aber nicht. Und zu ihrer Zeit wäre der Figaro so gar nicht erst auf die Bühne gekommen. Wer ein Werk in seinen historischen Kontext einordnen kann, braucht solches, für die Handlung überflüssige, ja, von ihr ablen¬kende, Modernisierungsbeiwerk nicht. Und wer von Geschichte keine Ahnung hat, dem wird ein falsches Bild von der Entstehungszeit vermittelt.
Wieso ist es zum Verständnis der Oper notwendig, dass kopulierende Paare (zwar immerhin noch in Unterwäsche) gezeigt werden? Und warum geschieht das umringt von den anderen Darstellern? Sicher stecken hinter diesem Einfall sehr subtile tiefenpsychologische Klimmzüge. Mag ja sein, aber Ich kann auf solche und andere Belehrungsversuche sehr gut verzichten und will mir von keinem Regisseur seine begrenzte Weltsicht aufzwingen lassen. Man merkt die Absicht und ist verstimmt!

Meine beiden Enkelinnen, obwohl dank etlicher begeisternder Opernaufführungen des Hamburger Theaters für Kinder schon mit dem Metier etwas vertraut und von mir über den Handlungsablauf des Figaro vorab informiert, haben dem Bühnengesche-hen in der Staatsoper nicht zu folgen vermocht. Ich befürchte, es war bis auf weiteres (wenn nicht sogar für immer), das letzte Mal, dass sie und ich erwartungsfroh in das Haus an der Dammtorstraße gekommen sind. Vielleicht wird es mir gelingen, sie demnächst einmal wieder in die Max-Brauer-Allee zu locken. Vielleicht ersatzweise auch zum König der Löwen.

Hamburg, den 26.11.2015
Robert Schomacker
Leserkritiken: Die lächerliche Finsternis/Jena
Wolfram Lotz "Die lächerliche Finsternis" in Jena

Die Jenaer Aufführung von „Die lächerliche Finsternis“ in der Inszenierung von Jan Langenheim ist ganz anders als die am Wiener Burgtheater- direkter, bunter und in mancher Hinsicht besser. Die Ausstatter stellen das Lotz’sche postkoloniale Phantasieland, eine Mischung aus afrikanischer, vietnamesischer und afghanischer Wildnis und dem inneren Dschungel von uns Mitteleuropäern, konkret und liebevoll auf die Bühne. Die Schauspieler erschaffen ihre Figuren aus genau derselben Mischung aus Skurrilität, Drastik und Poesie, die schon die Texte von Lotz so toll macht. Nirgends Karikaturen, lauter echte Menschen, Existenzen mit einem Schicksal. Jeder Witz ist in einem Untergrund des Schreckens verankert. Die fünf Schauspieler sind untereinander und mit dem Autor auf einer Wellenlänge. Dadurch entsteht ein zwar unmögliches aber in sich völlig schlüssiges Universum.

In Jena kommt ganz deutlich heraus, was bei der Wiener Aufführung eher untergeht: in den Eingeweiden des postmodernen Dschungels steckt ein klassisches Drama- mit einem klassischen Helden, dem naiven, gutmütigen Gefreiten Dorsch, und einem Gegenspieler- seinem paranoiden Vorgesetzten Pellner. Je tiefer sie in den Dschungel eintauchen, desto höher steigen Angst und wilde Projektionen. Dorsch versucht Pellners Freundschaft zu gewinnen, aber der ist in absurdem Maß kontaktgestört. Wie Ilja Niederkirchner und Maciej Zera den sich ins Lebensbedrohliche steigernden Kampf der beiden um Nähe und Distanz spielen, ist sehr komisch, schrecklich,- und eine schauspielerische Glanzleistung. Als Zuschauer kann man nicht anders: man empfindet Mitgefühl mit diesen beiden Antihelden, die bei ihrer Mission ebenso auf verlorenem Posten stehen wie in ihren eigenen Körpern. Anders als in der Wiener Aufführung hat man nicht nur Mitleid mit den Opfern, sondern man steckt tief mit drin in der Haut der Nachkommen der Kolonialherren, die unsere eigene ist. Die Jenaer Aufführung zwingt, ohne moralischen Zeigefinger aber unnachgiebig, zum Blick in die Finsternis des eigenen Herzens.

Es ist gerade an verschiedenen Stellen zu lesen, dass sich die Theater, was das Thema der anschwellenden Angst vor Fremden angeht, heutzutage plakativ und eindeutig äußern müssten, das sei zwar schade für die Kunst, aber etwas Anderes sei gerade nicht drin, die Zeiten seien eben so. „Die lächerliche Finsternis“ in Jena beweist das Gegenteil.

Nächste Vorstellungen am 21.12. und 22.12. http://www.theaterhaus-jena.de/

ganze Kritik: gretelwallfisch.blogspot.com
Leserkritik: Der Herzerlfresser, Deutsches Theater Berlin
der herzerlfresser, Deutsches Theater Berlin/Box

Das Deutsche Theater Berlin versuchte im Advent, aus den Gefühlsverwirrungen im Kapitalismus komödiantische Funken zu schlagen.

„Der Herzerlfresser“: Zombiejagd und Gefühlschaos in der österreichischen Provinz

Im ersten Fall ist dies noch halbwegs geglückt: „Der Herzerlfresser“ ist ein unterhaltsamer Abend in der Box, auf der kleinsten Bühne des traditionsreichen Hauses.

Der dritte Text von Ferdinand Schmalz (hinter diesem Pseudonym verbirgt sich ein junger Autor aus Graz) ist eine Groteske aus der österreichischen Provinz. Die Figuren sind stark überzeichnet, aber bei weitem nicht so boshaft und skandalträchtig wie bei seinem Landsmann Werner Schwab. Statt deftiger Gesellschaftskritik stehen bei Schmalz die Sprachverliebtheit und ein Konfettiregen aus Metaphern und Wortspielen im Mittelpunkt. „Herz“ und „Fuß“ ziehen sich als Leitmotive durch die Dialoge und Aperçus dieses Abends.

Regisseur Ronny Jakubaschk entschied sich dafür, das Ganze als Farce zu inszenieren: knallrot und giftgrün sind die dominierenden Farben. Grell geschminkte Schauspieler, die Karikaturen alpenländischer Trachtenmode tragen, stolpern durch die Jagd nach dem „Herzerlfresser“, einem Frauenmörder, der seinen Opfern das Herz herausreißt. Elias Arens spielt die Titelfigur als Mischung aus Zombie und Vampir, mit blutigen Lefzen und mahlendem Kiefer, ständig auf der Suche nach dem nächsten Opfer.

Die Jagd nach dem Serienmörder gerät zwischendurch immer wieder in den Hintergrund, da die Figuren vor allem mit ihrem Gefühlchaos zu kämpfen haben. Amourös geht es hier kreuz und quer durcheinander, Missverständnisse lassen die Angebetete zunächst unerreichbar scheinen, bevor die Paare doch noch zueinander finden. Das Gefühlschaos wird noch dadurch verschärft, dass die Figuren auch noch ständig damit befasst sind, ihre Chancen auf dem kapitalistischen Markt zu optimieren: die Fußpflegerin Irené (Isabel Schosnig, nach längerer Zeit zurück am Deutschen Theater) träumt vom Beauty-Salon im neuen Einkaufszentrum. Bürgermeister Rudi (Harald Baumgartner) ist der Prototyp eines mit Schärpe durch die Gegend stolzierenden Provinzpolitikers, der davon träumt, Investoren anzulocken und auch ein Stück vom Kuchen abzubekommen, sich dabei aber maßlos überschätzt.

Eigentliche Hauptfigur des Abends ist aber der Gangsterer Andi: Thorsten Hierse, der häufig ernste Rollen spielt, beweist sein komödiantisches Talent und bringt die verschiedenen Facetten seiner Figur wandlungsfähig zum Leuchten: mal dominiert die Schmierigkeit des Kleinkriminellen; mal seine sensible Seite, da er Fauna Florentina (Lorna Ishema, neu im DT-Ensemble) umwirbt; mal wirft er sich als Lockvogel in Frauenkleider und schlägt aus der Travestie-Nummer Funken.

„Der Herzerlfresser“ bietet knapp achtzig Minuten kurzweilige Unterhaltung. Jakubaschk vertraute seinem Regiekonzept aber anscheinend doch nicht ganz: anstatt seine Groteske als temporeiche Farce zu spielen, lässt er die Schauspieler immer wieder in stilisierte, zeitlupenartige Bewegungen verfallen, die dem ansonsten munteren Abend einiges an Schwung nehmen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/27018-emotionen-im-kapitalismus-herzerlfresser-nora-7-pleasures.html
Leserkritik: 7 Pleasures, Mette Ingvartsen
„7 Pleasures“: dänischer Performance-Star Mette Ingvartsen und ein Knäuel nackter Körper zu Gast im Hebbel am Ufer (HAU)

Eine lange Schlange bildete sich vor der Kasse des HAU 2: viele hofften, mit Wartenummer noch eine Karte für das „7 Pleasures“-Gastspiel von Mette Ingvartsen zu ergattern. Die Erwartungen waren groß. Gewaltig war auch der theoretische Ballast, der sich in Ingvartsens Programmheft-Interview um ihre neue Arbeit rankt.

Klischeebilder von Nacktheit und Sexualität sollten dekonstruiert werden. Die übersexualisierte Ästhetik der Werbung sollte aufgespießt werden. Hedonismus und Sinnlichkeit, sowohl zwischen Menschen als auch Gegenständen, sollten ausgelotet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Körper sollte auch unter politischen Aspekten verhandelt werden. Langer Rede, kurzer Sinn: es geht auch hier um die Gefühle und das Zusammenleben im Kapitalismus.

Platzt diese Theorieblase? Steht Ingvartsen, die als einer der Stars der europäischen Performance-Szene gehandelt wird und 2017 gemeinsam mit Chris Dercon die Volksbühne umkrempeln soll, mit ihrem Regiekonzept am Ende ebenso nackt da wie ihre Performerinnen und Tänzer während dieses 90minütigen Abends?

Zunächst passiert erst mal nichts. Bässe wummern im Hintergrund, aber noch genug Zeit, sich mit der Sitznachbarin über den neuen Pollesch auszutauschen – bis sich mitten im Publikum die Darsteller des Abends nach und nach von ihren Plätzen erheben. Sie ziehen sich langsam aus, zwängen sich durch die engen Reihen des HAU und schreiten langsam auf die Bühne, wo sie ein großes, hin und her wogendes Knäuel bilden.

Katrin Bettina Müller hat die perfekt choreographierte Ästhetik dieser Eröffnungsszene in der „taz“ sehr gut beschrieben: „Wie das fließt und vorwärts gleitet, lautlos dahin schmilzt, sich träge ausbreitet, in träumerischer Langsamkeit Hindernisse überrollt und schließlich zum Stillstand kommt.“

Nach etwa einer halben Stunde löst sich das Knäuel der Performance-Künstler Schritt für Schritt auf. Das zweite Drittel fällt leider deutlich ab. Ekstatische Zuckungen, dazu umkreisen sie eine Yucca-Palme, einen Schreibtisch oder eine Couch. Das Urteil von Michaela Schlagenwerth, die sich in der „Berliner Zeitung“ an eine Mischung aus „Sport, Seelenhygiene und Kindergeburtstag“ erinnert fühlte, fällt vernichtend aus. Aber in der Tat hinterlässt dieser Mittelteil viele Fragezeichen und wirkt an manchen Stellen redundant.

Im letzten Drittel findet der Abend zurück in die Spur. Einige Akteure ziehen sich an, andere bleiben nackt: der Fokus richtet sich auf Machtgefälle und Abhängigkeiten in den Beziehungen. Der gesamte Abend kommt ohne Worte aus, diese starken Schluss-Szenen sprechen aber eine deutliche Sprache und regen zum Nachdenken an.

Fazit: Streckenweise bleibt Ingvartsen hinter ihrem Anspruch zurück. Zwischendurch gelingt es ihr aber doch, einige der Themen, um die es ihr geht, deutlich zu markieren.

Höchstwahrscheinlich wird der Andrang auch heute Abend vor der letzten der drei Berliner Aufführungen wieder enorm sein. Ebenso wahrscheinlich wird die Auseinandersetzung über Ingvartsen und ihre Performance-Kunst in den kommenden Jahren weiter hitzig geführt werden. Die Meinungen, was ihre Arbeiten taugen, gingen in den Berliner Feuilletons zwischen „taz“ und „Berliner Zeitung“ weit auseinander. Und ganz sicher wird auch weiter über den Plan von Müller/Renner/Dercon gestritten werden, der Volksbühne nach der Ära Castorf ein neues Profil zu geben und Ingvartsen dabei eine zentrale Rolle zu geben.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/27018-emotionen-im-kapitalismus-herzerlfresser-nora-7-pleasures.html
Leserkritiken: andcompany&Co mit WARPOP.../HAU Berlin
andcompany&Co.: WARPOP MIXTAKE FAKEBOOK VOLXFUCK PEACE OFF! ‘Schland Of Confusion, Hebbel am Ufer/HAU3, Berlin

Ein Spielplatz ist es, den andcompany&Co. auf die Bühne bringen, wenn sie versuchen, unsere Zeit aus der Sicht des apokalyptischen Zeitalters vor rund dreißig Jahren zu befragen. Sie erzählen von Kindern, die Pläne schmieden, was sie in den letzten fünf Minuten ihres Lebens tun würden, bei denen Rutsche (drei davon sind hier aufgebaut) und Raketeneinschlag nicht ohne einander zu denken sind. Damals trieb die Angst die Menschen auf die Straße, kannten die Kinder wenig anderes als Wochendausflüge nach Mutlangen oder in den Hofgarten. Auch heute wird wieder lautstark protestiert, werden Friedenstauben hochgehalten und sind doch die Parolen andere. Die Protagonisten nicht unbedingt. So mancher, ein Jürgen Elsässer zum Beispiel, hat die Seiten gewechselt und ist sich doch treu geblieben. Ein Prophet der Angst. In ihr sehen die Akteure von andcompany&Co. das verbindende Element und so drehen sie die Achtziger durch den Fleischwolf: Parolen, Geschichten, Musik und visuelle Welten des MTV-Jahrzehnts werden geshreddert, wild komponiert und zusammengesetzt und plötzlich sind wir im Jahr 2015, entdecken wir untern Haarspray- und Punkperücken die Köpfe von heute, wird die Endzeitkämpferin Sarah Connor aus den Terminator-Filmen zur Sängerin Sarah Connor, die angefeindet wird, weil sie Flüchtlingsfamilien aufnimmt.

“Die Zeit, die vergeht nicht mehr”, heißt es an einer Stelle. 1984 ist heute, der “große Bruder” heißt Facebook oder NSA, die Friedensbewegung nennt nicht heute Pegida, die totalitäre Kraft der Angst bleibt ungebrochen. So manchem wird die klare Linie, die das Kollektiv zwischen der Friedensbewegung und dem heutigen “Wutbürgertum” zieht, nicht behagen, sie ist sicherlich auch nicht vollkommen fair und doch macht der Abend eindeutige Parallelen klar. Es ist die Angst, die uns treibt wie sie uns damals trieb, in die Arme einer Gemeinschaft, die von der Apokalypse fasziniert ist und nach einfachen Antworten sucht, vielleicht auch nach Führern, die diese zu geben vermögen. Die Angst, die uns zwingt, gegen etwas zu sein, ohne dass wir wissen, wofür wir sind. Und umgekehrt. Angst fürt zu Verunsicherung führt zu Lähmung führt zur Einebnung aller Werte. Es ist eine Angst, die uns unserer Sprache beraubt. Mal verschwinden die Vokale, mal die Konsonanten, wird aus “Abendland” A-E-A und “ah ja” und “eieiei”, starke Symbole für die Macht kollektiver Lähmung, die uns einschränkt bis hin zu dem Punkt, da wir nicht mehr in der Lage scheinen, uns zu bewegen. Da helfen auch keine Zeitreisen mehr, die Zukunft ist jetzt, und sie ist nicht tröstlich.

Der Abend mit dem unaussprechlichen Namen ist ein audiovisuelles Mixtape aus Popkultur, Politik, Urängsten und Populismus, das auf wahnwitzig virtuose Weise Achtziger und Heute verschränkt, die Gegenwart als Widergänger der Vergangenheit zeigt und vorführt, wo und wie wir uns wiederholen. Er ist so überladen, dass lose ende bleiben, nicht alles funktioniert und zuweilen stoßen Banalismen wie ein müdes Re-Enactment von Monty Pythons ideologischer Zersplitterungssatire oder gewollt Jelinek-hafte Wortspielgewitter, die auf halber Strecke stehen bleiben, sauer auf. Und doch zeigt dieser spielwütige und wütende Abend zweierlei auf: ersten, wie wenig wir aus dem Zeitalter der Angst gelernt haben, und zweitens, wie einfach es sein müsst, den ausgetretenen Pfad zu verlassen. es ist das einfache, was so schwer zu machen ist. Das platt zeigefingerhebende Ende ist wenig überzeugend, der Abend in seinem wahnwitzigen, realistisch irrsinningen Mischmasch, den wir zu oft für Gesellschaft und politische Kultur halten, ist es umso mehr. Übrigens kommt in diesem Text das Wort “Angst” dreizehnmal vor. Auch das ist wohl eine Aussage.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/12/15/angst-essen-vokale-auf/
Leserkritik: Zwischeneinander, DT Berlin
Ich hatte kürzlich die Chance, die Klassenzimmerproduktion "Zwischeneinander" des Deutschen Theaters / Jungen DT in der Box des DT zu sehen. Sehr beeindruckend und berührend, was die beiden Schauspieler (Katharina Schenk und Roland Bonjour) in dieser zeitlich und örtlich konzentrierten Weise (das Stück wird in der Regel innerhalb einer Schulstunde, 45 Minuten, in einem Klassenzimmer aufgeführt) über Nähe und Begegnung, über soziale Medien und das Jungsein vermitteln. Wenn man auf die inzwischen üblichen Schnickschacks und Krücken, auf Video, Bühne, etc. verzichten muß, bleiben Körper, Stimme, Text... und das reicht völlig aus. Die schauspielerische Leistung ist ohne Fehl und packend, der Text (eine Mischung aus eigenen, mit einer neunten Berliner Klasse geschriebenen und im Internet gefundenen Texten) ist stark. Es ist fast schade, daß diese Produktion nunmehr gar nicht mehr im DT, sondern nur in Schulen zu sehen ist, wobei es natürlich gut ist, daß das Junge DT auch hier auf Qualität setzt und sich nicht mit 'Klassikern für Jugendliche' an das Zielpublikum heranwanzt. Absolut sehenswert!
Leserkritiken: Die Physiker am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Eine groteske Komödie ohne Perspektive?

"Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg
Anmerkungen zum Werk, zu seiner Aussage sowie ein Hinweis auf seine Inszenierung

Regie: Sebastian Kreyer / Premiere: 25. April 2015

Die Komödie "Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt ist 1961 im geistigen Horizont des Kalten Krieges entstanden und damit in einem Zeitalter, in dem die Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung, wenn auch häufig nur unterschwellig, durchaus präsent war. Die Atombomben, die im Zweiten Weltkrieg auf Hiroshima und Nagasaki fielen und deren damaliger Einsatz seit Längerem durchaus umstritten ist, gaben in ihrer weltgeschichtlich-apokalyptischen Dimension einen Vorgeschmack auf das, was eine Epoche ständiger, wenn auch im Wesentlichen latenter atomarer Bedrohung bereitzuhalten imstande ist. Durch die Kubakrise von 1962 – es ist das Jahr der Uraufführung des vorliegenden Stückes – rückte die Möglichkeit eines Untergangsszenarios in unmittelbare, besser gesagt, greifbare Nähe und wurde vermutlich in letzter Konsequenz durch das Zurückschrecken vor einem von Menschenhand verursachten Weltenbrand, durch das Gefühl, im Kriegsfall eine Menschheitskatastrophe ungeahnten Ausmaßes verantworten zu müssen oder, um es kurz zu sagen, durch die Rückbesinnung auf Vernunft und Weitsicht – fixiert an politische Handlungsschritte und -kriterien – buchstäblich in letzter Minute abgewendet: "Samstag, 27. Oktober, der sogenannte ,schwarze Samstag': (…) Ein US-Zerstörer zwingt mit einer Granate das sowjetische U-Boot B-59 zum Auftauchen. Das U-Boot hat Nuklearwaffen an Bord; um Haaresbreite bricht der Nuklearkrieg aus. Doch Wassili Alexandrowitsch Archipow, einer der drei Offiziere an Bord des U-Bootes, weigert sich, einen Torpedo ohne weiteren Befehl aus Moskau abzuschießen. (…) Ein amerikanisches U-2-Aufklärungsflugzeug wird über Kuba von einer SA-2-Guideline-Flugabwehrrakete abgeschossen; der Pilot Major Rudolf Anderson wird dabei getötet. Kennedy untersagt einen Gegenangriff ausdrücklich und erklärt sich noch einmal zu weiteren Verhandlungen bereit. Um 19:45 Uhr Washingtoner Zeit findet ein Geheimtreffen zwischen Robert F. Kennedy und dem Sowjetbotschafter Dobrynin statt. John F. Kennedy lässt seinen Bruder erklären, dass er auch einem Abzug der in der Türkei stationierten amerikanischen Jupiter-Raketen zustimmen würde, wie es bereits im zweiten – schon förmlicheren – Schreiben von Chruschtschow gefordert worden war. Diese Möglichkeit hält er vor den meisten Mitgliedern des ExComm geheim, die mehrheitlich einen Luftangriff fordern. Dobrynin gibt diese Nachricht sofort nach Moskau weiter. Spätnachts entscheidet Nikita Chruschtschow, das Angebot Kennedys anzunehmen und die Raketen aus Kuba abzuziehen. (…) Zentral für die Lösung der Kubakrise war, dass sowohl John F. Kennedy als auch Nikita Chruschtschow sich der Tragweite ihrer Entscheidungen bewusst waren. Beide versuchten, alle Entwicklungen unter Kontrolle zu behalten, dem politischen Gegner Zeit für seine Entscheidung zu geben und nicht blind auf die Ratschläge ihrer militärischen Berater zu vertrauen.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Kubakrise )

Die wissenschaftlichen Entdeckungen der in der vorliegenden Komödie zur Troika der drei Physiker gehörenden Zentralfigur namens Möbius bergen offenbar ein derart zerstörerisches Potenzial in sich, dass eine auf Rückzug und Verheimlichung zielende Verhaltensstrategie, die „die Welt vor dem Zwang der Auswertung“ jener „für die Menschheit mörderischen wissenschaftlichen Entdeckungen zu bewahren“ trachtet (Reclams Schauspielführer (1990), S. 892), den Außenstehenden, d.h. den Rezipienten, zunächst als moralisch achtbare, im Übrigen auch plausibel wirkende Option menschlicher Orientierung erscheinen mag. Möbius hat, wie im Bertelsmann Schauspielführer von 1966 nachzulesen ist, "schließlich ein furchtbares Opfer dafür gebracht, daß seine Entdeckungen nicht in die Hände der Mächtigen fallen und n icht neue unvorstellbare Energien zur Vernichtung der Menschheit freigesetzt werden: (…).“ (S. 446) Und in den Materialien für Lehrkräfte, wie sie auf der Theater-Webseite des Stückes zur Lektüre und entsprechenden Verwendung in Lehr-/Lernprozessen bereitstehen, heißt es: "Möbius ist gar nicht verrückt, sondern spielt den Irren nur, um sich in der Anstalt verstecken zu können. Er hat die Formel aller Formeln gefunden und glaubt, dass seine Erfindung, sobald sie in die falschen Hände gerät, Unheil über die Menschheit bringen wird. Aus moralischen Gründen hat er sich also von der Welt zurückgezogen.“
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623/ Materialmappe, S. 5)
Forschung, Entdeckung und Erkenntnis können Entwicklungen sichtbar machen sowie Ergebnisse zeitigen, in deren Konsequenz angstbesetzte Fragen aufzuwerfen sich erschütternd problemlos anbietet, so z.B. ob die Welt inskünftig nicht von „apokalyptischen Panne n“ (Programmheft, S. 19) heimgesucht wird oder, wie es Dürrenmatt in seinem Interview von 1990 weiter ausdrückt, "die Menschheit nicht in einer evolutionären Krise steckt und auf ihr Ende zugeht.“ (Programmheft, S. 19) Der hiermit angedeutete Zustand von Gesellschaft und menschheitsgeschichtlicher Entwicklung mutet in der Tat paradox an: Hoher zivilisatorischer Entwicklungsstand einerseits, Krisen und Weltvernichtungsgefahren andererseits sind die beiden Seiten der gleichen Medaille, hier einer globalen Eliteherrschaft, wie sie sich im 20./21. Jahrhundert herausgebildet bzw. weiterentwickelt hat. Eine "Katastrophenwelt“ (Programmheft, S. 19) – diese Bezeichnung findet sich im oben angesprochenen Interview - angemessen darzustellen, ist im Sinne Dürrenmatts nur im Rahmen einer Groteske zu bewerkstelligen, einer Komödie mit schwarzem Humor und sogenannter schlimmstmöglicher Wendung.

Die Bewunderung des menschlichen Erfindergeistes schlägt genau dann in ein verzweifeltes, gar sardonisches Lachen um, wenn kaum noch zu leugnen ist, dass die Grenze oder auch nur der fließende Übergang zwischen Intelligenz und existenzvernichtender Paradoxie menschlichen Denkens und Handelns überquert zu werden im Begriffe steht. Die Wandlung von Bewunderung in eine Art Galgenhumor, von Adoration in Sarkasmus als Reaktion auf das, was der Mensch zu leisten und zu schaffen in der Lage ist, entspricht der Metamorphose von Genialität in Absurdität, was die Konsequenzen seines Denkens und Wirkens anbelangt. Dürrenmatt antwortet in dem erwähnten Interview von 1990 auf die Frage, woher die Lust komme, Komik mit Grauen zu mischen, folgendermaßen: „Ich muss immer dort lachen, wo andere nicht lachen müssen, und um gekehrt. Das Auseinanderklaffen von dem, wie der Mensch lebt, und wie er eigentlich leben könnte, wird immer komischer. Wir sind im Zeitalter der Groteske und der Karikatur.“ (Programmheft, S. 18) Und an anderer Stelle: "Ich hab gelegentlich den Eindruck, die Welt spielt ein noch viel verrückteres Theater. Man weiß nicht, ob Pakistan und Indien die Atombombe haben. Früher oder später wird man sie haben. Der Gedanke ist ungeheuerlich: Atomwaffen in den Händen unberechenbarer Drittwelt-Potentaten.“ (Programmheft, S. 19) Und: „ (…) – in diese Welt der apokalyptischen Pannen führt unser Weg.“ (Programmheft, S. 19)
Eine solchermaßen die Grenze zum Weltuntergang streifende Vision ist in ihrem Realitätsbezug und dem damit verbundenen zerstörerischen Potenzial letztlich nur durch ein beherztes Plädoyer für die Unsterblichkeit der auf Universalität setzenden Aufklärung und ein am Kantischen kategorischen Imperativ ausgerichtetes, ebenfalls universell zu verstehendes Handeln, wenn das einmal ein wenig pathetisch so ausgedrückt werden darf, zu überwinden. Die bereits erwähnte Kuba-Krise von 1962 zeigt, dass politische Turbulenzen, auch katastrophale, gar existenzvernichtende Zusammenbrüche von globaler Dimension nur durch Besinnung auf Vernunft, durch kluges Handeln und Beachtung humanitärer Gebote verhindert werden können.
Ein Forscherdrang im weitesten Sinne, welcher der menschlichen Natur immanent zu sein scheint, das Streben des Homo sapiens nach Erkenntnis und Einsicht, sein Tatendrang, sein Wunsch nach Weiterentwicklung und aktiver Lebensgestaltung, all dies lässt sich nicht aufhalten, im Gegenteil: Die Teilhabe möglichst vieler Gesellschaftsmitglieder an Wissenschaft und Forschung, an Weltwissen, an themenbezogenen Auseinandersetzungen und politischen Diskursen ist im Sinne der Menschen, vor allem ihres sich u.a. über Mitsprache und Mitwirkung einstellenden Wohlergehens nicht nur wünschenswert, sonder n im Zuge einer sich zunehmend den Tendenzen von Dispersion und Diffusion ausgeliefert sehenden Gesellschaft geradezu notwendig. Mögliche Formen der Verantwortungswahrnehmung setzen eine Bewusstseinsschulung voraus, die sich über Aufklärung und Wissenserwerb vollzieht. Erst die Kenntnis von Realitätsbezügen, von Sachlagen und Zusammenhängen sowohl konkreter wie auch theoretischer oder abstrakter Art macht es möglich, Strategien zur Bewältigung von Problemen und Krisen zu generieren. Auf der Basis von Wissen und situationsgerechter Wirklichkeitseinschätzung erweisen sich Vernunft und Mäßigung im Handeln als überlebensnotwendig.

Die Fragen, ob „einmal gedachtes Wissen (,) verborgen bleiben“, zugespitzt, ob „Wissen verheimlicht werden“ kann, spezifische Fragen, die im Zusammenhang von Unterrichtsmaterialien zum vorliegenden Drama aufgeworfen werden (http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623/ Materialmappe, S. 20), sind mit eindeutigem „Nein“ zu beantworten. Es ist vielmehr zu betonen und zu fordern, dass Information und Sachkenntnis bis auf wenige Ausnahmen – so z.B. geheimdienstliches Wissen zwecks Verhinderung von Terroranschlägen - transparent und damit dem überaus wichtigen gesellschaftlichen Diskurs stets zugänglich gemacht werden. Öffentlichkeit ist der Ausbildung von Verantwortungsbewusstsein überaus dienlich, und dies nicht nur bei Politikern und Wissenschaftlern, sondern – durchaus wünsc henswert – bei allen Gesellschaftsmitgliedern. Mit Blick auf das Wissenschaftsverständnis von Fachexperten sei in diesem Kontext auf eine Textstelle in einem Artikel, genauer gesagt, in einer Festansprache von Altbundeskanzler Helmut Schmidt hingewiesen, die in Auszügen in die oben erwähnten Unterrichtsmaterialien zum vorliegenden Drama aufgenommen wurde. Das hier relevante Zitat lautet: „Viele Wissenschaftler betreiben ihre Forschung um ihrer selbst willen. Die Forschung ist mindestens das zweitwichtigste Anliegen in ihrem Leben; in vielen Fällen ist die eigene Forschung das Allerwichtigste. Dahinter bleibt das Bewusstsein ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl zurück.“
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623 /Materialmappe, S. 24)
Das vorliegende Theaterstück entlarvt seine eigene Handlung, die ins Spiel gebrachten Dramenfiguren mit ihren devianten Verhaltensweisen, Gepflogenheiten und Intentionen, letztlich die Welt, in der sich das präsentierte Geschehen abspielt, als grotesk und absurd. Es will mit der Platzierung der drei Hauptfiguren in einer Heilanstalt, d.h. mit einer spezifischen Situierung der Handlungsabläufe und der sich im vorliegenden Fall hiermit verbindenden Inanspruchnahme von Ambiente, Utensilien und Vokabular aus dem klinischen Bereich der Psychiatrie und Neurologie die Verrücktheit einer Kontinuität von Entdeckung und Erfindung, todbringenden Anwendungsmöglichkeiten und daraus resultierenden Verheimlichungsstrategien künstlerisch gestalten. Damit ließe sich der Komödie, um die es hier geht, gleichzeitig ein Imperativ abgewinnen: Es ist wohl die unausgesprochene Forderung, die mit zunehmender Verwissenschaftlichung der Welt einhergehende Spaltung der Gesellschaft in den Kreis von Experten, auch Interessierten einerseits und eine sich aus verständlichen Gründen mutmaßlich vergrößernde Schicht der auf schlichtes Alltagswissen Fixierten und damit von notwendigem, differenzierteren, auch komplexeren Weltwissen Abgekoppelten andererseits zu reduzieren, vielleicht sogar ganz zu beseitigen. Manches Postulat aus den „21 Punkten zu den Physikern“ weist darauf hin: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Und: „Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.“ (Aus: 21 Punkte zu den Physikern
(https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Physiker oder
http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/die_physiker.1011623 / Materialmappe, S. 12))

Letztendlich fällt das Licht des Ausweges, der Perspektive, um es ein wenig poetisierend zu sagen, auch in diesem Werk der Weltliteratur erneut und immer wieder, wenn auch problemorientiert und latent auf Rationalität in wohlverstandenem Sinne, auf Vernunft und Aufklärung, damit implizit auf den politischen Kompromiss, wo er unumgänglich ist, schließlich auf den Wert der Humanität, kurzum: auf die einzig akzeptablen Kräfte, die das „mögliche Unmögliche“ zu verhindern imstande sind. Die in eine Frage gekleidete Überschrift zum vorliegenden Kommentar ist schließlich mit Nachdruck zu verneinen.
Burleskes, Skurriles, Groteskes und Absurdes sind tragende Elemente der hier kommentierten Komödie, sind Aspekte, die sowohl den Verlust wie auch die Notwendigkeit von Vernunft und Aufklärung – auf Letzter es wurde soeben hingewiesen - aufzeigen. Die Inszenierung lässt den Wahnsinn lebendig werden, um es kurz zu sagen, und bewegt sich hier in einem angemessenen Rahmen, durchaus bemerkenswert angesichts einer dem Publikum durch Arbeiten des Regisseurs außerhalb Hamburgs vermutlich bekannt gewordenen, nicht ganz unumstrittenen Extravaganz seiner inszenatorischen Ergebnisse. Eine vielleicht eher verborgene Subtilität von Geist und Handlung des vorliegenden Theaterstückes in Verbindung mit einer dezidiert auf Gelingen und Überzeugungskraft ausgerichteten Aufführungspraxis stellt nicht zu unterschätzende Ansprüche an die schauspielerische Kompetenz der hier in Aktion tretenden Darsteller. Sie werden alle - so ließe sich abschließend konstatieren – den Anforderungen, die sich mit ihrer Rollenwahrnehmung jeweils verbinden, in bester Weise gerecht und vom Publikum mit entsprechendem Beifall bedacht.

(Zum Profil des Autors vgl. www.MichaelPleister.de)

Hamburg, d. 02.01.2016
Leserkritik "Wodkakäfer", DT Berlin
Recherchetheater "Wodka-Käfer", DT Berlin

Mit ganz einfachen Mitteln stellte das Deutsche Theater Berlin bei seiner letzten Produktion vor Weihnachten einen interessanten Theaterabend auf die Beine: Anne Jelena Schulte klingelte an den Türen eines Altbaus im Prenzlauer Berg, unterhielt sich mit den Bewohnern und verdichtete die Quintessenz ihrer Gespräche zum Theaterstück „Wodka-Käfer“.

Auf die Idee zu dieser Klingel-Recherche-Expedition brachte Schulte der Reportageband „Berliner Mietshaus“ aus dem Jahr 1980. Vor 36 Jahren verwickelte Irina Liebmann die Bewohner desselben Mietshauses im damaligen Ost-Berliner Arbeiter- und Dissidenten-Bezirk Prenzlauer Berg in Gespräche an der Haustür oder in der Küche mitten im „Bratkartoffelgeruch des Alltags“.

Die Stärke dieses Abends ist es, dass er präzise Momentaufnahmen aus dem Prenzlauer Berg liefert, über den so viele Klischees von Latte Macchiatto-Müttern bis Bioladen-Bionade-Schwaben kursieren. Gabriele Heinz und Barbara Schnitzler, zwei große Damen des DT-Ensembles, wechseln sich mit Olivia Gräser und Jonas Vietzke ab, die Hausbewohner zu verkörpern: den alleinerziehenden Architekten Peter, der sich mit Minijobs über Wasser hält. Die in der DDR aufgewachsene Pharmaassistentin Katja, die sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangelt, es aber in der geerbten Eigentumswohnung in Lichterfelde nicht aushielt. Die gerade aus Hamburg zugezogene Startup-Kreativagentur-Beraterin Steffi, die Berlin so supercool findet, aber bisher keine sozialen Kontakte aufbauen konnte. Der Punksänger Mark, der von der Kreuzberger Hausbesetzer-Szene geprägt ist und sich mit seiner Partnerin, einer Schauspielerin, die als Sekretärin jobbt, und zwei im Hintergrund zankenden Kindern mehr schlecht als recht über Wasser hält. (...)

Erst ganz am Ende landet der Abend bei Prototypen, wie sie durch Prenzlauer Berg-Klischees geistern: bei der schwäbischen Architektin Cordula und ihrem Mann, die eine Sechs-Zimmer-Wohnung großzügig umgestaltet haben. Neben ihren repräsentativen Coffee Table Books und ihren klavierspielenden Kindern liegt ihr vor allem eine Bürgerinitiative am Herz, mit der sie sich bislang vergeblich für eine verkehrsberuhigte Straße einsetzt.

Diese Porträts aus dem Prenzlauer Berg von heute werden von Livemusik (Ingo Schröder) untermalt und in der Regie von Brit Bartkowiak mit nachgespielten Szenen aus dem Jahr 1980 gespiegelt. Auf der Video-Leinwand erleben wir beispielsweise Vietzke und Gräser, wie sie ein junges Paar Anfang 20 spielen, das voller Stolz auf die eigene Wohnung die Parolen des Arbeiter- und Bauern-Staates nachbetet, aber schon bei ersten zaghaften Nachfragen der Interviewerin rat- und sprachlos wird.

Als Faktotum geistert außerdem ein Kammerjäger über die Bühne: Michael Gerber schildert, wie sehr sich der Prenzlauer Berg in den Jahrzehnten gewandelt hat und belegt dies ganz praktisch an den unterschiedlichen Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung. Bei einem seiner letzten Auftritte lüftet er auch das Geheimnis, was es mit dem Titel auf sich hat: der „Wodka-Käfer“ ist eines seiner Lieblingsinsekten.

Nach manchen Enttäuschungen in dieser Spielzeit ist mit „Wodka-Käfer“ in der Box des Deutschen Theater ein kleiner, feiner Abend gelungen. Er unterhält mit seinen zu amüsanten Szenen verdichteten Wohnzimmer-Interviews und zeichnet ein angenehm differenziertes Bild des Bezirks, über den sich in einigen Köpfen vorschnelle Urteile verfestigt haben.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/27228-wodka-kaefer-momentaufnahmen-vom-prenzlauer-berg-in-der-box-des-deutschen-theaters.html
Leserkritiken: Die Mutter, Schaubühne Berlin
Herzerfrischend die Produktion mit der Schauspielschule Ernst-Busch Berlin an der Schaubühne: "Die Mutter" von Bert Brecht nach Maxim Gorki. Die darstellerischen Mittel waren klug, lebendig, originell und besonders dem Inhalt verpflichtet, was man anderen Inszenierungen nicht häufig antrifft.
Nun wissen wir ja heute was den Kommunismus betreffend aus den Hoffnungen eines Gorki und den Handlungsanleitungen Brechts geworden ist. Trotzdem, obwohl es von der Zeit überrollt ist; das Subjekt von dem die Rede ist, existiert hier nicht mehr, aber da diese Gesellschaftsform, sprich Kapitalismus, auch nicht der letzte Schluss der Weisheit zu sein scheint, gibt es eine Sehnsucht, eine Utopie einer besseren Gesellschaft. Genau diese bringt diese Inszenierung auf die Bühne. Bravourös Ursula Werner, auch die anderen DarstellerInnen zeigen, ganz im Brechtschen Sinne, dass sie an der Arbeit an diesem Stück gelernt haben. Wir, ich spreche jetzt für meine Generation, haben die legendäre Aufführung der "Mutter" Anfang der 70iger in der Schaubühne am Halleschen Ufer in Westberlin gesehen, u.a. mit Bruno Ganz, Otto Sander, Jutta Lampe, Edith Clever und der großen Therese Giese, mit heißen Herzen, quasi als Handlungsanleitung für die herbeizuführende Revolution. Oh, waren wir naiv bis auf die Knochen. Aber es war eben eine Inszenierung, bei der an ganz anderen Stellen gelacht oder applaudiert wurde...
Leserkritiken: Die Mutter, Schaubühne Berlin
Ich stimme Guenter Schmidt zu und finde die Inszenierung gelungen.

(...)

Das Ensemble (Elvis Clausen, Daniel Klausner, Benjamin Kühni, Thimo Meitner, Celina Rongen, Rosa Thormeyer, Felix Witzlau) zaubert einen erfrischenden Abend auf die Bühne, der nah an Brechts Vorlage bleibt, ihn aber sehr amüsant und kritisch darauf abklopft, was uns dieses Agitationsdrama für eine kommunistische Weltrevolution aus der Endphase der Weimarer Republik heute noch zu sagen hat.

Der Abend beginnt und endet mit Videoeinspielern aus den Proben: die Twentysomethings lesen aus der Taschenbuchausgabe bekannte Zitate wie „Das Sichere ist nicht sicher“ oder „Was ist der Ausweg“, schauen mit großen Augen fragend in die Kamera und grübeln, was ihnen die Zeilen für ihren Alltag sagen. Diese Idee mag nicht neu sein, wurde hier aber gut umgesetzt.

Noch besser sind allerdings die etwas mehr als zwei Stunden, die dazwischen liegen: der Truppe gelingt das Kunststück, die richtige Balance zwischen ironischer Brechung und dem Ernstnehmen der Vorlage zu wahren. Einerseits spielen sie Brechts Fabel von der Proletarierin Pelagea Wlassowa, die sich Schritt für Schritt von einer unpolitischen Frau zur überzeugten Revolutionärin wandelt, in all seinen Stationen recht detailgetreu nach. Andererseits wird die Handlung durch Auftritte wie den Rap von MC V-Effekt oder ähnliche, mit Szenenapplaus bedachte Einlagen auf amüsante und intelligente Art gebrochen. Felix Witzlau rauscht als personifizierter Kapitalismus im Glitzer-Kostüm herein und feuert einige böse Bemerkungen über das wohlsituierte Theater-Publikum, das in kapitalismus- und globalisierungskritische Aufführungen strömt, und über die Flüchtlinge als Humankapital ab. Anspielungen auf die Kreuzberger Krawall-Folklore zum 1. Mai, die russischen Femen-Aktivistinnen oder die Merkel-Raute wechseln sich mit weiteren Solo-Nummern wie von Elvis Clausen ab, der sich beklagt, dass er statt Brechts Agitationsdrama viel lieber einen Klassiker von Kleist spielen würde.

Nach den ironischen Experimenten ist es meist die Aufgabe von Ursula Werner als „Mutter der Kompanie“, ihre jungen Kolleginnen und Kollegen wieder einzufangen. Nach mehreren Jahrzehnten im Gorki-Ensemble arbeitet sie nun an verschiedenen Theatern (besonders oft mit Armin Petras, der als Intendant vom Gorki nach Stuttgart wechselte) oder mit dem Regisseur Andreas Dresen fürs Kino. Das „Theater-Schlachtross“ Ursula Werner, wie sie an einer Stelle despektierlich bezeichnet wird, ist mit ihrer Erfahrung und Ausstrahlung in der Titelrolle der ruhende Pol des Abends und bietet im Zusammenspiel mit den talentierten HfS-Schülerinnen und Schülern ein Theatervergnügen.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/27406-politisches-theater-brechts-mutter-mit-ursula-werner-und-ernst-busch-nachwuchs-ursina-lardi-als-zynische-ngo-frau-in-milo-raus-polemischem-theater-essay-mitleid-und-kleiner-mann-was-nun.html
Leserkritiken: 5. Sinfoniekonzert der Staatskapelle Halle,
Mit Venzago in´s neue Konzertjahr

Wohlgestimmt und gutgelaunt präsentierte sich die Staatskapelle Halle zum Beginn der 2.Hälfte der Sinfoniekonzertsaison 2015/2016. Ihr 5. Sinfoniekonzert in der Georg-Friedrich-Händel-Halle begann das Orchester mit 2 hier kaum bekannten Auftragswerken. Das Divertimento for Orchestra, hatte des Boston Symphony Orchestra bei Leonard Bernstein bestellt. Das Concerto for Piano and Chamber Orchestra »From Noon to Starry Night” hatten Mario Venzago und das Indianapolis Symphony Orchestra bei Claude Baker in Auftrag gegeben. Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 97 rundete den ersten Konzertabend im neuen Jahr ab.

Am Pult stand Mario Venzago. Mario Venzago ist Chefdirigent des Berner Sinfonieorchesters. Bei vielen namhaften Orchestern war er bereits Gastdirigent. Klaviersolistin war Claire Huangci. Claire Huangci ist eine junge amerikanische Pianistin chinesischer Abstammung, die sich mit exzellenten Chopin–Interpretationen bereits einen Namen gemacht hat.
Entspannt und locker begann der Konzertabend mit dem Divertimento for Orchestra . Divertimento baut auf den Noten B für Boston und C für Centennial (Jahrhundertfeier) auf und erinnert an allerlei Einflüsse. Mit großem Spaß an der Vielfalt der Themen, dem musikalischen Kaleidoskop engagierte sich schwungvoll die Staatskapelle.

Es schloss sich das halbstündige Concerto for Piano and Chamber Orchestra an. Es beruht auf Gedichten von Walt Whitman (US-amerikanischer Dichter 1819-1892; Mitbegründer der modernen amerikanischen Dichtung). In einer amerikanischen Konzertbeschreibung heißt es: "To fully grasp the ties that bind Baker and Whitman, one must know more about the poems and their content than most concert-goers are likely to come equipped with.” Wie wahr! Von diesem Manko lenkte die zarte Pianistin Claire Huangci mit ihrem kraftvollen Spiel, ihrer glitzernden Virtuosität, Souveränität sowie exzellenter technischer Brillanz verbunden mit feinsinniger musikalischer Ausdrucksstärke ab. Das Musikstück wuchs zu einer Performance mit stilistischer Vielfalt. Claire Huangci zauberte, erspürte, was der Komponist ausdrücken wollte. Das Hallenser Publikum verstand das, reagierte mit Begeisterung. Mit 2 Zugaben zeigte die wundervolle Pianistin, wie hervorragend sie das klassische Repertoire beherrscht und mit unglaublicher Leidenschaft spielt. Ihre große Wandlungsfähigkeit und ihr ungewöhnlich breites Repertoire, welches auch immer wieder zeitgenössische Werke umfasst, beweist sie bei der Arbeit mit internationalen Orchestern.

Nach der Pause kam eines der großen Werke der Romantik, die „Rheinische“ Sinfonie von Schumann, Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 97, zur Aufführung. Wer einige Jahre im Sendegebiet der Westdeutschen Rundfunks gelebt hat, dem dürfte die „Rheinische“ von Schumann sich förmlich in´s Gedächtnis gebrannt haben. Nicht zufällig wählte nämlich der WDR den Beginn der Rheinischen Sinfonie zur Titelmusik seiner bekannten Sendung "Hier und Heute", die nun seit Jahrzehnten läuft und Schumanns Dritte zu einer inoffiziellen Hymne des Rheinlandes gemacht hat.

Erhaben erklang der 1.Satz. Über etwas mehr Unbeschwertheit und Brillanz in der Darbietung hätte sich Schumann wahrscheinlich gefreut. Im 2. und 3.Satz werden volkstümliche Elemente erkennbar, allerdings auf vielfältige Weise kunstvoll eingearbeitet. Gemütlich, beschaulich geht es zu bis der 3.Satz immer ruhiger werdend in Stille ausklingt. Der 4.Satz strebt nicht unmittelbar flott dem Finale zu, sondern bekommt zunächst etwas Feierliches, Verklärtes. Aber dann dominiert mit eingängigen Melodien mitreißender Schwung. Grandios spielt das Orchester das Finale. Gefühlvoll hat Schumann hier wohl den rheinischen Charakter erfasst, das Orchester inzwischen auch. Langer Beifall belohnte die stimmungsvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit von Orchester und Dirigent.

Vollständiger Text hier:
https://meinfigaro.de/inhalte/1f40d505bca55c65
Leserkritiken: Geächtet, Kudamm Berlin
Ayad Akhtar: Geächtet, Theater am Kurfürstendamm, Berlin (Regie: Ivan Vrgoč)

Ivan Vrgočs Coup, die Berliner Aufführungsrechte den großen städtischen Bühnen weggeschnappt zu haben, hat sich längst in einen Albtraum verwandelt: Kurz vor der Premiere trennte er sich von Regisseur Arash T. Riahi und “Star” Cosma Shiva Hagen, ersetzte letztere durch Katja Sallay und ersteren durch sich selbst. Der Vorverkauf lief schleppend, selbst die Premiere war alles andere als voll. Und leider sieht man der Inszenierung das Chaos in ihrem Vorfeld durchaus an. Da wirkt vieles unfertig – dass das Spiel so hölzern sein soll, wie es ist, möchte der geneigte Kritiker nicht glauben. Das Hauptproblem des Abends ist, dass er das Stück zu ernst nimmt. Oder eben auch nicht: Davon, das dies eine Komödie sein soll, ist nichts zu spüren. Die kleinen Pointen und Spitzen, die sich mal aus der Heuchelei der den einzelnen Egos im weg stehenden Paarbeziehungen, mal aus der Religionskritik, mal aus der Naivität Emilys oder der Arroganz Isaacs ergeben, verpuffen wirkungslos. Viel zu ernsthaft, ja verbissen, werden die oft parolenhaft wirkenden Sentenzen herausgepresst, mit einer Überdeutlichkeit, die jeden Zwischenton unmöglich macht. Natürlich ist man als (vermeintlicher) Muslim benachteiligt, grassieren Rassismus und Vorurteile unter liberalen Intellektuellen und liegt die größte Gefahr in der Identätsverleugnung des Einzelnen. Fragen wie etwa die, ob Amir mit seiner “wahren” Identität weiter gekommen wäre, oder auch warum eine abgelehnte Religion eigentlich zentral für die Selbstdefinition eines Menschen sein sollte, stellt weder der Text noch die Inszenierung.

Und so wird knapp zwei Stunden lang doziert und belehrt, werden klischeetriefende Geschichten erzählt (die Figur des Neffen, der seinen muslimischen Namen ablehnt und ob der Feindseligkeit der Gesellschaft sich dem Islamismus annähert, ist in ihrer Schlichtheit schier unerträglich), darf Amir Sätze sagen wie “Wir sind die neuen Juden” und sich mit dem N-Wort bezeichnen, während die, die diese Begriffe eigentlich treffen, schablonenhaft die ablehnende Gesellschaft bilden. Dass sich der Rassismus, von dem hier gesprochen wird, auch und gerade gegen sie richtet, blendet nicht nur Amir aus, sondern auch das Stück. Und dass der “muslimische” Mann am Ende sein Klischee erfüllt und die eigene Frau schlägt, lässt sich leicht lesen als Ergebnis seiner Erziehung, seiner “Kultur”. Ayad Akhtar hat einen Holzschnitt produziert, den Vrgoč mit dem Holzhammer und vollkommen ironiefrei auf die Bretter des Theaters am Kurfürstendamm zimmert. Da bleibt eigentlich nur das schöne Bühnenbild: Ein drehbares Dreieck in unschuldigem Weiß, schräg zulaufend auf eine erhobene Spitze bildet die Spielfläche – volatil und mit der Klippe, von der Amir stürzen wird, von beginn an sichtbar. Darauf ein Glastisch und Plexiglasstühle, symbolisch für die Durchleuchtung, den Dauerverdacht, dem sich Amir ausgesetzt sieht. Vor der Schlussszene werden sie Stück für Stück weggeräumt, während Amir (Mehdi Moinzadeh) an ihnen festzuhalten versucht. Ein stiller, wirklich schmerzhafter Moment, viel stärker als das hölzerne Geschwafel des restlichen Abends.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/01/29/unter-dozenten/
Leserkritik: Evros Walk Water, Rimini Protokoll
Rimini Protokoll (Daniel Wetzel): Evros Walk Water

Am Spannendsten ist die Umkehrung der Machtverhältnisse: Plötzlich ist es nicht der zentraleuropäische Zuschauer, der seine Deutungshoheit durchsetzt, sondern die, welche wir viel zu oft zu Objekten unserer Hilfe, Solidarität und so weiter degradieren, haben die Kontrolle. Sie sagen uns, was zu tun ist, und wir tun es. Es sind ihre Gegenstände, ihr Schlauchboot, ihr orientalische Saiteninstrument, ihre Küchenutensilien, mit denen wir spielen. Sie entscheiden, worüber sie sprechen wollen, und wir haben zuzuhören. Und wenn sie minutenlang über Haargel und -lack schwadronieren und sich die eine oder andere nicht ganz politisch korrekte Beleidigung an den Kopf werfen wollen, dann haben wir das zu ertragen. Das Cage-Stück gerät dabei in den Hintergrund, es ist Mittel zum Zweck. Die Idee des Perspektivwechsels – mal ist der Zuschauer mittendrin und spielt mit, mal außen vor und sieht zu – verpufft, weil man mit dem Zuhören und dem Befolgen der Anweisungen viel zu beschäftigt ist und man das “Konzert” nur gedämpft wahrnimmt, aufgrund der Kopfhörer.

Auch die ganze Bühnensituation, der Kunstrasen, der die Kontinente andeutet, die Gerätekollektion mit Ketten und Spielzeuggewehren und Bierflaschen (!) und Keyboard und Tonbandgerät mit dem Schlauchboot im Zentrum – es geht ja schließlich um Flucht – sind kaum erheblich. Vielen von dem, was Wetzel sich erdacht hat, im Zusammenspiel von Cage und Geflüchteten und Bildungsbürgern, von Kunst und Wirklichkeit, bleibt wirkungslos und lenkt nur ab vom Wesentlichen: Wie blicken wir auf jene, die zu uns kommen? Was sehen wir in ihnen, wie höre wir ihnen zu? Geben wir ihnen eine Chance, uns auf Augenhöhe zu begegnen oder geht es doch nur um Kontrolle und Dominanz? Viel Zeit, sich diese Fragen zu stellen, bleibt nicht, zu überfüllt und hektisch sind die sechzig Minuten. Wo Situation Rooms es schaffte, gerade aus der Überforderung des Zuschauers/Teilnehmers Perspektivwechsel zu kreieren, bleibt hier wenig mehr als das mechanische Abarbeiten der Kommandos. Das rächt sich ganz am Ende: Da werden wir aufgefordert, das Stück nach unserem Gusto zu spielen und unserer Fantasie freien Lauf zu lassen. Wir scheitern kläglich. Die spielerische Offenheit, dem Leben entgegen zu treten, welche die Jugendlichen auszeichnet, fehlt uns. Eine Erkenntnis, die wir ernst nehmen sollten.
Leserkritiken: "Geächtet" im Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Geächtet im Deutschen Schauspielhaus Hamburg

"Disgraced" ist eines der besten – wenn nicht gar das beste Theaterstück, das ich jemals gelesen habe – im englischen Original, vor mehr als einem Jahr. Die deutsche Übersetzung ist ein Witz, angefangen mit dem Titel "Geächtet". Auch wenn das Wort tatsächlich kurz vor Ende einmal benutzt wird, rechtfertigt es aus meiner Sicht nicht, den Originaltitel zu ignorieren! Das ist einfach nur schlechtes Handwerk... "Geschändet", "Blamiert" – selbst "Schande" oder "Ungnade" wären mögliche, gute deutsche Titel gewesen. Dem deutschen Text ist durchweg anzumerken, dass die Übersetzerin die Geschichte nicht verstanden hat!

Weder die Stimmung noch das Gefühl des Originals werden in der Übersetzung noch in der Hamburger Inszenierung getroffen, vom ironisch-hochbrisanten und auch immer mal wieder witzigen Inhalt ganz zu schweigen. Dass es Regisseur Klaus Schumacher und dem Team im Schauspielhaus Hamburg trotzdem gelungen ist, soviel aus der deutschsprachigen Vorlage herauszuholen, ist beachtenswert!
Nur selten verfallen die Charaktere auf der Bühne in das in diesem Lande deutlich überstrapazierte, gedehnte Gelalle, wenn es darum geht, einen Standpunkt lautstark zu vertreten. Die Momente, in denen das passiert, sind aber unerträglich!

Erstaunlich, wie viele wichtige Punkte aus dem Originaltext erhalten geblieben – und trotz allem wiederzuerkennen sind. Beim puren Lesen der deutschen Übersetzung habe ich sie alle vermisst! Diese Momente fallen aber immer wieder aus dem restlichen Text und Rahmen heraus, da helfen auch die Eingangsprojektion, aus der das Publikum (falls es sich nicht vorab informiert hat) erfährt, dass die Inszenierung tatsächlich in New York City spielen soll und das wiederholte erwähnen, dass man sich in New York befindet nicht! New York kommt nicht rüber! Das ist aber ein wichtiger Punkt für das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen und doch speziellen Menschen in dieser Konstellation und Thematik.

Aber es reicht, um zu verstehen, wieso sich die sphärischen und vermutlich meist im Alltag nur unterdrückten Spannungen zwischen Pakistanern (bzw. Indern), Juden, Afroamerikanern und "nur ganz normal weißen" Amerikanern (und –innen) so aufheizen und immer wieder entzünden – die erwähnten Parallelen zwischen der Entstehung des Korans uns des Buches der Mormonen mit inbegriffen. Einer von vielen Höhepunkten, nicht nur im Originaltext.

Diese Inszenierung braucht ein intelligentes Großstadtpublikum, um in Deutschland angenommen – und verstanden zu werden. Das Hamburger Schauspielhaus ist also ein idealer Ort dafür. Trotzdem bezweifle ich, dass alle Zuschauer im nahezu ausverkauften Saal wirklich verstanden haben, worum es wirklich geht.

Irritierend waren die Stellen, an denen einige wenige Zuschauer im Saal unbeholfen gelacht haben – ebenso wie die ironisch-komischen Momente, an denen niemand gelacht hat (…und ich im Wissen um den Originaltext höflich leise vor mich hin geschmunzelt habe). Wo gelacht wurde, wirkte es so, als wenn einige wenige das dringende Bedürfnis dazu hatten, und nach einer passenden Gelegenheit gesucht haben.

Die Schauspieler waren gut – und doch war es nicht die Idealbesetzung für diese Rollen, da man allenfalls der ("nur ganz normal weißen") Amerikanerin und dem Juden ihre Rollen abgenommen hat. Der Pakistaner und die Afroamerikanerin waren beide zu "deutsch", vor allem von der Sprachhaltung her – aber auch von der Körpersprache und vom Verhalten her. Auch beim Neffen Hussein (Abe) hat das Kostüm alleine nicht ausgereicht, um richtig in die Rolle zu passen. Schade.

Fazit: wer die Chance hat, das Original zu sehen und sprachlich zu verstehen, sollte es um jeden Preis wahrnehmen. Für alle anderen ist die Inszenierung in Hamburg ein souveräner zweiter Platz.
Leserkritiken: Evros Walk Water von Rimini Protokoll
"Evros Walk Water", Rimini Protokoll-Gastspiel, DT Berlin/Box

Spannende Zeiten: Die ZEIT lässt ihren Theater-Fachmann Peter Kümmel die Berliner GroKo analysieren. Kanzlerin Merkel erinnert ihn an Figuren von Robert Wilson. Horst Seehofer setzt in TV-Interviews das alte Stilmittel des „Beiseitesprechens“ ein und würde damit perfekt in eine Commedia dell´Arte passen, erinnert aber auch an Frank Underwood in „House of Cards“. Und auf den Bühnen jagt derzeit ein politischer Stoff den nächsten.

Das politische Theater steht vor einer zentralen Herausforderung: Wie lassen sich die recherchierten Fakten und Querverbindungen in ein dramaturgisch schlüssiges Konzept gießen? Wie gelingt es, den Stoff für das Publikum so aufzubereiten, dass es sich nicht vom moralisch erhobenen Zeigefinger abwendet und nur die kleine Gemeinde der ohnehin Überzeugten übrig bleibt? (...)

Das Regie-Kollektiv Rimini Protokoll zählt zu den Pionieren des Recherchetheaters und hat oft genug bewiesen, dass sie es verstehen, interessante Zusammenhänge überraschend aufzubereiten und unterhaltsam zu präsentieren.

Für „Evros Walk Water“ reiste Daniel Wetzel nach Athen und unterhielt sich mit 15 Jungen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien und dem Irak über ihre Flucht. Sie haben alle gemeinsam, dass sie über den griechisch-türkischen Grenzfluss Evros übersetzten.

Die kurzen Interviews erzählen von der Not des Bürgerkriegs, der Flucht vor dem Teufelskreis einer Vendetta und dem Traum der Jugendlichen von einem Leben in Sicherheit, Freiheit und mit Musik. Das Publikum hört diese Schilderungen über Kopfhörer an knapp zwanzig verschiedenen Audio-Stationen, die deutsche Übersetzung sprechen junge Liechtensteiner, da der Abend dort zum ersten Mal aufgeführt wurde.

Leider werden diese Refugee-Biografien fast völlig von einer an Kindergeburtstage erinnernden Rahmenhandlung überlagert: das Publikum spielt zwischen den Höreindrücken auf Anweisung der jungen Flüchtlinge das auf drei Minuten gekürzte Stück „Water Walk“ von John Cage (1960) insgesamt sechs Mal nach. Dieses Mitmachtheater mit Planschbecken, Gießkanne und Gummiboot nimmt zu viel Raum in diesem einstündigen Abend ein und drängt das zentrale Thema, die Flucht-Schicksale, so sehr an den Rand, dass das Publikum bei diesem Rimini Protokoll-Gastspiel in der Box des Deutschen Theaters kaum neue Erkenntnisse zu den hochaktuellen Problemen an der EU-Außengrenze mitnimmt.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/27562-politisches-theater-suepermaenner-sprechen-ueber-ihre-biografien-rimini-protokoll-mixt-flucht-schicklsale-mit-john-cage-hans-werner-kroesinger-auf-spurensuche-graecomania-200-years-die.html
Leserkritiken: Conversion – Nach Afghanistan, von Costa Compagnie, Berlin
„Conversion – Nach Afghanistan“ von Costa Compagnie
Gastspiel am Ballhaus Ost am 30.01.2016

Vom 28. bis 31.01. fand in Berlin die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft zum Thema „Was tun. Politisches Handeln jetzt“ statt. Es wurde viel diskutiert über die Möglichkeiten von Theater in Zeiten politischer Umbrüche, mit spannenden und langweiligen Beiträge und natürlich sehr viel Netzwerkelei. Kaum zuhause angekommen, schluckte einen der Betrieb und natürlich die Diskussion um die Auswahl für das Theatertreffen...
Dabei fiel hinten runter, dass unter all den gelisteten Vorschlägen für Theaterbesuche auch eine Produktion war, die eben jener Frage nach Kunst, Politik und Handeln tiefgründig, mutig und gleichzeitig erfrischend offen am allerkonkretesten nachging, wie es vorher so noch nicht gesehen wurde: „Conversion – Nach Afghanistan“ am völlig überfüllten Ballhaus Ost von der freien Gruppe Costa Compagnie. Ein gut gehütetes Geheimnis und als Nachwuchsgruppe scheinbar noch unter dem Radar der Theaterscouts, wenn auch prominent ausgestattet über den Fonds Doppelpass.
Als Grundlage für diese multiperspektivische Kunstanalyse aus dem Kriegsgebiet mit Text, Tanz, Video, Musik und einer Luft-Installation recherchierten Mitglieder der Gruppe in Afghanistan und interviewten zahlreiche Bewohner der Städte Kabul und Masar Scharif, sowie Soldaten der Bundeswehr und der US-Army in ihren Feldlagern, der brisanten Sicherheitslage zum Trotz. Ein willkommener Vorstoß auf dem Theater, denn oft findet keine Diskussion darüber statt, dass die Deutschland jahrelang im Krieg in Afghanistan beteiligt war und nun nach dem Ende der Mission nicht nur die Soldaten zurück kommen, sondern vor allem auch diejenigen, für welche die Intervention eigentlich ein besseres Zuhause schaffen sollte. Was ist also geschehen und wie sehen das die Afghanen selbst?
Jetzt alles zu berichten, was die costa compagnie an diesem gewaltigen, facettenreichen und bewegenden Abend innerhalb der zwei Stunden leistet ist bei 4000 Zeichen unmöglich. Im Schnelldurchlauf:
Zunächst eine leere Bühne, im Video die Berge Afghanistans, vier Tänzer in energetischen Bewegungen, andere Spieler erscheinen, deutsche und englische Texten der Befragten (Berlin typisch nicht untertitelt), musikalisch alles von Musikerin Katharina Kellermann elektronisch live begleitet, Klang-Atmosphären, Beats, Stimmen, Flugzeugmotoren und Flächen. Man verbringt gebannt die erste Stunde mit Biographien, Frauenrechten, Anschlägen, Entwicklungszusammenarbeit und natürlich den Taliban. Das pointierte Arrangement der Texte schafft es, dass die Themen nebeneinander, als auch zum Streitgespräch gegenüber gestellt werden, so dass man in ein Horizont erweiterndes Meinungsbild eintauchen kann.
Repräsentation wird hier medial an das Video ausgelagert, indem zu den präsentierten Texten riesengroße, schweigend blickende Portraits der Befragten eingeblendet werden (zum Teil auch im Originalton als Teil der Bühnentextsituation). Ein subversives Narrativ einer Begegnung, wie sie nur auf dem Theater stattfinden kann, das auf die im Text gestellten, aktuell brennenden Fragen verweist: Was hat die Intervention im Land (nicht) bewirkt? In welchen Krieg erklärt sich eine westliche Gesellschaft bereit (wieder) zu ziehen? Für wen und für was? Dazwischen intensive Abschnitte im Tanz mit verdrehten und ruckartigen Körpern, ausufernden Bewegungen, Solo- und Gruppenchoreografien, aus denen sich die Tänzer mühelos lösen, um den nächste Befragten vorzustellen (Choreografie Jascha Viehstädt).
Im Video Landschaften, Gebäude, Panzer, Hubschrauber. Begriffe wie Realität, Dokumentation, Wahrheit und Moral werden in einem fortlaufenden Essay-Monolog von Hauke Heumann offen verbalisiert und in Frage gestellt (Text: künstl. Leiter Felix Meyer-Christian). Dann wachsen riesige, weiße Plastikschläuche zu einem dreidimensionalem Chaos, das bis über die Zuschauer hinaus ragt auf der Bühne (Annika Marquardt, Lani Tran Duc) und später entfaltet sich im Hintergrund wie ein überdimensionaler Hefeteig eine große Stoffblase/Zelt der maximal wächst und der Fokus verlegt sich auf die Interviews im Militärlager. Im zweiten Teil brechen die Ebenen dann virtuos durcheinander. :Ein komisch-groteskes Interview in einer Bäckerei, Slow-Motion-Traum-Sequenz, ein zunächst unverständlicher afghanischer Witz mit latent grenzdebilem Übersetzungsverlust, Pocahontas-Sexy-Musical-Einlage, der Konflikt zwischen Besatzung und Aufbau, Kultur, Religion und „Terror“.
Am Ende entweicht die Luft und es bleibt nichts außer einem Stoffrest und einem Wimmelbild mit den sprechenden Köpfen dutzender Befragter, in dem unter anderen ein Afghane die Demokratie als solche in Frage stellt oder ein Ex-Soldat die Militärintervention zunächst schärfstens kritisiert („Können die da oben wirklich gut schlafen?“), um dann im nächsten Augenblick zu sagen, dass sich diese dennoch nicht in Frage stellen lässt, woraufhin er trefflich mit dem Wort „Ambivalenz“ lachend endet.
Die Gruppe selbst bleibt dabei nicht neutral und verweist nach einer klaren Benennung der Problematiken im Land und der Widersprüche des Westens in ihrem Abschlusstext auf die Ungültigkeit einer kapitalistischen Kosten-Nutzen-Rechnung im Kriegsgebiet und fordert ganz utopisch „polyphone Prinzipien“ und eine Neuausrichtung des Denkens innerhalb der eigenen Bewertung, um parallel sehr real-politisch ein Ende der Gewalt einzufordern – „mit welchen Mitteln auch immer“. Wer etwas dringliches von der Welt erfahren will und mehr auf Art“ statt auf „Artivism“ setzt, muss diesen Abend gesehen haben.
Leserkritiken: Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, Staatstheater Nürnberg
Seit 2012 verfasst die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek "Textflächen" zu dem aktuellen Thema "Flüchtlinge". Nach der Uraufführung 2014 in Mannheim versucht sich nun das Nürnberger Staatstheater an einer mittlerweile fortgeschriebenen Fassung (diese ist nachzulesen auf Elfriede Jelineks Homepage - siehe Link unten). Das bedeutet viel Arbeit für Dramaturgie (Horst Busch) und Regie (Bettina Bruinier). Die beiden haben das umfängliche Textgerüst luftig perforiert, auf die gut verträgliche Dauer von 100 Minuten gekürzt und zu seinem intensiven szenischen Arrangement für sieben SchauspielerInnen komponiert. Dabei bleibt Jelineks Grundanliegen unverstellt: sie will mit ihren sprachlichen Jelineckereien die vieltönende Kackophonie der öffentlichen Stimmen zu diesem Thema provokant persiflieren und gleichsam als semidramatischen Po-Etry-Schlamm vor dem Publikum auswälzen. Durch das assoziationsreiche Sprachgewitter schimmern drei Haltungen der Autorin durch: Empathie für die Flüchtlinge, Zorn über die Regierenden und Meinungsmachenden sowie Ratlosigkeit angesichts eines existenziellen Jahrhundert-Phänomens. Wenn sich die wortspielreichen Satzkaskaden im Zuschauerraum niederschlagen, erlebt man eine Mischung aus dem fränkischen Comedy-Drechsler Oliver Tissot (NATO oder Nahtod-Erfahrung?), dem frühen Publikumsbeschimpfer Peter Handke und einem aufgehübschten Dada-Manifest zur 100-Jahre-Feier. Das verlangt viel Konzentration, bietet aber auch gehobene Aha-Effekte. Das versierte und textsichere Nürnberger Kollektiv (Bettina Langehein, Julia Bartolome, Mareile Blendl, Philipp Weigand, Daniel Scholz, Thomas Nummer, Frank Damerius) kämpft sich mit großer Verve durch die Wortwindungen, kann sowohl solistisch als auch choristisch überzeugen. Politische Provokation (das beliebte Ösi- und Ungarn-Bashing), satirisches Querdenken (eine atemlose Helene-Fischer-Parodie oder ein Gedankenspiel zur Zivilisation durch das Dixi-Klo) und Einbeziehung des Publikums sorgen für stete Abwechslung. Durch Musik und Video-Installationen, durch präzise Bildsprache (Rettungswesten, Wasserkanister) entsteht ein fesselndes Gesamtkunstwerk für Augen, Ohren und Verstand. Wenn sich nur die Menschen genauso bewegen ließen wie die Hebebühnen des Nürnberger Theaters!

PS: Das ist doch wieder einmal eine kesse Anmeldung aus der Provinz für das nächste Berliner Theatertreffen 2017!?

Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, Regie: Bettina Bruinier, Premiere: 20.2.2016 Staatstheater Nürnberg Schauspielhaus
Leserkritiken: Wanja und Sonja und Mascha und Spike, Parktheater Iserlohn
Wanja und Sonja und Mascha und Spike
im Parktheater Iserlohn am 4.3.2016

Als dieses Stück es aus der Provinz nach New York und dort dann auch noch an den Broadway geschafft hatte, blieb viel Lob hängen. Der erfolgreiche Theaterautor Christopher Durang hatte sich mit Tschechow auseinandergesetzt und wollte, dass die mit ihm befreundete und vor allem sehr bekannte Schauspielerin Sigourney Weaver eine der Hauptrollen spielt. Diese konnte oder wollte nicht 'nein' sagen. Was blieb der Kritik also anderes übrig, als zu jubeln?!

Der Text ist subtil und der Inhalt streift das Werk Tschechows oft und ausreichend. Die Rahmenhandlung ist irrelevant, aber für alle, die sich schon immer mal amüsant mit dem Werk Tschechows auseinandersetzen - und/oder Sigourney Weaver auf einer Theaterbühne sehen wollten: Ein Muss!

In der deutschen Übersetzung geht auch hier leider einmal mehr sehr viel verloren. Was bleibt wurde bereits vor einiger Zeit im Theater Baden-Baden auf die Bühne gebracht. Ein Erfolg wie in New York blieb aus. Nun hat es die Konzertdirektion Landgraf von Kay Neumann für eine Tournee inszenieren lassen. Premiere war im Parktheater Iserlohn und mehr als 30 andere deutsche Städte folgen - und Neumann gelingt es, mit einer Mischung aus bekannten Namen und überraschenden Schauspielerinnen und Schauspielern (Claudia Wenzel, Rüdiger Joswig, Alexandra Maria Timmel, Patrick G. Boll, Juliane Köhler und Annabelle Mandeng) dem Original gleich in mehrfacher Hinsicht mehr als gerecht zu werden: Trotz schlechter Übersetzung gibt es viele Tschechow-Augenblicke, die Zuschauer erleben Tschechow komprimiert und damit irgendwie umso intensiver, als würde man alle seine Werke nacheinander lesen - das sensationell auf den Punkt treffende Bühnenbild (Florian Angerer) zeigt, dass hier alle an der Inszenierung Beteiligten zusammen an einer Idee gearbeitet haben - und insgesamt gibt es ebenso viele Momente, in denen einem die triste Verweiflung im Halse stecken bleibt, wie solche, in denen man aus dem Lachen nicht wieder heraus kommt.

Diese Inszenierung ist eine Mischung aus Tschechow für Anfänger ebenso wie für Liebhaber – mit einem Hauch Trash und einem Touch Boulevard.

Am Ende bleibt ein Art "Happy End", und es ist egal, warum man sich diese Inszenierung anschauen will - weil man einen oder mehrere der SchauspielerInnen verehrt, weil man sich nichts entgehen lassen will, was mit Tschechow zu tun hat, weil man mal wieder ins Theater gehen will - oder weil man die Inszenierungen von Kay Neuman mag: Alle kommen auf ihre Kosten - und alle Anderen übrigens auch!
Leserkritiken: Das Feuerschiff, Deutsches Theater Berlin
Kaum Funkenflug auf dem „Feuerschiff“nach Siegfried Lenz im Deutschen Theater Berlin

An einigen Stellen blitzt das Potenzial der vier Schauspieler auf dem „Feuerschiff“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters auf.

Als sich Owen Peter Read (in der Doppelrolle als Eugen/Edgar) ganz in unschuldigem Weiß im Schlepptau von Hans Löw (Dr. Caspary) breitmacht, liegt eine Atmosphäre wie in „Funny Games“ in der Luft. Für kurze Momente treten die Eindringlinge so schnöselig auf wie bei Haneke, als sie ihre Opfer in die Enge treiben. Aber John von Düffels „skelettierte“ Fassung der Erzählung von Siegfried Lenz ist Thesentheater statt Psychothriller.

Auch bei der Konfrontation zwischen Fred (Timo Weisschnur) und seinem Vater, dem Kapitän Freytag (Ulrich Matthes), könnten die Funken fliegen. Die Textvorlage lässt ihnen aber zu wenig Raum zur Entfaltung. Ulrich Matthes muss die „Ordnung“ so oft beschwören, bis seine Figur zur Verkörperung eines Prinzips wird, aber nicht mehr wie ein Mensch aus Fleisch und Blut wirkt. Eine Energie, die diesem Abend gut tun würde, ist auch unter der Oberfläche spürbar, als Fred von den Gangstern provoziert wird. Sie darf sich aber nicht entladen.

Nach nur knapp einer Stunde endet der Abend ziemlich abrupt. Das Publikum bleibt mit dem Gefühl zurück, dass der Vater-Sohn-Konflikt über die Frage, ob zurückhaltendes Abwarten oder Gegengewalt die richtige Antwort auf einen Übergriff ist, nicht auserzählt ist. Auch zwischen Freytag (Matthes), dem bedingungslosen Verfechter von Ordnung und Status quo, und dem Desperado Dr. Caspary (Löw), der zwischen Raucherpausen seine von Sartres Existentialismus inspirierte Thesen vorträgt, entwickelte sich nicht das erhoffte packende Duell, in dem um Prinzipien gerungen wird.

Der Premierenabend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters endete zwar mit freundlichem Applaus für Regisseur Josua Rösing und seine Schauspieler, der Funke wollte aber nicht überspringen
Leserkritiken: Die Glasmenagerie, Komödie am Kurfürstendamm Berlin
Tennessee Williams: Die Glasmenagerie, Komödie am Kurfürstendamm, Berlin (Regie: Katharina Thalbach)

Leonard Scheichers Erzähler stellt diese Realitätsverweigerung in den Kontext: In Spanien ertrinkt gerade ein Land im Blut des Bürgerkriegs und bald schon wird die Jugend, die sich gerade noch gedankenverloren vergnügt, in den zerstörerischsten aller Kriege ziehen. Emanuel Hauptmann steuert treibende Jazzrhythmen bei, die das Geschehen akzentuieren und illustrieren und die Scheicher am Schluss abwürgt. Schluss mit der Illusion, Schluss mit der Verneinung der Realität, Schluss mit der Behauptung einer Welt, die längst weiß, dass sie in den Abgrund, an dem sie noch tanzt, stürzen wird. Diese Glasmenagerie schaut auf eine Welt, die sich umso störrischer selbst behauptet, je mehr sie um ihren Untergang weiß, die diesen noch beschleunigt, indem sie ihn mit infantilem Trotz ignoriert. Das ist St. Louis , es könnte aber auch Berlin sein, und vielleicht schreiben wir gar das Jahr 2016, in dem so mancher die Augen schließt vor dem, was vor seiner eigenen Tür vor sich geht. In Deutschland wie in Amerika. Wer will, kann sich auf dem Fluss der Zeit treiben lassen, bis ins Hier und Jetzt, kann in Amanda Wingfield nicht die verblühte Südstaaten-Belle sehen, sondern jemanden, der uns begegnen könnte, wenn wir aus dem Theater heraustreten.

Der Abend erlaubt es, Assoziationen zur Gegenwart herzustellen, aber er ermöglicht es dem Zuschauer genauso, sich in erster Linie unterhalten zu lassen. Und das tut er zur Genüge. Ohne Zweifel: Die Figurenzeichnung gerät zuweilen sehr holzschnittartig. Vor allem Nellie Thalbach als Tochter Laura ist in ihrer graumäusigen Piepsigkeit arg plakativ und auch Mutter Anna als Amanda kippt ein wenig zu oft ins Albern-Lächerliche. Doch natürlich ist sie auch in der Lage, die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ihrer Figur fühlbar zu machen. Das gelingt ihr weniger in den Ausbrüchen, in denen sie zetert und brüllt und keift, was ernst gemeint ist und doch oft farcenhaft platt wirkt. Besser wirkt Komik: In den Szenen, in denen sie am Telefon versucht, Zeitschriftenabonnements zu verkaufen, schwingt in all den lustigen Grimassen eine stille Verzweiflung mit, die eindringlicher ist als alles Schimpfen und Beleidigen. Da wird die herrische Amanda zur gepeinigten und verlorenen Seele, die Anna Thalbachs wiederholter Blick ins Leere als Kern dieser Figur bestätigt. Zwischen den Zeilen.

Das wirkliche Ereignis des Abends ist jedoch der 23-jährige Leonard Scheicher, der kurz vor seinem Abschluss an der Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch” steht. Er nagelt die Rastlosigkeit und Zerrissenheit seiner Figur mit einer Unnachgiebigkeit, einer so kompromisslosen Energie auf die Bühne, dass er ganz allein in der Lage ist, die Paralyse einer Welt, die dicht weiß, wo sie hin will, zu verkörpern. Er ist der treibende Schlagzeugrhythmus und die Gespensterhaftigkeit der Zeitkapsel in weißen Vorhängen, er ist das Nicht-mehr und das Vielleicht, das sich dem Hier und Jetzt verweigert. Die Glasmenagerie in der Regie Katharina Thalbachs zeichnet in fast musikalischem Rhythmus und im zwischen den Zeiten und Wirklichkeiten wandernden Zwielicht das Bild einer Welt, die sich auflöst, die sich selbst verliert, weil sie sich ihrer selbst nicht zu stellen vermag. Der Abend ist exzellente Unterhaltung, auch wenn – oder weil? – er bisweilen überzieht und chargiert und nicht immer seinen Ton hält. Aber er ist, wie gutes Theater, egal ob am “Boulevard” oder anderswo, eben auch mehr: ein Fenster (tatsächlich ein zentrales Element in der zweiten Stückhälfte) in eine Welt, in der wir, so wir denn wollen, so manches Bekannte wiederfinden können. Nein, irrelevant ist dieses Theater nicht.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/07/der-blick-aus-dem-fenster/
Leserkritik: Borgen an der Berliner Schaubühne
LeserKritik: Borgen - Schaubühne Berlin, Regie Nicolas Stemann

Diese kabarettistische Herangehensweise an „Borgen“ läuft Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten .

(...)

Die Serie malt nicht nur Schwarz-Weiß, sondern verhandelt in Grautönen das Aushandeln politischer Kompromisse bei Regierungsbildungen und im Tagesgeschäft. „Borgen“ lotet die Handlungsspielräume von Minderheitsregierungen aus, beleuchtet das schwierige Verhältnis gegenseitiger Instrumentalisierung von Politik und Boulevard-Medien und die Auswüchse von Spin-Doktoren und Lobbyismus. All das kommt an diesem langen Abend deutlich zu kurz. Stemann macht es sich mit seiner pauschalen Ablehnung der Serie zu einfach.

Mich hat an diesem Theaterprojekt vor allem ein Aspekt interessiert, den Stemann nur anreißt: wie im Rückspiegel erkennen wir in den Dialogen der 1. Staffel, die in Dänemark schon vor sechs Jahren ausgestrahlt wurde, ein erstaunliches Abbild unserer gegenwärtigen politischen Diskussion. Auf der einen Seite das Erstarken einer rechtspopulistischen Partei, die mit ihren Parolen die politische Mitte vor sich hertreibt . Sie fordern die Schließung der Grenzen, mehr Abschreckung und die Verschärfung des Asylrechts. Auf der anderen Seite eine Regierungschefin, die für Willkommenskultur eintritt. Stemann greift diese, wie er im Interview mit dem Freitag selbst sagte, „frappierenden“ Parallelen zwar auf, belässt es aber bei einigen eingestreuten „Wir schaffen das!“-Zitaten und einem Räsonieren über das ökonomische Kalkül hinter einer liberalen Einwanderungspolitik.

(...)

Es wäre interessant gewesen, diese Zusammenhänge noch stärker zu beleuchten, anstatt sich in einer kabarettistischen Nacherzählung des Serienstoffs zu verzetteln. Außer einer entzauberten Birgitte Nyborg bleibt wenig von diesem Schaubühnen-Abend.

Wenn die heilige Birgitte von Christiansborg mal wieder nervt, gibt es aber noch zwei andere bewährte Gegenmittel: Entweder man legt ein paar Folgen „House of Cards“ mit Kevin Spacey als diabolischem Strippenzieher ein. Diese Serie wird in einem kurzen Exkurs etwa zur Hälfte von Stemanns Inszenierung, als es um Guantánamo-Häftlinge und einen US-Staatsbesuch geht, auch kurz zitiert. Oder man sieht sich die Birgitte-Darstellerin Sidse Babett Knudsen in „Duke of Burgundy“ an, wo sie von Peter Strickland ganz entgegen den mit ihrer „Borgen“-Rolle verknüpften Erwartungen besetzt wurde.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/28122-die-entzauberung-der-birgitta-nyborg-nicolas-stemann-nimmt-die-polit-serie-borgen-auseinander.html
Leserkritiken: "Werther" von Stemann als Gastspiel im BE
Zeitreise in die 90er: „Werther!“-Solo von Philipp Hochmair

Die Schulklassen, die gestern scharenweise zum „Werther!“-Gastspiel ins Berliner Ensemble geschleppt wurden, sind bedauernswert. Welchen Eindruck nehmen sie vom Theater nach Hause?

Ein manieriert gesprochener Monolog mit dem Reclam-Heftchen, das sie schon aus dem Unterricht kennen, als Bühnen-Hintergrund; der zweite Teil verliert sich in postdramatischen Mätzchen der einfallslosesten Art.

Als Regisseur Nicolas Stemann den Abend mit dem Schauspieler Philipp Hochmair im Jahr 1997 erarbeitete, mögen die Live-Video-Experimente, die hier recht tapsig eingesetzt werden, gerade eine spannende Innovation gewesen sein. Aber die Altherren-Humor-Zoten wirkten bestimmt auch damals nur peinlich. Die vorderen Reihen mit Salatblättern zu bewerfen, ist kein besonders aufregender oder auch nur ansatzweise gelungener Einfall. Außerdem ist der Sitznachbarin zuzustimmen, die sich über den sehr stark in den Saal wabernden Gestank beschwerte, als Hochmair und Stemann vermutlich keine anderen Gags mehr einfielen und der Schauspieler eine ausführliche Zigarettenpause einlegte.

Der Abend ist zu keinem Zeitpunkt packend, die missglückte Zeitreise in die 90er ist zum Gruseln. Die flauen Witzchen über die Herren Beil, Brandauer und Peymann, denen Hochmair im Mittelteil für die Einladung nach Berlin dankt, gehören angesichts der Tiefpunkte des Abends schon zu den erträglicheren Momenten.

Das einzig Lohnenswerte an diesem Ausflug in die 90er ist, dass mal wieder „Perfect Day“ von Lou Reed aus „Trainspotting“ zu hören war.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/28157-zeitreise-in-die-90er-werther-solo-von-philipp-hochmair.html
Leserkritik "König Ödipus", München: Mad Men lässt grüßen
König Ödipus im Residenztheater München, 3. März 2016, Regie: Mateja Koležnik

Mad Men lässt grüßen. Aber eben auch nur das. Mal abgesehen davon, dass König Ödipus und seine Kompagnons keine Men of Madison Avenue waren, mad ist zumindest er geworden.
Auf einem sehr begrenzten Bühnenraum, auf dem das Schwarz nur einen schmalen, hellen Streifen ausspart, passiert es – die griechische Tragödie. Die Zuschauer sehen eine Fensterfront eines Büro- oder Regierungsgebäudes, allerdings nur eine Etage und nur einen kurzen Ausschnitt eines Ganges. Hinter dem Glas liegt ein grauer Teppich, der in eine graue Wand überläuft, die nur von zwei braunen Klapptüren unterbrochen wird. Das Holz der beiden und der silberne Stehascher mitten im Gang erzeugen schon den sechziger Jahre Charme. Über den Gang und durch die Türen laufen mehr oder wenig geschäftig Anzugträger in schnittigen Stoffteilen, manchmal auch ein uniformierter Servicemensch. Der säubert den Ascher, um den sich hin und wieder die Anzüge scharren. Das Fensterglas war zunächst gar nicht zu erkennen aus dem Rang, weshalb ich es direkt schade fand, dass Mikrofone benutzt wurden. Erst als Teiresias Ödipus sein Wissen verkündet und der Albtraum des Vatermordes und des Inzests ihn an die Scheibe wanken lässt, werden die Mikros erklärlich. Bis Ödipus und Iokaste Erkenntnis über ihr Tun erlangen, vergeht gar nicht mehr so viel Zeit.
Wie ein liberaler Fischschwarm bewegen sich in den Denkpausen der beiden die Anzüge, der Chor, über den Flur und in den Sitzungssaal hinein, in dem die Herrschenden in hallendem Klang an das Volk appellieren. Mal kommt einer noch schnell hinterher gehechtet, mal beratschlagen sie sich ruhend im Kreis um den Ascher. Als dunkle Ahnung und Ankündigung des Untergangs schreiten einige der Anzüge windschief und fallend an Ödipus vorbei und lassen verbrannte Fetzen zurück. Die Anzüge sitzen auf jeden Fall gut.
Iokaste tritt ganz Präsidentengattinnen like in züchtig biederem Kleid und Friseur auf. Sie hat die Situation im Griff, alles wird sich aufklären. Teiresias kann gar nicht recht haben, denn die Prophezeiung des Orakels konnte nicht eintreten, ihr Sohn wurde schließlich ausgesetzt und Laios von Räubern erschlagen. Ne, eben nicht.
Großartig das Ereignis, mit dem der Untergang der illegitimen Familie verkündet wird. Einer der Servicemenschen trägt eine Tüte mit Klorollen über den Gang; unerwarteter Weise zieht er Kreon die Tüte über den Hintern. Iokaste ist tot, hat sich erhängt. Ein Paukenschlag, der die Anzüge blass aussehen lässt. Der ganze Aufzug wird ins Lächerliche gezogen. Die Ruhe verlässt einige der Anzüge aber nicht, wenn der aus den Augen blutende Ödipus erscheint; er löst kein Mitgefühl aus. Der gerufene Kaffee für die Herren kommt auch schon. Sie lauschen, sie schauen zu und sind das Abbild des Publikums. Als Ödipus das Gebäude verlässt, schauen sie stellvertretend für das Publikum, das ihn nicht sehen kann, dem Gepeinigten hinterher. Voyeurismus ist es. Wir schauen den Voyeuren zu, wie sie dem Elend zuschauen. Das ist wie Fernsehen, wie das Nachmittagsprogramm. Das Glas zwischen denen und uns schützt uns vor der Erkenntnis, oder eben auch nicht.
Aufgebrochen wird diese vierte Glaswand nur am Ende, wenn die Schauspieler in ordentlich choreografierter Ordnung auf dem schmalsten Ende der Bühne den Applaus der Voyeure empfangen. So nah sind sie plötzlich, die Mad Men.
Leserkritiken: Die disparate Stadt, Hamburg
Leise tastend ganz laut. Ein Disparatum zur disparaten Stadt.

Impressionen zur Aufführung "Die disparate Stadt" im Malersaal Hamburg vom 5.3.2016

Schreiben oder Nicht-Schreiben und wenn ja, dann wie? Schreiben mit unsichtbarer Tinte, die sich nur vom Herzen dechiffrieren lässt. Ich bin als Kritikerin hier, Rezensentin wäre das glimpflichere Wort, ich mag es ehrlich, ich fühle mich unwohl. Ich fühle mich wohl, wenn ich schreibe, dass ich mich unwohl fühle als jemand, der sein Urteil in die eilig-gefräßige Mühle der Presse füttern wird. Erwartet von den Himmelhochjauchzenden und Zutodebetrübten in diesem mörderischen Karrussell des Wer-ist-zum-Theatertreffen-eingeladen. Wer greift am Härtesten durchs Gestrüpp der Texte in tödlich-flüchtigen Zeiten? Wer ist am lautesten? Doch um wen oder was geht es eigentlich?
Ich warte auf den Einlass mit den Menschen um mich herum, deren Blicke und Schritte ins Stolpern geraten, ein Sandkorn im Auge und auf dem Boden zwischen Tür und Angel. Wir sind verunsichert, könnten uns wehren, doch nicht eindeutig ist es, sie wollen es anders, selbst bestimmter Einlass in eine sich selbst bestimmen wollende Welt. Noch und weiter und trotzdem und gegen den Widerstand der Zeiten im Aufbrechen festgelegter Orte. Leise Stimmen zur Kinderleier. Es gehe los, er wisse nicht, ob es gelinge, das, was hier geschehen könne, sagt der Spielleiter in fast bittend-tastender Weise. Nicht der freche Entertainer, nicht der laute Schorsch Kamerun. Er wirkt unsicher, will verunsichert sein, will verunsichern. Die Unsicherheit, das Nichtwissen, wie es geht, teilen mit denen, die meinen es zu wissen, wir alle meinen es zu wissen. Und doch ist vielleicht das Nichtmehrwissenwieesgeht der Weg, den wir links liegen gelassen hatten im Angesicht der lockenden Macht. Links glimmen Wörter auf, werden angeschwärzt, verheißen nichts Gutes. Gänge, Treppen, Stimmen, eine Kamera läuft mit, ist wackelig auf den Beinen, sucht nach Halt, wo gibt es den noch. Eine Er mit uraltem Gesicht tanzt durchgehend Ballett zur Groteske. Rollschuhmädchen. Maskenläufer, nein sie tanzen nicht, winken Lavinia Schulz ins Grab. Dada hat die Nase voll, Expressionismus hat Ausdauer. Alle packen an, auch die von oben, knallhart, kein Unterschlupf übrig. Der Bulle ist wirklich verzweifelt, der Demagoge überzeugt schmierig – und sie reißt sich das Herz aus dem Leibe. Schließlich die Trutzburg mit Palmenexplosion in pudeligen Zeiten, obwohl wir doch alle heimatlos werden. Einsam. Ganz fröstelig. Wagner. Die Königin der Nacht leuchtet durch die erloschene Stadt. Rache blinkt. Offizium der Reklame. Dann geht es draußen weiter. Der unsichere Teil beginnt, da ist sich Schorsch sicher. Schon die Else schrieb Briefe an Den Malik.
Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Muss ich das wissen, will ich das wissen? Wer fängt womit was und was genau an und wozu überhaupt? Was fangen wir an? Ich möchte nur noch Herzen füttern. Ich weiß nicht, wie das geht. Nur ein kleines bisschen: Den Zeichen nachgehen, wo es leise wird und zart. Und unsicher.
Leserkritiken: Kommentar zu >Die disparate Stadt
Vorausgesetzt, Herzen könnten gefräßig sein und würden ohne Worte nicht auskommen können, wäre dieser Text von Jorinde Reznikoff geeignet, ihren Hunger zu stillen. Für einen Moment. Vielleicht.
Leserkritik: Borgen an der Schaubühne Berlin
Schöne einfache Welt
Borgen, nach der TV-Serie von Adam Price, entwickelt mit Jeppe Gjervig Gram und Tobias Lindholm, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Nicolas Stemann)

Alles ist gespielt, Kameras begleiten die Figuren ohne Unterlass über eine typische Stemann-Probenimitationsbühne, dominiert von einem Leseprobentisch, Teleprompter schreiben jeden Text vor. Jede Zeile, so sagt uns das, ist geskriptet, selbst das vermeintlich Private – beispielhaft die Intimitätsinszenierung mit dem Noch-Ehemann, der sofort der Scheidungswunsch folgt – ist bloßes Spiel. Wird es intim, spielt Musik, soll etwas vernebelt werden, wabert der, ja, Nebel. Alles korrupt hier, kein Idealismus nirgends. Pegida-ähnliche Wutbürger erscheinen und brüllen ihre Parolen, angestachelt vom Boulevard-Chefredakteur Laugesen. Die Medien als Populismus-Katalysator und Manipulatoren der “Volksseele”. Kein neues Vorurteil.. Politiker und Spin Doctors spinnen ihre Intrigen, Lobbyisten sowieso, Whistleblower enden im Selbstmord und das Private geht unter. Politikverdrossenheit und “Lügenpresse”: Es ist erschreckend, mit welcher Eindeutigkeit Stemann AfD- und Pegida-Vorurteile aufnimmt und unwidersprochen als Wahrheiten deklariert. Denn einen Gegenentwurf gibt es nicht, auch nicht im Privaten. Der zunehmend entfremdete Gatte (Rudolph) ist wenig mehr als ein weinerlicher Schlappschwanz, die altklugen Kinder (Zimmermann und Strauß) bestenfalls komische Einsprengsel. Ansonsten besteht der Abend aus einer These, die er dem Zuschauer fast vier Stunden lang einhämmert.

Dabei bedient sich Nicolas Stemann eines breiten Ausdrucksspektrums: von Probensituation bis Agitprop, von Brecht-Weillscher Liedinterventionen bis Lecture Performance, von Soap und Melodram bis chorischem Sprechen. V-Effekte allerortens, ständig wir die Gemachtheit des Geschehens betont und zur simplen Metapher für die Konstruiertheit des politischen wie medialen Scheins vereinfacht. Das postdramatische Handwerkszeug wird ausgepackt und erscheint zuweilen als bloße Routine. Das erwartet man halt von Stemann, also liefert er. Erkenntnisse sind Mangelware (die Erläuterung der ökonomuischen Aspekte von Flüchtlingszustrom und offenen Grenzen bildet eine Ausnahme), es gibt nichts hervorzuholen und aufzudecken, wozu man Stemanns Illusionsdurchbrechnungsinstrumentarium bräuchte. Alles liegt offen, von Beginn an. Dieser Versuch, eine Fernsehserie auf die Bühne zu bringen, scheitert auf ganzer Linie. Das liegt nicht am Ausgangsmaterial, sondern einzig und allein an Stemanns denkfauler Verweigerung einer Auseinandersetzung. An diesem Abend reicht ihm eine These, die er den Rest des Abends möglichst unterhaltsam variiert. Welch eine Material- und Zeitverschwendung.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/10/schone-einfache-welt/
Leserkritik: Die Gerechten/Das fahle Pferd am bat Berlin
Terror in Russland: „Die Gerechten/Das fahle Pferd“ von Albert Camus/ Boris Sawinkow im bat-Studiotheater

Wenn die zehn Theatertreffen-Inszenierungen wie Stadionrock-Stars auf Tour eine Vorgruppe hätten, wäre klar, welches Stück vor Daniela Löffners russischer Turgenjew-Elegie „Väter und Söhne“ aufgeführt werden müsste.

Marcel Kohler spielt bei diesem Überraschungserfolg in den Kammerspielen des Deutschen Theaters eine der Hauptrollen als Arkadij Nikolajitsch Kirsanow. Kurz danach studierte er mit fünf Studenten aus dem 3. Studienjahr der HfS Ernst Busch (Lukas Gabriel, Roman Schomburg, Joshua Jaco Seelenbinder, Samuel Simon, Alexander Wanat) und ihrer Kommilitonin Luise Pöls den Abend „Die Gerechten/Das fahle Pferd“ von Albert Camus/ Boris Sawinkow im bat-Studiotheater ein.

Die Stoffe sind nicht nur thematisch ähnlich, hier geht es ebenfalls um die politischen Umwälzungen im Zarenreich und anarchistische Ideen. Auch ästhetisch schwelgen beide Abende in einer elegischen Grundstimmung mit langen Kunstpausen. Wie am DT sitzt das Publikum in einem Rechteck um die Schauspieler auf der Bühne.

Auch wenn die bat-Studiotheater-Inszenierung vor allem in der ersten Hälfte von „Väter und Söhne“ inspiriert ist, handelt es sich natürlich nicht um ein Plagiat. Nach der Pause wird der Abend dynamischer. Nach den recht zähen Planungen des Attentats auf den Großfürsten und einer ausgiebigen Kunstschneeballschlacht während der Pause findet sich das Ensemble im Gefängnis wieder.

Die übrigen Häftlinge sind als Menschenknäuel zusammengeballt und stellen dem Attentäter neugierige Fragen zu seinen Motiven. Neben der Musikalität (Chorgesang christlicher und russischer Melodien, begleitet von Klarinette und Gitarre) hat der Abend nun auch komische Momente. Die Begriffsstutzigkeit der Gefangenen wird zum running gag. Das leitmotivisch wiederholte „Russland wird heilen. Russland wird wieder schön sein“ hallt als hoffnungsvoller Appell für eine bessere Zukunft nach Putins autoritärer Herrschaft beim Verlassen des Theaters nach.

Wer „Väter und Söhne“ liebt, wird auch „Die Gerechten/Das fahle Pferd“ mögen.
Leserkritik: ≈ [ungefähr gleich] an der Schaubühne Berlin
Strampeln im Hamsterrad: ≈ [ungefähr gleich] im Schaubühnen-Studio

Unter Hamster-Masken schwitzen die vier Schauspielerinnen und Schauspieler dieses Abends (Iris Becher, Bernardo Arias Porras, Renato Schuch, Alina Stiegler). Die SZ erinnerte es an eine Textilfabrik in Bangladesch, wie sie im Akkord schuften und Gold-Papier in kleine Schnipsel schneiden. In den folgenden 90 Minuten teilen sie sich mehr als zwanzig Rollen auf, die alle eines gemeinsam haben: sie träumen von Glück und Wohlstand, strampeln und strampeln, scheitern aber doch.

Wir erleben den Fachmann für Wirtschaftsgeschichte, der in langen Monologen von seinem Fachgebiet schwärmt, aber keine Chance auf einen Lehrstuhl hat. Die Angestellte im Tabakladen muss Rubbellose verkaufen, würde aber lieber als Selbstversorgerin auf einem Öko-Bauernhof aussteigen. Der Nächste reiht Abendkurse an Fortbildungen, wird aber doch in allen Bewerbungsverfahren abgewiesen und muss sich von der frustriert-gelangweilten Jobcenter-Mitarbeiterin (Iris Becher in einer der gelungensten Miniaturen des Abends) schikanieren lassen. Freja schreckt nicht mal davor zurück, ihre Rivalin um den Arbeitsplatz vor ein Auto zu schubsen. Nur der Schauspieler Peter (Bernardo Arias Porras) zeigt dem Kapitalismus den Stinkefinger, er schnorrt sich als angeblicher Obdachloser durch. Er hat sein Geschäftsmodell optimiert und verfügt über ein großes Repertoire an Sprüchen und Geschichten, die er je nach Situation auspackt.

Das Problem des Abends ist, dass der schwedische Autor Jonas Hassen Kherimi die kurzen Szenen so überkonstruiert miteinander verknüpft hat, dass am Ende alle Figuren irgendwie miteinander zusammenhängen. Bis dahin hetzt das Stück von einer Episode zur nächsten. Kurze Schlaglichter statt Geschichten mit Tiefenschärfe. Mina Salehpour, die zum fünften Mal ein Kherimi-Stück auf die Bühne bringt und deren Arbeiten bisher vor allem in Hannover, Braunschweig oder am Grips Theater zu sehen waren, bringt diese Sketche aus dem kapitalistischen Hamsterrad souverän auf die Bühne.

Bleibt noch die Frage nach dem Unterhaltungswert: der oben erwähnte Wirtschaftshistoriker erklärt zu Beginn ausführlich eine mathematische Formel, mit der man diesen Wert angeblich ganz genau berechnen könnte. Bei dieser ≈ [ungefähr gleich]-Inszenierung im Studio der Schaubühne liegt er im soliden Mittelfeld. Der Abend bietet wenig Neues. Zu oft haben sich junge Dramatiker schon mit ähnlichen Ideen und Thesen an der Arbeitswelt abgearbeitet.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/28256-strampeln-im-hamsterrad-ungefaehr-gleich-im-schaubuehnen-studio.html
Leserkritik: Camille Claudel, München
#185
LESERKRITIK: CAMILLE CLAUDE, ATELIER MUSICAL, PATHOS-THEATER MÜNCHEN

Die Fabelhafte Welt der Camille Claudel

Schon im Eingang des Theaters betritt man die Welt der Camillie Claudel (1864-1943), französische Bildhauerin und Geliebte von Auguste Rodin:
Fotos ihrer Skulpturen hängen an den Wänden, weiße Tücher über Gegenständen, von Seilen Schürzen, Zylinder, Glühbirnen. Auf der Bühne kündigen Cello, Klavier und …klavier an, was dann in einem Flötenspiel beginnt: Camilles Geschichte wird von der Kölner Truppe Coop 05 mit Musik, mit Ton, Klang und Gesang erzählt, ihr Leben wird auf der Bühne zum Hören gebracht.
Es geht um das Aufwachsen als nicht-gewollte Tochter, um die Arbeit des Bildhauens, die Liebe zu Rodin und die Eifersucht, um finanzielle Probleme, um Geburt, Verlust und Wahnsinn. Um Camilles beständigen Kampf um Selbstbehauptung als Frau: wegen ihres Geschlechts wird sie von der Mutter nicht geliebt, wegen ihres Geschlechts wird sie als Bildhauerin nicht gewürdigt, wie der große Rodin, der gerade auch aufgrund ihrer Mitarbeit erfolgreich wird. Den Platz an dessen Seite muss sie sich ebenso erkämpfen wie ihre finanzielle Existenz.
»Wem gehören Sie?« fragt ein fiktiver Rodin die Bildhauerin.
»Mir«, antwortet Camille, und gibt die Frage an den Mann zurück: »Sind Sie abhängig oder frei?« Mehr als alle anderen ist Camille die sich selbst Gehörende, die durch und in ihrem Schaffen eine Eigenständigkeit durchsetzt, die nach Befreiung strebt: liberté.
Das ist eindrucksvoll dargestellt durch eine Intensivität des Ausdrucks, durch die klangliche und musikalische Darstellung und durch Licht- und Videoinstallation. Im Hintergrund laufen in schwarz-weiß Nahaufnahmen von Camille Claudels Skulpturen ab, die in der Nähe der Großaufnahme an Totenmasken erinnern. Es gibt Elemente aus Tanz und Statuentheater, Erzählpassagen, poetische Reflexionen über Leben, Kunst und Wirklichkeit. Das Bildhauern wird zum Musizieren wird zur Choreographie, wenn in der Skulpturenwerkstatt ein Cello bildhauerisch-klanglich bearbeitet wird, Steine aneinandergerieben werden, Geräusche in einem Topf erzeugt werden. Vom feinsten Kratzen bis zum Knall, von Gesang bis zum Schreien werden die Geräusche performativ erzeugt und verdichten sich in Abstimmung mit Licht, Bild, Sprache zu einer magisch-aufwühlenden Atmosphäre.
Camille bleibe unvergessen, schrieb ihr Bruder, der Schriftsteller Paul Claudel, denn mit ihr haben wir die Welt des Scheins verlassen und die Welt der Gedanken betreten. Und wie Licht, Schmerz und Schalentiere gelten Camille die Gedanken als Wirklichkeit, und damit als Grund der Kunst, dieser Nachahmung der ewigen Wirklichkeit.
In diesem Stück aber gibt es keine Nachahmung, sondern den Versuch, das Vergangen in eine neue, sinnliche Gegenwärtigkeit zu überführen. Es genüge hinzusehen auf das, was da ist, sagte Camille Claudel einmal, und es ist alles ein Wunder. Hinzuhören bringt uns am tiefsten in ein gegenwärtiges Erleben. Mit ihrem Klangstück führen uns Susanne Kubelka, Neven Nöthig und Claudia Günster auf wundervolle Weise in die Welt einer beeindruckenden Frau und machen ein Leben aus dem 19. Jahrhundert gegenwärtig.

NÄCHSTE AUFFÜHRUNG AM SONNTAG, 13.3.2016, 20.30 UHR IM PATHOS-MÜNCHEN
Leserkritik: Feinde am Gorki Theater, Berlin
Leserkritik: Feinde, Yael Ronen inszeniert Isaac Bashevis Singer am Gorki Theater in Berlin

Das Publikum glaubte zu wissen, was man Yael Ronen bekommt: temporeiche Stückentwicklungen, die aus den Biographien aller Mitspieler schöpfen. Abende mit Zuspitzungen, streitbar, überschäumend, mal übers Ziel hinausschießend, aber nie langweilend.

Im "Freitag" kündigte Ronen zwar an, dass ihre neue Inszenierung eine "werkgetreue" Romanadaption von Isaac Bashevis Singers "Feinde – Die Geschichte einer Liebe" werde. Das Ergebnis ist dennoch ein überraschender Bruch mit den Erwartungen. Was sie bewog, diesen Stoff, der in Deutschland weitgehend unbekannt, aber in Israel Schullektüre ist, auf die Bühne zu bringen, deutet sie im "Freitag" nur an: "Es war sogar Teil meiner Abschlussprüfungen. Ich kenne und liebe das Buch also schon sehr lange. Ich wäre aber nicht auf die Idee gekommen, ein Theaterstück daraus zu machen. Eine der Schauspielerinnen hat Feinde auf Deutsch gelesen und zu mir gesagt: Die Geschichte ist auch heute noch relevant."

So hölzern und mit so vielen Längen war Ronen am Gorki noch nicht zu erleben. In 50er Jahre-Kostümen turnt Herman Broder (Aleksandar Radenković) über das Baugerüst auf der Bühne, hin- und hergerissen zwischen drei Frauen: seiner polnischen Haushaltshilfe Yadwiga (Orit Nahmias), die ihn vor den Nazis versteckte, seiner Affäre Masha (Lea Draeger) und seiner tot geglaubten, aber plötzlich wiederauftauchenden Frau Tamara (Çiğdem Teke). Der Hauptdarsteller ist deshalb über weite Strecken damit beschäftigt, sich Notlügen einfallen zu lassen, zwischen den Frauen hin- und herzuhetzen und sich aus-, an- oder umzuziehen.

Die knapp zwei Stunden wirken zäh und uninspiriert. Zum Rettungsanker des Abends wird der Musiker Daniel Kahn. Auf seinem Akkordeon und mit seinen beiden Mitstreitern Christian Dawid und Hampus Melin liefert er viel mehr als folkloristische Klezmer-Hintergrund-Musik als Pausenfüller, für die man seine Auftritte zwischen den Szenen zunächst halten könnte.

In einem Sprach-Mix aus Jiddisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch und mit bissig-intelligenten Texten fasst er die Spielhandlung zusammen. Und noch viel mehr als das: er thematisiert den Schmerz der Vertreibung der Juden aus Europa und das Trauma des Holocausts, die den Hintergrund dieser Geschichte aus Brooklyn in den 50er Jahren bilden, aber in den holprigen Spielszenen viel zu kurz kommen. Mit seinem traurigen "No One Survives" beschließt er das Stück und erntet den stärksten Applaus. Es hätte völlig genügt, die ganze Geschichte nur von ihm und seiner Band als Liederabend erzählen zu lassen.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/28275-no-one-survives-ein-holocaust-ueberlebender-zwischen-drei-frauen-am-gorki.html
Leserkritik: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, ...
Nach Antonia Baum: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren, Deutsches Theater/Box (Junges DT), Berlin (Regie: Anja Behrens)

Nein, für den Titel “Vater des Jahres” kommt Theodor eher nicht in Frage. Er ist Arzt und Gelegenheitskrimineller, nimmt seine Kinder schon mal ein paar Wochen aus der Schule, um in Berlin irgend einen Deal mit rund um ein Wettbüro abzuwickeln (der natürlich schief geht), hat kein Problem mit Drogenkonsum und -handel seiner drei Kinder und kümmert sich, wenn überhaupt, nur um sich. Selbst das Sorgenmachen, sagt Tochter Romy einmal, müssten sie selbst übernehmen. Dabei ist dieser Vater das Narrativ, das alles irgendwie zusammenhält. Also erschaffen sie ihn sich selbst, das zerstörte Auge angedeutet durch ein Stück grünes Klebeband. Bei Benjamin Lillie ist er ein charmanter Tunichtgut, bei Thorsten Hierse ein kalter Despot. Ansonsten müssen die Kinder sich selbst aufziehen, wie er immer behauptete, es selbst getan zu haben. Antonia Baums Roman ist eine Coming-of-Age-Geschichte, bei der sich Emanzipation und die Sehnsucht, sich an etwas festzuhalten, selbst wenn es eine Lüge ist, die Waage halten, erzählt im Rhythmus des Hip-Hop, eine der großen Lieben der Autorin.

Anja Behrens’ Bühnenadaption hat ihre besten Momente, wenn sie diesen Rhythmus aufnimmt, seine Dynamik in Sprache, Bewegung, Klang fühlbar macht, der Dynamik des Erwachsenwerdens, des Sackgassen nicht vermeidenden Vorwärtsstürmens, Gestalt verleiht. Das tut er jedoch nur selten. Vor allem Lillie beherrscht den Sprach- und Bewegungsfluss mit traumwandlerischer Sicherheit, zumal er auch die nötige Mischung aus Neugier, Arroganz und Leichtsinn mitbringt, doch bleiben solche Momente nur Episode. Zu eingezwängt ist der Abend in ein Korsett cleverer Regieeinfälle, die ihm viel zu oft die Luft einschnüren. Da ist der grüne Schrotthaufen an der Decke (Bühne Jessica Rockstroh), die grünen Fußsohlen, das grüne Blut. Hoffnung oder Gift? Zweifellos beides. Unzählige Male ergeht man sich in kollektiven Fall-Choreografien und steht natürlich immer wieder auf. Jede Figur – der Abend dreht sich um die drei Kinder – ist dreifach besetzt, jeweils mit einem Erwachsenen und zwei Kindern oder Jugendlichen. Da lässt es sich schon chorisch sprechen, ansonsten erschöpft sich die Figurenaufspaltung darauf, dass man sich ablöst, ohne dass das irgend einen Erkenntnisgewinn brächte.

Das hat mit dem Etikettenschwindel zu tun, der dieser Abend eben auch ist. “Junges DT” steht drüber, eine Marke, die Theater von uns mit Jugendlichen meint. Ja, auch hier sind sechs junge Darsteller*innen dabei, doch sind sie zumeist Staffage. Die Erwachsenen, neben den DT-Ensemblemitgliedern Hierse und Lillie die Schauspielstudentin Linn Reusse, geben den Ton an, die Einbindung der Jugendliche wirkt von Beginn an eher bemüht und oft unmotiviert. Die Eigenständigkeit, die ihre Figuren antreibt, ist den jungen Darsteller*innen verwehrt. Und so kommt der Abend, der zwei Zeitebenen – die Erinnerung an eine schwierige Kindheit und die nächtliche Suche nach dem verschwundenen Vater – so virtuos wie austauschbar verschränkt, nicht von der Stelle. Er ist über aus unterhaltsam, aufwendig gestaltet und inszeniert und doch wenig mehr als solides Kunsthandwerk, fehlerfreie Routine. Er ist ein bisschen schmuddelig (grau und leicht verwahrlost die Kleidung), aber er tut nie weh, er bleibt an der Oberfläche. Ein kurzweiliger, zumindest von den Profis (die Jungen und Mädchen haben dazu keine Chance) durchaus lustvoll und variabel gespielter Abend. Aber eben auch ein zutiefst harmloser.

https://stagescreen.wordpress.com/2016/03/16/jugend-schweigt/#more-5264
Leserkritiken: Das Bildnis des Dorian Gray, Berlin
"Das Bildnis des Dorian Gray", Kleines Theater am Südwestkorso, Berlin

Der Mörder ist immer der Florian: „Tatort“-Aficionados haben nachgezählt, dass kein Schauspieler so oft am Sonntag Abend mordete wie Florian Bartholomäi. Dabei wirkt der Endzwanziger auf den ersten Blick ganz und gar nicht gefährlich, sondern wie der nette Junge von nebenan aus dem Friedrichshain.

Bei seinem Theater-Debüt bleibt er sich treu: einen Mehrfach-Täter spielt Bartholomäi auch im Kleinen Theater in Friedenau, einer gutbürgerlichen Gegend im alten West-Teil der Stadt, in der es wesentlich beschaulicher zugeht als im hippen Fhain, die aber mit der Ring-Bahn von dort schnell zu erreichen ist. Er spielt die Hauptfigur in John von Düffels Bühnen-Fassung von „Das Bildnis des Dorian Gray“, bei der sich der Dramaturg des Deutschen Theaters nah an Oscar Wildes Roman-Vorlage (1891) hielt.

Recht konventionell bringt Regisseur Boris von Poser die bekannte Geschichte auf die Bühne. Neben Bartholomäi sind noch weitere bekannte Namen in dem weniger als 100 Zuschauer fassenden Kleinen Theater zu Gast: Matthias Freihof bekommt als Lord Henry die berühmten Aphorismen und Bonmots in den Mund gelegt, deren Wiedererkennungswert so hoch ist, dass jedes Mal ein Raunen durchs Publikum geht. Stella Maria Adorf ist als Lady Wotton zu sehen.

Bei seiner ersten Theater-Rolle erreicht Bartholomäi leider nicht die Präsenz, mit der er 2006 in „Reine Geschmackssache“ an der Seite der erfahrenen Kollegen Edgar Selge und Roman Knižka überzeugte. Seine zweite Film-Rolle (nach „Kombat Sechzehn“) war damals ein Kino-Überraschungs-Hit, sein Theater-Debüt „Das Bildnis des Dorian Gray“ ist eine grundsolide Roman-Adaption.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/28414-theater-debuet-florian-bartolomaei-als-dorian-gray.html
Leserkritiken: Reisende auf einem Bein, Hamburg
Michael Pleister
„Reisende auf einem Bein“ von Herta Müller in einer Fassung von Katie Mitchell und Rita Thiele am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg
Reflexionen zum Werk und zu seiner Inszenierung (gekürzte Fassung)
Uraufführung am 18/09/2015 (SchauSpielHaus/ Hamburg)
Irene verlässt ihre osteuropäische Heimat, die von einem Diktator regiert wird, als politisch Verfolgte und kommt 1987 mit einem einzigen Koffer nach West-Berlin. Sie hofft Sicherheit und Zuversicht zu finden, doch die Verletzungen der Vergangenheit schmerzen auch hier. Noch herrscht Kalter Krieg: Aus dem „Ostblock“ kommend muss sie sich Verhören durch den Bundesnachrichtendienst unterziehen. Und vor ihrer Einbürgerung steht das umständliche und langwierige Aufnahmeverfahren der Flüchtlingsbehörden. […] Nähe sucht sie bei Franz, einem deutschen Studenten, den sie als Urlauber am Schwarzen Meer kennengelernt hat. Doch letztendlich bleibt er ihr fremd, ebenso wie die Stadt und das neue Land, in dem sie eigentlich glückliche Ankunft sucht.
»Reisende auf einem Bein« ist der erste Prosaband Herta Müllers nach ihrer Übersiedlung aus Rumänien 1987 nach West-Berlin: eine bewegende Geschichte von Ferne und Nähe, Abreise und Ankunft und innerer Zerrissenheit, in brillanten Sprachbildern geschildert. Katie Mitchell wird diese Erzählung mit filmischen und theatralischen Mitteln inszenieren. […]
(SchauSpielHaus/ Webseite/ Reisende auf einem Bein)

Die Flucht aus Diktatur und Unterdrückung – aktuell wäre hinzuzufügen: aus Bürgerkrieg, Waffengewalt und Zerstörung – ist für den sog. Normalbürger, der das Geschehen, der Bedrängnis, Leid und Not der Menschen mit Bedauern und Entsetzen zumeist über das Fernsehen registriert, dann aber normalerweise schnell zur Tagesordnung übergeht, letztlich nur schwer vorstellbar.
Zwangsregime, deren Menschenfeindlichkeit und Brutalität viele Ausdrucksformen finden, hinterlassen bei ihren Opfern nachwirkende Spuren: Traumata, Obsessionen und Depressionen, von z.T. schweren körperlichen Schädigungen und Verletzungen ganz zu schweigen. Auf Diktatur und Machtausübung zurückzuführende Gewalttätigkeiten mit ihren Folgeerscheinungen haben sich ins Gefühlsleben all derjenigen Menschen, die sich Disziplinierung und Zwangsherrschaft in ihrem Leben nicht fügen wollten, die subversiver Tätigkeiten verdächtigt wurden, gar zum politischen Widerstand gehörten, häufig tief „eingebrannt“. Der zuweilen gelungene Ausbruch aus einem System von Verfolgung und Unterdrückung liefert in der Konsequenz schrecklicher Erlebnisse und Erfahrungen Denkvermögen und Gefühlswelt der Systemopfer z.T. erheblichen Irritationen aus, die es dem in einer Welt relativer Freiheit Zuflucht Suchenden nicht erlauben, die zunächst unbekannten Eindrücke und Begegnungen zu ordnen, zu verarbeiten und schließlich in die eigene Persönlichkeit zu integrieren. Die Vorprägungen durch das Gewaltregime mit seinem Repressionsapparat lassen eine Wahrnehmung und Verarbeitung des Neuen, Unbekannten, die Verinnerlichung einer Welt mit ihren Freiheitsverheißungen ohne Verunsicherung häufig nicht zu. Irene, die Protagonistin im hier kommentierten Theaterstück, fühlt sich nach ihrer Ausreise als politisch Verfolgte aus dem kommunistischen Rumänien in der neuen Umgebung, im Westen also, fremd:

Eine Frau lebt in Angst und Überwachung. Sie lebt "in dem anderen Land". Als ihr Ausreiseantrag endlich bewilligt wird, reist sie nach Deutschland. Doch dort, "im neuen Land" findet sie keine Ruhe, keine Heimat. Dort wird sie immer wieder eingeholt von den Blicken des Diktators. "Er schaute Irene an." (Katrin Ullmann, Das Herz verwanzt, 18.09.2015/ nachtkritik.de)
[…]
Leserkritik: Reisende auf einem Bein, Hamburg (Teil 2)
"Reisende auf einem Bein", Teil 2

Die Theaterszenerie, in der sich die Handlung vollzieht, findet ihre Widerspiegelung in einer Videoprojektion, beide Darstellungsformen präsentieren sich in geschickt arrangierter Parallelität:

Als komplexes Live-Film-Set inszeniert Mitchell den Abend und hat sich dafür von Alex Eales ein Klein - Babelsberg entwerfen lassen. Seine verschachtelt angeordneten Kleinsträume werden aus verschiedenen Kameraperspektiven so geschickt eingefangen, dass sie auf der Leinwand eine (Film-)Realität herstellen. (Katrin Ullmann, Das Herz verwanzt, 18.09.2015/ nachtkritik.de)

Die Szenen, die auf der Bühne in Normalgröße erscheinen, sind auf der Videobildfläche simultan im Großformat zu verfolgen; es geht hier um die Einbeziehung eines Mediums, das sich in der Permanenz seiner Anwesenheit sowie in seiner Wahrnehmungsfokussierung durch das Publikum, überhaupt im Rahmen der hier präsentierten Konstellation aller Darstellungselemente im Interieur eines Theaters zumindest unkonventionell ausnimmt.
[…]
Die Kombination beider Darstellungskomponenten – kurz gesagt, von Theater und Film – entbehrt nicht, so ließe sich spekulieren, einer gewissen Notwendigkeit, um den Handlungsverlauf, die Kommunikation der Akteure, um die mit der Körpersprache zum Ausdruck gebrachten Gefühle, Ängste und Empfindungen vor allem des Misstrauens anschaulich werden zu lassen. Die z.T. detailliert gestalteten Inszenierungen einzelner Situationen auf der Bühne werden vom Zuschauer vermutlich lediglich als Komplement zu den entsprechenden Filmszenen oberhalb des Bühnengeschehens wahrgenommen und dürften in dieser Hinsicht wohl nicht immer die aufmerksamkeitsbezogene Zuwendung des Rezipienten erfahren, wie sie sie vielleicht angesichts ihrer teilweise „minutiös“ geformten Aufmachung verdient hätten: Die filmische Komponente, die mit der stets laufenden Videopräsentation ins Spiel gebracht wird, behauptet eine gewisse Dominanz. Somit ist die Gefahr, wie sie sich im vorliegenden Fall aufdrängt, nämlich die mit Sorgfalt gestaltete Bühnenszenerie über die Inanspruchnahme einer elektronischen Darbietungsmöglichkeit auf das Niveau bloßer Staffage fallen zu lassen, nicht ganz von der Hand zu weisen. Vom Publikum beobachtet und weiterverfolgt wird wohl eher das, was sich in der Projektion auf der Leinwand an Handlung zuträgt.
Gleichwohl: Die elektronische Visualisierung all der Vorgänge, die auch – offensichtlich weniger spektakulär – über die Bühnenrekonstruktion vom Zuschauer wahrzunehmen sind, letztlich auch die ständige Präsenz von Kameraleuten mit gelegentlich demonstrativem Aufspür- und Beobachtungsgestus auf der Bühne, um es ein wenig zugespitzt auszudrücken, leisten einer Interpretation Vorschub, die im diesbezüglichen Arrangement von Sprache, Handlungsgeschehen und Inszenierungsspezifik selbst eine Symbolik für das Überwachungs- und Misstrauensklima zu erkennen meint („das wovon die Inszenierung erzählt, ist sie selbst“/ Frauke Hartmann/ nachtkritik.de), eine bedeutungsschwangere Symbolik also, die dem Theaterbesucher nahezubringen im Interesse des Stückes mit seiner impliziten, auf Totalitarismus zielenden Abschreckungsstrategie liegen dürfte und der Wachsamkeit zu zollen sich im Zuge politischer Bewusstseinssensibilisierung als durchaus lohnend darstellt.
Leserkritik: Reisende auf einem Bein, Hamburg (Teil 3)
"Reisende auf einem Bein", Teil 3

Dies sei festgehalten in der Gegenwart von 2016, d.h. in einer Zeit, die mit manchen politischen Strömungen, vor allem Rechtsradikalismus - und dies bekanntlich nicht nur in Deutschland -, Meinungsbildungsprozessen und Konstellationen - man denke an Abgrenzungsstrategien gegen Willkommenskultur, an Fremdenfeindlichkeit und Entsolidarisierung –, die auch mit einer spezifischen sozialen Entwicklung, nämlich der Verschärfung im Wesentlichen ökonomisch bedingter gesellschaftlicher Divergenzen, der Demokratie mit ihrer Machtdezentralisierung, ihren Freiheitsrechten und ihrer Liberalität keinesfalls, um es vorsichtig auszudrücken, immer so gewogen ist, wie es von der Warte eines erreichten hohen Entwicklungsstandes demokratischer Gepflogenheiten aus wünschenswert wäre. Wenngleich dem Duktus des vorliegenden Theaterstückes eine gewisse Eindimensionalität innewohnt – in einer Rezension wird darauf hingewiesen und zudem von einem Thriller gesprochen (Katrin Ullmann, Das Herz verwanzt/nachtkritik.de) –, so ändert dies nichts an der Darstellungs- und Aussagequalität, als Warnung nämlich vor den Anmaßungen, Verfahrens- und Wirkungsweisen totalitärer Herrschaftssysteme, aber auch vor pedantischer Bürokratie und ausufernden Kontrollstrukturen demokratischer Gemeinwesen - beides wird mit Theaterszene und elektronischer Visualisierung vermittelt - zu fungieren, all dies im Horizont weltpolitischer Konstellationen, durch die, wie oben angedeutet, Demokratie und Rechtsstaat möglicherweise größeren Gefahren ausgesetzt sind, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist.
Der dem Stück abzugewinnende eher latente Aktualitätsbezug, was Flucht und Vertreibung anbelangt, wird in den Kommentaren zur Inszenierung vereinzelt angesprochen. So heißt es auf der Theater-Webseite unter der Rubrik „Pressestimmen“ zum Beispiel:
„[…]Ein kompaktes Stück dokumentarischer Erinnerungsarbeit – das abseits der gekonnten Rekonstruktion eines historischen Moments viel darüber erzählen mag, wie sich syrische und irakische Flüchtlinge heute trotz des Entkommens aus ihrem Terrorregime in Deutschland fühlen.“ (Süddeutsche Zeitung, siehe http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/reisende_auf_einem_bein.1052768)
[…]
Eine allgemeine Bezugnahme auf gegenwärtige Verhältnisse ist jedoch – denkt man über diesen Aspekt näher nach – nur mit Umsicht und Bedacht vorzunehmen. Das verständliche Bestreben vieler Menschen, Diktatur und Unterdrückung nach Möglichkeit zu entgehen, wird es immer geben; als Fluchtursachen kommen derzeit bekanntlich Bürgerkrieg mit Zerstörung, Todesopfern, Not und Verzweiflung der Überlebenden sowie in Zukunft Klimawandel mit Armut und Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen letztlich auch als Konsequenz jahrzehntelang global vernachlässigter Umweltpolitik hinzu. Die Flüchtlingsproblematik der Gegenwart ist in ihren Ursachen, Erscheinungsformen, in ihrer ganzen Tragik vielschichtig, mehrdimensional …
[…]
Und was bleibt?
Struktur und Charakter des dem Theaterstück zugrunde liegenden Ausgangsmaterials – es handelt sich, wie bereits erwähnt, um Textpassagen erzählender Literatur - lassen die Intention von Regie und Dramaturgie, dem Handlungsverlauf über eine dramatisierte Fassung Lebendigkeit zu verleihen, naturgemäß zu einer durchaus anspruchsvollen Aufgabe avancieren. Insofern bietet die Simultaneität von Szene und Videoprojektion trotz der zu erwägenden Einwände gegen diese Art der Präsentation immerhin eine Möglichkeit, das Geschehen für den Theaterbesucher anschaulich und damit ebenso geistig wie emotional nachvollziehbar zu machen.
Leserkritik: Reisende auf einem Bein, Hamburg (Teil 4)
"Reisende auf einem Bein", Teil 4

Zugleich findet die mit der Inszenierung verbundene Absicht, über die Fokussierung sensibler Details wie Gestik, Mimik und Diktion der handelnden Personen deren Gefühle, deren psychische Disposition, um es etwas fachspezifischer auszudrücken, für den Betrachter spürbar werden zu lassen, eine reelle Chance der Verwirklichung. Gerade in der Gefühlswelt, die unter anderem mit den Fremdheitserfahrungen, wie sie die Protagonistin in der neuen Umgebung macht, besonders angesprochen wird, leben die Hinterlassenschaften von Polizeistaat und Geheimdienst fort, - Hinterlassenschaften, deren Hauptmerkmal naturgemäß darin besteht, auch dann noch wirksam zu sein, wenn die politischen Opfer dem Einflussbereich von Diktatur und Totalitarismus längst entronnen sind. Dass Misstrauen und Angst der Hauptakteurin auch nach ihrer Flucht letztlich nicht ganz unbegründet sind, zeigt das Verhalten, besser gesagt, zeigen die Machenschaften ihrer Freundin, die sich gewissermaßen als verlängerter Arm des alten Systems der Securitate erweist und Irene damit zum Opfer eines tiefgreifenden Betrugs auf zwischenmenschlicher Ebene degradiert: eine Enttäuschung für sie, wie sie schmerzlicher wohl kaum vorstellbar ist. Auch eine gewisse Distanz der Protagonistin zu ihrem Freund, den sie als Urlauber in Rumänien kennengelernt hat, geht vermutlich ebenfalls auf Fremdheits- und Misstrauenserfahrungen in der Folge jahrelanger Schikanen und Einschüchterungen durch ein totalitäres System zurück.
Die Ausdrucksformen und Nachwirkungen, Perfidie und Infamie von Diktatur und Totalitarismus, hier erfahrbar gemacht mit den kunstästhetischen Mitteln von Theater und Film, das heißt auf eine sublime Art und Weise, prägen sich dem Bewusstsein des Rezipienten, insbesondere des politisch interessierten Zuschauers ein. Ansprechbarkeit und Aufgeschlossenheit für die im vorliegenden Stück angedeutete Gesamtthematik dürften sich für Gegenwart und Zukunft als notwendiger denn je erweisen, lassen doch die Zeichen der Zeit erkennen, wie im Horizont des Weltgeschehens verstärkt Entwicklungen in Form von politischem Radikalismus, gar Extremismus zum Tragen kommen, - Entwicklungen, die letztlich – und hierauf sei mit Nachdruck hingewiesen - Demokratie und Rechtsstaat mit ihren Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Diskussionskultur und Interessenausgleich, die ein Gemeinwesen mit den Prinzipien von Mitbestimmung und Emanzipation, ein gesellschaftliches System der Freiheit in seiner Fragilität und seinem Bedarf an Zustimmung, Unterstützung und Schutz durch die Bevölkerung gerade in Krisenzeiten schnell in Bedrängnis zu bringen imstande sind.

Norderstedt, d. 13. März 2016
(Ungekürzte Fassung des Kommentars mit vollständigen Textverweisen unter www.michaelpleister.de)
Leserkritiken: Die Glasmenagerie – Katharina Thalbach, Berlin
"Die Glasmenagerie", Komödie am Kurfürstendamm

Katharina Thalbachs letzte Regie-Arbeiten lösten genervtes Augenrollen bei den Kritikern aus. Ihre “Amphitryon”-Inszenierung am Berliner Ensemble wurde als “Schenkelklopfer-Posse” verrissen. Auch ihr “Roter Hahn im Biberpelz” (2014) im Theater am Kurfürstendamm wurde als “grobmotorisch” und “krachledern” kritisiert.

Dass sie auch ganz andere, leise Töne anschlagen kann, beweist Katharina Thalbach mit ihrem aktuellen Gastspiel im traditionsreichen Haus am Kudamm. Sie nimmt den Tennessee Williams-Klassiker “Die Glasmenagerie” und die Figuren ernst. Es wäre leicht, die Träume der Wingfields als naiv zu denunzieren und sich über die armen Tröpfe lustig zu machen. Aber Thalbach gibt ihrem Ensemble den nötigen Raum: die fein gezeichneten Figuren laden das Publikum ein, das Familiendrama mitzuempfinden.

Ein Glücksgriff ist die Besetzung dieses Abends: das Oberhaupt des Thalbach-Clans besetzte ihre Tochter Anna Thalbach (als Amanda Wingfield) und ihre noch nicht so bekannte Enkelin Nellie Thalbach (als Laura Wingfield). Dazu engagierte sie zwei begabte Studenten der HfS Ernst Busch: Leonard Scheicher spielt Tom Wingfield, sein Kommilitone Florian Donath den Heiratskandidaten Jim O´Connor.

Es ist eine Freude, dem Quartett zweieinhalb Stunden zuzusehen.

Fortsetzung: http://daskulturblog.com/2016/03/23/geplatzte-illusionen/
Leserkritik: Einer flog über das Kuckucksnest, Berlin
Dale Wasserman nach dem Roman von Ken Kesey: Einer flog über das Kuckucksnest, Schlosspark Theater, Berlin (Regie: Michael Bogdanov)

Vielleicht ist es ein wenig zu harmlos, wie Bogdanov die Konflikte einführt – es braucht tatsächlich lange, bis sich die Bedrohung, die hier aufgebaut wird, und die existenzieller Natur ist, aufbaut. aber es ist eben auch gerade diese kaum merkliche Steigerung der Anspannung, die für den zweiten Teil die nötige Fallhöhe erzeugt. Zumal die freundliche Atmosphäre die wahre Natur dieses Schauplatzes nur aktzentuiert: eine Entsorgungsanstalt des Individuellen, Unangepassten, eine Fabrik der Vernichtung (die im Zweilicht vorgetragenen, die Szenen verbindenden Paranoia-Monologe von Häuptling Bromden erscheinen mit fortlaufender Dauer immer weniger absurd).

Die größte Stärke des Abends liegt darin, dass er eben nicht besonders boulevardesk daherkommt. Er scheut die Übertreibungen, findet einen angenehm zurückgenommenen Ton, skizziert die dem Karikaturesken nicht abgeneigten Figuren, mit feinem Strichen bis diesseits psychologischer Glaubwürdigkeit. In seinen besten Momenten stehen hier Menschen auf der Bühne, keine Stereotypen. Bogdanov vermeidet das Spektakuläre, er setzt auf Figurenzeichnung und sein zweifellos exzellentes Handwerk. Die Balance von Komik und Tragik hält er bis zum Schluss, sein Gespür für Timing und Rhythmus ist makellos, dramaturgisch ist kein Gramm Fett an diesem Abend, jede Szene sitzt und erfüllt ihre Funktion im Gesamtzusammenhang. Handwerklich ist der Abend nahe an der Perfektion.

Zumal Schüttauf eine perfekte Gegenspielerin hat: Franziska Troegners Oberschwester rRtched ist nicht plakativ böse. Sie ist bestimmt, jovial, gar nicht unfreundlich, sachlich und hochprofessionell, kein Abziehbild-Bösewicht, sondern eine rationale Vertreterin totalitärer Bürokratie. Hier wäre sie, die Gelegenheit, das Stück weiterzudenken, den Mikrokosmos Psychiatrie, die ja auch bei Kesey nicht im luftleeren Raum steht, zu verlassen. Doch vielleicht ist das Schlosspark Theater nicht der passende Ort dafür. Also bleiben wir im Tagesraum, der zur Todeskammer wird und müssen uns unser Teil dazu denken. Der Schluss ist sachlich bis zur Unerträglichkeit, kein falsches Pathos, kein anklagender Ton. Der Tod ist wie die Vernichtung des Individuums Teil des Geschäfts und professionell zu erledigen. Der Mensch als Nützlichkeitsmasse, der wenn unnütz geworden zu entsorgen ist, wie es im Totalitarismus üblich war und ist. Ein kaltes Ende, das es dem Zuschauer nicht leicht macht, weil es ihn aus der Komfortzone heraustreibt. Nur ein kleines bisschen, aber das kann schon genug sein, um etwas zu tun, was man mit dem Boulevardtheater nicht verbindet, wenn auch oft zu Unrecht: nachdenken.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/03/im-mikrokosmos-der-vernichtung/
Leserkritike: Caligula, München
“Caligula” am Münchner Volkstheater – ein Theater-Ereignis

“Nichts”: Vergeblich suchen die vornehmen Patrizier nach dem Kaiser Caligula. Nach dem Verlust seiner Geliebten Drusilla hat er sich irgendwo vergraben.

Hinter einem Vorhang taucht er dann doch endlich auf. Nackt, mit Lehm beschmiert und in einen Kokon existentialistischer Gedanken eingesponnen tigert Max Wagner als “Caligula” durch das Spiegel-Kabinett auf der Bühne. Untermalt von zarten Geigenklängen (Sophia Pfisterer) beklagt der Kaiser sein Schicksal und träumt davon, sich den Mond vom Himmel zu holen: “Diese Welt ist so, wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen. Darum brauche ich den Mond oder das Glück oder die Unsterblichkeit, etwas, was unsinnig sein mag, was aber nicht von dieser Welt ist”, lässt ihn Albert Camus sagen.

Kompletter Text: http://daskulturblog.com/2016/04/05/caligula-am-muenchner-volkstheater-ein-theater-ereignis/
Leserkritiken: 2 Uhr 14, Berlin
David Paquet: 2 Uhr 14, Deutsches Theater/Box (Junges DT), Berlin (Regie: Kristo Šagor)

Die Gummiwand ist das Zentrum des Abends. Jeder geht mit ihr anders um: Linus, atemberaubend intensiv und körperlich gespielt vom umwerfenden Jungdarsteller Maximilian Paier, reißt sie weit auf und nutzt sie als Turn- und Spielfläche, probiert sie und sich aus und zeigt panische Angst, wenn er sie dieses eine Mal, für Sekunden nur, loslässt. Der verlässliche Rahmen, er gibt Sicherheit. Und er zwängt ein: die schlankheitsuchende Josi, die Celia Bähr als Nervenbündel am Rande der Hysterie gibt, verheddert sich in elaborierten, selbstgewählten, Einsperrmustern. Der scheue Norbert (wunderbar unschuldig und schlitzohrig zugleich: Franz Jährling), traut sich nur zögernd an die zitternde, unsicher erscheinende Wand heran, während Katrina (starke Mischung aus rebellischer Härte und Verletzlichkeit: Katharina Anchalie Schulz) sich ihr eher aggressiv pragmatisch nähert. Sie alle können sie öffnen, hindurchschauen, aber kommen nicht von ihr los. Auch nicht die Erwachsenen: Lehrer Denis (Jens Schäfer als bemitleidenswertes sich selbst klein machendes Würstchen) verstrickt sich in ihr so sehr wie seine Schüler. Außen steht nur Nicole (Judith Hofmann): Sie gehört nicht dazu, ist jenseits der Kämpfe, welche die anderen durchleben und wird doch gleich zu beginn von ihnen eingesaugt.

Sie erzählen von ihren Ängsten, Wünschen, inneren und äußeren Kämpfen, geben, wenn der Andere dran ist, die bedrohlichen anderen oder die eigenen Dämonen. Die Sicht ist eine konsequent innerliche: Die Außenwelt manifestiert sich nur im eigenen Erleben. Bis zur lächerlich unmöglichen Annäherung von Katrina und Norbert: Zwei Inseln, die aufeinander zudriften und damit klarkommen müssen, dass da jemand ist, der so real und zerrissen ist wie man selbst. Irgendwann muss man raus aus sich selbst und hinein in die Welt. Doch wo ist sie und wie komme ich dahin? Und will ich das überhaupt? Die Wand ist eine metaphorische: Sie steht für Innen- und Außenwelt, Dabeisein und Außenstehen, Kindheit und Erwachsensein. Doch wo ist die richtige Seite, wo die wahre Realität?

Sie trennt auch die Zeiten: Erst gegen Ende erfahren wir, dass Nicole die einzig Lebende ist, die anderen sind längst tot, die regungslosen Körper hinter der Wand am Anfang die Realität. Erschossen von Karl, dem Abwesenden, vorhanden nur als verzerrtes Störgeräusch aus dem Äther und in der kalt sachlichen Hörspielfassung seiner Tat. Nicole, von Hofmann gespielt mit dem versteinerten Ausdruck einer längst Erstorbenen. Die Leben, die wir gerade dabei beobachteten, sich selbst zu suchen, es gibt sie gar nicht mehr. Es ist die Tote Nicole, die Mutter des Todes, die sie aufweckt. Das Ende bildet ein Line Dance: Von links nach rechts und zurück, rhythmisch in die Hände geklatscht, alles wohlgeordnet, keine Komplexität, keine Verwirrung, keine offenen Fragen. Klarheit. Nicole tanzt vor dem Vorhang, die Toten im Gleichklang dahinter. Sie tanzt mit ihnen, den Verlorenen, erzählt ihre Geschichten, jene, die wir gerade sahen, erzählt sie wortlos und findet gar ein scheues Lächeln. Das Leben, die träume, die Hoffnungen und Ängste: So leicht lassen sie sich nicht besiegen. Ein stilles, erschütterndes und berührend schönes Ende eines der stärksten Abende dieser Spielzeit. Sie gehen viel zu schnell vorbei, diese 75 Minuten. Auch das natürlich eine – eindringliche – Metapher.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/06/verheddert-im-leben/
Leserkritiken 2 Uhr 14, Berlin: Gummiwand geklaut
das Bühnenbild - "die Gummiwand" - haben sie 1:1 beim English Theatre geklaut, bei deren Produktion über Einstein und Kafka neulich: http://www.etberlin.de/production/transcendence-2/
Leserkritiken 2 Uhr 14, Berlin: begeistert
2 Uhr 14: der Kritik von Sascha Krieger kann ich mich nur anschließen, ich war begeistert. Von der Konstruktion des Stücks, von den Schauspielern, von der Bühne (geklaut? soso... dagewesen gestern? Oder einfach Schlaubibär?), von der pointiert eingesetzten Musik. Sehr berührt hat mich der Schluß, ehrlich gesagt tut er's noch.
Leserkritiken 2 Uhr 14, Berlin: wirkt
@199 Ja, der wirkt noch.
Leserkritiken: "Die Männerspielerin", Berlin
PortFolio Inc.: Die Männerspielerin. Motive einer Selbstverewigung, Theater unterm Dach, Berlin (Regie: Marc Lippuner und Michael F. Stoerzer)

PortFolio Inc. stoßen den Zuschauer hinein in die Widersprüchlichkeiten (post)moderner Selbstinszenierung. Und sie stellen uns die Urahnin der Generation Instagram vor: Anaïs Nin, Autorin, Künstlerin, Tagebuchschreiberin. Wir sehen sie in wunderbar karikaturesken Gesprächen mit dem Psychoanalytiker Otto Rank, den sie aufsuchte, um aus all den Rollen herauszukommen, die sie zu spielen hatte, sie zu transformieren in ein Ich, das performativ sehr viel stärker sein sollte als die vielen Einzelrollen Muse, Geliebte, Tochter. Zwischen ihnen entspinnt sich ein grotesker Tanz, der sie beide transformiert: Sie macht er zur Künstlerin, ihm eröffnet er ganz neue Räume der Ich- und Welterfahrung. Transformiert werden auch ihre Tagebücher: Statt Instrumente privater Selbstvergewisserung sind sie nun die Bühne, auf der sich Nin der Welt zeigt, wo sie ihre künstlerische Welt erschafft und mit ihr sich selbst. Mit der Selbstinszenierung tritt sie den Anderen gegenüber, kommuniziert sie mit der Welt. Zurück kommt Anerkennung, Ruhm, das Wahrgenommenwerden durch die Welt.

Wie bei PortFolio Inc. üblich haben Marc Lippuner und Michael F. Stoerzer Dokumente gewälzt und O-Töne gesammelt und verrühren sie nun zu einer Mischung, die Kunst und Internet, damals und heute, das ästhetisch Erhöhte und das alltäglich Banale verknüpft. Denn gegen das Nichtwahrgenommenwerden, die mediale Nichtexistenz kämpfen sie alle an: die Künstlerin, die YouTuberin, der Facebook-Süchtige. Lippuner und Stoerzer verschränken die Zeit- und Spielebenen: Man wir farcenhaft chargiert, dann trocken vorgetragen, alles ist performativ, Inszenierung, Imitation – wie etwa die initialen Posenbilder Nins auf dem Videoquadrat, unter die sich die eine oder andere Kopie durch Darsteller*innen und Regisseure eingeschlichen haben. Überhaupt die Videowand (Bühne: Uri Oppenheim): Sie ist Kulisse, Kommentator, Illustrator – und Metapher. Denn sie visualisiert die fragmentierte Wirklichkeit, in der die Figuren versuchen aufzufallen. eines der 16 Teilquadrate wird zum Bücherregal, zwei weitere entpuppen sich aus herausnehmbare Würfel, die sich als Hocker oder Posdeste nutzen lassen, am Ende teilt sich die Wand ganz. Die einheitliche Mastererzählung bleibt Illusion.

Nicht für Nin: Sie, die einer anderen Zeit entstammt, hat die selbstinszenierung zur Kunst gemacht und sie ist auch hier, in der Darstellung Judica Albrechts reine Pose. Doch gleiches gilt für Thomas Georgis Rank. Wer ist wessen Muse, wer inszeniert wen? Für die heutigen Rollenspieler ist die Frage gar nicht mehr zu beantworten. Sie bringt der Inszenierungsrausch auf die – hier virtuelle – Psychiatercouch oder wird zur allesverschlingenden Obsession. Die Männerspielerin ist ein spielerischer, augenzwinkernder und doch analytisch tiefbohrender Abend, der sich der Frage widmet, warum die Sehnucht nach authentizität zwangsläufig zu totaler Künstlichkeit und Lbens- wie Ich-Inszenierung führt. Damals wie heute, in Anaïs Nins Tagebüchern wie bei Instagram und Facebook. Vielleicht ist die einzige Antwort die, welche uns die australische YouTuberin entgegenschleudert: Wenn ihr Kontakt wollt, geht hinaus in die reale Welt, sprecht mit Leuten, lernt andere Ich-Konstrukte, auch bekannt als Menschen, kennen. Geht dahin, wo andere Menschen sind. Fahrt Bus!

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/10/fahrt-bus/
Leserkritiken: Don Giovanni, Berlin
Herbert Fritschs "Don Giovanni" an der Komischen Oper wiederaufgenommen

Für die Verhältnisse von Herbert Fritsch ist sein “Don Giovanni” schon ziemlich konventionell, fast handzahm, die Vorlage von Mozart/del Ponte bleibt stets erkennbar: weit weniger groteske Körper-Verrenkungen als in seiner “Physiker”-Inszenierung in Zürich und auch keine selbstverliebt-dadaistischen Sprachspielereien wie bei “der die mann” oder “Murmel Murmel” an der Volksbühne.

Der Unterhaltungswert kommt aber auch bei seiner Mozart-Inszenierung, die am 30. November 2014 an der Komischen Oper Berlin Premiere hatte und dort am 15. April 2016 wiederaufgenommen wurde, nicht zu kurz.

Fritsch legt seine Inszenierung als muntere Verfolgungsjagd an. Im Zentrum des Abends steht Günter Papendell als wild grimassierender Clown. Ihm macht dieser Ausflug ins komische Fach sichtlich Spaß. Bei ihm ist die Titelfigur Don Giovanni kein galanter Verführer, sondern ein spitzbübischer Dauergrinser, der von den Harlekinen der Commedia dell´Arte inspiriert ist, aber auch der “Joker” aus “Batman” schimmert durch.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/04/16/herbert-fritsch-und-sein-don-giovanni-clown-an-der-komischen-oper-berlin/
Leserkritiken: "Reigen" in Stuttgart
In der Stuttgarter Oper: Reigen von Philippe Boesmans (Premiere 25.4.)

Da man nun in Stuttgart, und nicht nur hier, aber hier besonders, aus allen möglichen Texten, z.B. Romanen, Theaterstücke „formt“, unabhängig davon, ob diese sich eignen oder der ästhetischen Eigenart der jeweiligen Kunstform entsprechen, warum nicht also auch aus einem bekannten Theaterstück eine Oper machen?
Die Frage stellt sich nun leider nicht mehr, ob etwa dieses Theaterstück zeitgemäß ist oder seine Beziehung zu einer möglichen Musik? Überall muss Geld verdient werden und so lockt man eben mit einem hoffnungslos veralteten Skandalstück und moderner Musik, die nun auch so klingt als wäre sie aus der Weimarer Republik. Modern ist freilich relativ, und einem konservativen Opernpublikum dürfte alles nach Gustav Maler modern vorkommen.
Die Bühnen ist karg, es bewegen sich dort vor allem die hin und her fahrenden Wände, ein sicher erheblicher technischer Aufwand. Besonders mutig war nun, dass an die Stelle von Schnitzlers Punkten, also zwischen dem Davor und Danach des intendierten Geschlechtsverkehrs, auf eine große Video-Leinwand ein Paar projiziert wurde, das sich an der vom vielen Waschen etwas grau gewordenen Wäsche zog. Kam mir vor wie eine Werbung für Bio-Unterwäsche. Dazu etwas griechisch anmutend, natürlich der Mann mit Bartansatz; zum Glück kein Hipster-Bartträger.
Die Musik, der Gesang, war schnell erkannt, eine innermusikalische Entwicklung war nicht zu erkennen, auch wenn um ein wiederkehrendes Motiv bemüht, das mir nach Mahler klang. Aber warum sollte es auch in der Musik eine Entwicklung geben, wenn es die in den 10 Begegnungen auch nicht gibt? Es war die Wiederkehr des Immergleichen, hier zur bemühten Routine abgestumpft.
Manchmal war es auch ein bisschen lustig, leider aber nur kurz.
Es gab viel Beifall. Warum? Ich konnte weder ein inhaltliches noch wirklich formell-ästhetisches Wagnis entdecken, das diesen verdient hätte. Was sind das für Leute, die "Bravo" rufen?
Es gibt bei zwei Begegnungen das „Problem“, dass Männer morgens keine Lust haben, z.B. der Graf und die Dirne. Da hörte ich hinter mir einen Mann: Das könne er nicht verstehen! Die Frau, des Mannes, der neben mir saß, und sich die drei Stunden (minus Pause) nicht bewegte, wurde aber im Laufe der Aufführung immer munterer und rutschte auf ihrem Stuhle hin und her. (Ich kämpfte hart mit meiner Müdigkeit.) Das alles verstehe, wer will!
Es waren wichtige Leute in der Premiere, z.B. der Chefredakteure der Lokalzeitung, die das Event, wie die Politik hier, auch wieder gut finden wird. Seit Kultur Standortfaktor ist, sind auch dort die Spielräume auf die Kreditlinien der Banken reduziert. Und diese gibt es bekanntlich nicht für kühne Projekte.
In der Stadtbibliothek saß heute ein junges Paar in der Modeabteilung und knutschte. Ich fand das nett, eine Bekannte fand das schlimm. Ich meinte, wohin sollen sie sonst gehen? Und welche Abteilung wäre besser dafür geeignet? Sie aber wollte sie fort haben. Und was will die Regisseurin in der Stuttgarter Zeitung: „Das Gebrochene, Abgründige, Widerwärtige wie ein Messer von hinten durch die Augen der Figuren blitzen lassen“.
Was wollten wir nach dem Reigen: Nach Hause, aber es regnete auch noch.
Leserkritik: Hundeherz, Berlin
Nach Michail Bulgakow: Hundeherz, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Lilja Rupprecht)

Genügend Anknüpfungspunkte gibt es für Lilja Rupprecht, die Bulgakows Erzählung jetzt auf die Bühne der Box, der kleinsten Spielstätte des Deutschen Theaters, bringt. Doch nein, um Vergegenwärtigung geht es ihr nicht, genauso wenig wie um eine Einbettung in den historischen Kontext der Vorlage. Stattdessen macht sich Rupprecht daran, die Geschichte mit soviel theatralem Aufwand wie möglich nachzuerzählen. Natali Seelig spielt den Hund Bello, der zum Menschen Bellow wird, mit ebenso rustikalem wie routiniertem Enthusiasmus. Ihr gehört der erste Teil, der auch bei Bulgakow aus der Sicht des Hundes erzählt ist. Dazu spricht sie grimassierend in ein Mikrophon, während die Begegnung mit dem Professor (ein reichlich unterforderter Helmut Moshammer) aus Hundesicht auf die Rückwand der hölzernen Wohnungs- und Untersuchungszimmerandeutung (Bühne: Anne Ehrlich) projiziert wird.

Es wird viel mit Live-Video gespielt (Moritz Grewenig), die Szenen zwischen Bühne und Video aufgesplittet, was die Differenz zwischen existenzieller Wahrheit (das Schicksal des Hundes) und menschlicher Hybris (das sich per Video verewigende Forscher-Team) vorführt. Doch auch das verpufft schnell, scheint es doch wichtiger, den nächsten Regiekniff auszuprobieren, als eine stringente Haltung zum verwendeten Stoff zu entwickeln. Das zeigt sich auch in der Operations- und Transformationssequenz: Da findet sich ein dreifacher Bello zuckend und vom Moloch der verderbten Moderne fabulierend vor einer Art Sog-Projektion, wird später die Bühne bis zur Erschöpfung gedreht, während aus dem operierten Hund ein unangenehmer Mensch wird, ein perverser Kreislauf anstelle des intendierten Fortschritts. Nur fehlt diesen durchaus aufwendigen Illustrationen und schlüssigen Bildern eben das Fundament, spielt die Geschichte im luftleeren Raum, auch wenn die stalinistische Hausgemeinschaft Druck auf den freigeistigen Arzt auszuüben beginnt. Das scheint auch die Regisseurin zu merken und hastet gegen Ende zunehmend dem ende entgegen. Die Geschichte wird hektisch heruntergespult, erschöpft sitzen die selbsternannten Menschheitserneuerer vor der nun projektionsfreien Holzwand, bar jeder Visionen und Illusionen – auch das ein Bild, das wirken könnte, hätte es einen ideellen Bezugspunkt.

Was bleibt, ist eine zunächst virtuos, wenn auch in seinen viel zu frühen Perspektivwechseln und der verkrampften Effekthascherei inkonsequent erzählte und überhastet zu Ende gebrachte Geschichte, die uns nichts zu sagen vermag. Da ist der generöse Griff in die Regietrickkiste mit Live- und sonstigem Videoeinsatz, illustrierender Musikbegleitung und cleverer metatheatraler Szenenaufspaltung wenig mehr als Selbstzweck. Anknüpfungspunkte an die Gegenwart werden ignoriert, der ideologische Ballast der Entstehungszeit abgeworfen. Nur bleibt dann eben nichts als bedeutungsentleertes Vakuum. Lilja Rupprechts Hundeherz ist solides und äußerst aufwendiges Kunsthandwerk, das sich bestenfalls um sich selbst dreht. Eine vertane Chance und nicht die erste in dieser Spielzeit am Deutschen Theater.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/26/hund-ohne-boden/
Leserkritiken: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, DT Berlin
"Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren", Junges DT

Die Produktion in der Box des Deutschen Theaters ist vor allem für ein junges Zielpublikum sehr gut geeignet: mit lakonischem Humor erzählt der Abend von sozialer Verwahrlosung, selbstbewussten Jugendlichen und Katastrophen-Eltern.

Zu den komischen Momenten gehört vor allem der Auftritt von Benjamin Lillie als Frau Sellerie vom Jugendamt, die an die Prusseliese aus "Pippi Langstrumpf" erinnert. Dass Antonia Baum, die Autorin der Romanvorlage, vom Rap geprägt ist, schimmert auch in einigen Szenen durch, z.B. als sich Lillie und Oskar von Schönfels auf dem Schulhof gegen Mobbing wehren: "Wir diskutieren zu Hause die blaue Phase von Picasso, während eure Scheißeltern überhaupt nicht wissen, wer Scheißpicasso war!"

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/02/theater-kritik-junges-dt-ich-wuchs-auf-einem-schrottplatz-auf/
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg
„Unterwerfung“ von Michel Houellebecq
Ein Monolog mit Edgar Selge
Anmerkungen zum Werk in der Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Regie: Karin Beier/ Uraufführung am 06.02.2016
(Kommentar in gekürzter Fassung)

[…]
Paris im Jahre 2022: Straßenschlachten zwischen Extremisten heizen das politische Klima auf. Der Front National hat gewaltigen Zulauf. Um zu verhindern, dass er als stärkste Partei den Präsidenten stellt, koalieren die liberalen bürgerlichen Parteien mit einer gemäßigt islamischen Partei. Der Plan geht auf: In den Élysée-Palast zieht Frankreichs erster muslimischer Präsident ein. Was diese durchaus realistische Zukunftsprognose Houellebecqs erst zum Skandalon macht, ist, wie sich binnen weniger Monate das öffentliche Leben ohne jeden Widerstand wandelt. Die islamische Bruderschaft, die Frankreich wie eine bankrottgegangene Firma übernimmt, errichtet kein totalitäres Regime wie bei Huxley oder Orwell. Machtübernahme und Wandel vollziehen sich vollkommen unspektakulär, demokratisch und legal. […] Und die Bevölkerung nimmt die islamischen Gebote und Verbote genauso hin, wie sie bisher Quotenregelungen, Steuererhöhungen, Mülltrennungsgebote oder die Privatisierung öffentlicher Dienste akzeptiert hat.
[…]
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/unterwerfung.1052787) (letzter Abruf: Mai 2016) 1)

Die Aufführung des oben genannten Bühnenstückes, das auf einen Roman von Michel Houellebecq zurückgeht, wird augenblicklich mit viel Interesse von Theaterbesuchern, Kommentatoren und Rezensenten verfolgt. Die Vorstellungen am Schauspielhaus in Hamburg sind gut besucht und nicht nur das, nach Bekanntgabe der Aufführungstermine sogar ziemlich schnell restlos ausverkauft. Zurückzuführen ist dies höchstwahrscheinlich auf die Vermutung seitens des Publikums, hier ginge es um Zusammenhänge oder auch nur Aspekte mit aktuellem Zeitbezug, um Parallelen und Analogien zu Vorgängen, die sich in der Lebensrealität derzeit zutragen oder in vermeintlich realistischer Einschätzung ereignen könnten, hier drehe es sich um Handlungsmomente, denen ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeitsnähe durchaus abzugewinnen sei. Ein prominentes Bühnenstück wie das vorliegende findet natürlich viel Resonanz im Schrifttum, insbesondere im Journalismus, genauer gesagt im Bereich professioneller Theaterkritik, wie sie dem Feuilleton der Medien zu entnehmen ist.
[…]
Der Titel des in außergewöhnlicher Hinsicht als Monolog von gewaltiger Dimension präsentierten Bühnenwerkes weist auf etwas hin, was im Laufe der Handlung deutlich wird, nämlich die Bereitschaft der französischen Bevölkerung, offensichtlich auch der Intellektuellen, sich einem politischen Regime von anfänglich noch nicht genau einzuschätzendem, dann aber zunehmend sich als autoritär entpuppendem Habitus zu beugen, einer Herrschaftsform, die gleichwohl durch das Votum der Bürger, sodann über eine bis dato unübliche Parteienkoalition, nämlich ein Bündnis der liberalen bürgerlichen Gruppierungen mit einer gemäßigt islamischen Partei – wie im Textvorspann bereits erwähnt -, an die Macht gekommen ist.
Die neue Regierung geriert sich kaum aufsehenerregend, sie wird von den Menschen wahrgenommen, als sei sie selbst, als sei auch das mit ihr verbundene Geschehen „das Normalste von der Welt“. Die Politik, die jetzt betrieben wird, setzt Maßnahmen wie Muslimisierung von Schulen und Hochschulen, Verdrängung von Frauen aus den Bereichen öffentlicher Arbeit, setzt Bekleidungsvorschriften und Polygamie durch, ohne dass sich hör- oder sichtbarer Protest gegen die Zunahme von Restriktion und Fremdbestimmung regt.
(vgl. http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/unterwerfung.1052787) (letzter Abruf: Mai 2016)
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg Teil 2
"Unterwerfung" (Teil 2)
Politik und Herrschaftsanspruch kommen eher sanft, sozusagen auf leisen Sohlen daher, eine besonders raffinierte Form, sich das Gemeinwesen willfährig zu machen, Abbau demokratischer Rechte voranzutreiben, Einschränkung von Freiheit und damit Disziplinierung und Reglementierung durchzusetzen. Im „Gehorsam“ der Bevölkerung dürfte sich Angst widerspiegeln. Alle politischen Maßnahmen, die hier im Zeichen des Islam stehen und natürlich nicht ohne Weiteres vergleichbar sind mit Quotenregelungen, Steuererhöhungen und Mülltrennungsgeboten, wie es im einführenden Text auf der Webseite des Stückes heißt, werden - wie gesagt - hingenommen, bedingt durch Furcht vor bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen oder aus Angst, einer Herrschaft des Rechtsextremismus auf längere Sicht ausgeliefert zu sein. Die Bereitwilligkeit der Bevölkerung, gesellschaftspolitische Restriktionen, intoleranten Herrschaftsanspruch, Anpassungsbereitschaft einfordernde Reglementierungen, die auch im persönlichen Bereich wirksam werden, zuzulassen, zeigt auch, welch üblem, z.T. außengesteuerten, z.T. selbstverantworteten (Rechtsradikalismus durch Wählervotum!) Verfallsprozess, um es ein wenig zugespitzt auszudrücken, zwei Qualitätsmerkmale des Menschen, nämlich Bewusstsein und Mentalität, anheimzufallen im Begriffe stehen.
[…]
Aber ist dies nun Realität, vor der vielleicht – hier mit den Mitteln des Theaters – zu warnen wäre?
Um es vorweg deutlich auszusprechen: Die Bevölkerung eines Landes, in dem die durch Namen wie Montesquieu, Rousseau und Voltaire repräsentierte Aufklärung entscheidenden Einfluss auf eine Revolution von weittragender Bedeutung ausgeübt hat, d.h. auf die Französische Revolution von 1789 und damit auf einen politischen wie gesellschaftlichen Umbruch, dem das Attribut „wegweisend“ im gesamteuropäischen Kontext abzusprechen sich wohl verbieten dürfte, und dies trotz einer an den Namen Robespierre und seine Herrschaft geknüpften Horrorvorstellung hinsichtlich damaligen staatsterroristischen Handelns (la terreur) der Jahre 1793/94 – die Bevölkerung Frankreichs also, die letztlich – ausgehend von Paris – die Schreckensherrschaft Robespierres abzuschütteln imstande war, um es zugegebenermaßen ein wenig grob zusammenzufassen, die sich zudem ihrer politisch-gesellschaftlichen Identität über die Losungsworte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ immer wieder zu versichern versteht, dürfte aufgrund gerade der in Aufklärung und Französischer Revolution wurzelnden Traditionen fest zu den Werten von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat stehen, sodass eine Kapitulation, wie sie das vorliegende Bühnenstück insinuiert, wohl als eher unwahrscheinlich zurückgewiesen werden muss.
[…]
Gleichwohl: Wenn die möglicherweise gar nicht so einfach zu ermittelnde eigentliche Aussage, d.h. die Kernbotschaft des wie gewöhnlich im Konkreten verhafteten Stückes, ins Allgemeine, mit entsprechender Umsicht ins Verallgemeinerbare gehoben wird, wenn also - einfach gesagt - vom speziellen Fall abstrahiert wird, zeigt das von der Intendantin in einem Zeitungsinterview (Welt am Sonntag Nr. 5, 31.01.2016, Hamburg S. 1) mit dem Ausdruck „Gedankenexperiment“ apostrophierte Theaterstück, wie klein der Schritt von einem liberalen Gemeinwesen zu einer Gesellschaft im Korsett einer „gelenkten Demokratie“, um diesen derzeit gelegentlich verwendeten Begriff mit seinem Bezug auf zumindest halbwegs autoritär regierte Staaten zu verwenden, wie klein der Schritt, wenn der entsprechende Gedanke weitergeführt wird, möglicherweise auch zu politisch Radikalerem, nämlich Autokratie, Diktatur und Totalitarismus, letztlich sein kann, zumindest theoretisch.
[…]
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg Teil 3
"Unterwerfung" (Teil 3)
[…]
Gerade die jüngsten Ereignisse in Europa haben gezeigt, dass sich Solidarität schnell verflüchtigen kann, überdies inhumanes Denken an Boden zu gewinnen imstande ist; Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, die sich partiell bemerkbar machen, auch die Errichtung von Grenzzäunen gegen Flüchtlinge, dies alles spricht, was eine „Tendenz zum Negativen“ anbelangt, durchaus für sich. Zudem ist auch für Europa kaum auszuschließen, dass über demokratische Wahlen verstärkt Parteien und Politiker an die Macht gelangen, die letztlich durch Nichtbeachtung, gar durch Außerkraftsetzung demokratischer sowie rechtsstaatlicher Prinzipien – man denke an aktuelle Vorkommnisse in unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa, nämlich in der Türkei – ihren Herrschaftsanspruch auszubauen und zu verfestigen die Absicht haben.
[…]
Auch wenn das Bühnenstück, um das es hier geht, als Gedankenexperiment zu deuten ist, wie es die Intendantin im bereits erwähnten Interview mit der „Welt am Sonntag“ (s.o.) – wie gesagt - für richtig hält, und es in diesem Sinne nicht als Ausdruck ungebrochener Realität verstanden werden kann, so sollte es - und verallgemeinernd könnte man sagen: so sollte ein Werk wie das vorliegende,
das einerseits einen an spekulativen Wägbarkeiten orientierten Handlungsablauf präsentiert, andererseits unter den Bedingungen spezifischer weltpolitischer
Konstellationen Zeit- und Wirklichkeitsnähe suggeriert, sich dann gleichwohl auch
den qualitätssichernden Erfordernissen, um es ein wenig zugespitzt auszudrücken, den empirischen Tatbeständen gewissermaßen, dem Maßstab von „wahrscheinlich“ und „abwegig“ stellen. Ob die westliche Gesellschaft „leicht und schnell und desinteressiert“ (Welt am Sonntag, s.o.) ihre Grundwerte „anheimstellt“, was nach den Worten der Regisseurin im angeführten Zeitungsinterview zu erwarten ist („Ich finde auch, dass Houellebecq, […], immer einen Schritt voraus ist. Die Geschichte holt ihn und seine Romane […] ein […].“), bleibt in der oben zitierten Formulierung des Gedankens eher fraglich.

Das vorliegende Bühnenstück verharrt insgesamt in einer Art Schwebezustand, gibt jedoch, wenn man so will, eine gewisse Grundtendenz zu erkennen, die sich mit den knappen Ausführungen, wie sie der entsprechenden Webseite des Theaters zu entnehmen sind, erläutern lässt:

Houellebecqs boshafter Polit-Thriller richtet sich nicht gegen den Islam, sondern beschreibt den Kollaps der Kultur des Westens. Dieser Zusammenbruch ist das Ergebnis des schleichenden Verfalls sämtlicher kollektiver Bindungen, angeleitet von einem Bild der Welt, das von der Idee des Ichs beherrscht wird und so direkt ins ökonomische, soziale und moralische Desaster führt.
(http://www.schauspielhaus.de/de_DE/repertoire/unterwerfung.1052787) (letzter Abruf: Mai 2016)
Leserkritik: Unterwerfung, Hamburg Teil 4
"Unterwerfung" (Teil 4)
Damit wäre eine Grundaussage, sofern man sie sucht, zu fixieren. Trotzdem eignet dem Werk eine merkwürdige Offenheit im Sinne von Unverbindlichkeit, denn es ist mit seinen politischen Komponenten dem lebensweltlichen Diesseits verhaftet, rekrutiert seinen Inhalt aus Teilaspekten dessen, was sich in der Welt vor allem politisch derzeit anbahnt (Rechtsradikalismus!), ereignet oder was lediglich diskutiert wird, hat in manchen Zügen und Ausdrucksformen realistischen Zuschnitt und wird insofern auch auf seinen Wahrscheinlichkeitsgehalt hin rezipiert. Andererseits greift es im Verlauf der erzählten Handlung stark ins Spekulative aus und mündet in eine eher pessimistische, dabei phantasievoll ausgestaltete Zukunftsvision des Autors. Ein spektakulärer, gelegentlich sogar reißerischer Zug wirkt sich auf Gehalt und Struktur des gesamten Werkes keinesfalls qualitätssteigernd aus. Die hier angesprochene relative Unverbindlichkeit von Wirkung und Aussagekraft des Stückes wird auch in der Theaterkritik durchaus gesehen, teilweise mit ironischem Unterton kommentiert:

[…]

Es wäre wünschenswert, wenn das Theaterstück gerade aufgrund seiner relativen, wie auch immer zu bewertenden Interpretationsoffenheit nicht zuletzt auch in politischer Hinsicht noch länger auf dem Spielplan bliebe - so z.B. in der kommenden Saison nach der Sommerpause - und es insofern die Gelegenheit bekäme, die weitere Entwicklung der hier angedeuteten sowie der sich anschließenden Fragen und Probleme aus seiner spezifischen Perspektive zu begleiten, überhaupt als Instanz zu fungieren, die zu manchen sachbezogenen Reflexionen weiterhin Anlass bietet. Das vorliegende Bühnenstück trägt – dies sei noch einmal betont, mag bei entsprechender Kenntnis aber auch nicht verwundern - durch Inhalt und Anlage in besonderem Maße zu kontroversen Diskussionen bei. Es liefert durch die in dieser Hinsicht vorauszusetzenden Anregungen zur gesellschaftsrelevanten Gesprächsbereitschaft generell, sodann insbesondere durch seine zumindest latent „mitschwingende“ Mahnung zur Einsicht in die Notwendigkeit argumentativen Streitens in einem sanktionsfreien Raum gerade bei Themen provokanten Charakters - eine solche Notwendigkeit wird keineswegs allerorten als selbstverständlich angesehen - selbst einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur „Diskurswelt“ eines demokratisch-liberalen Gemeinwesens.


1) Anmerkung zu den Hyperlinks: Auf nähere Angaben, was Autor, Quelle und Zeit anbelangt, wird weitgehend verzichtet; diesbezügliche Informationen sind den Originalquellen selbst nach Betätigung der entsprechenden Hyperlinks zu entnehmen!

Der vollständige Kommentar ist auf der Homepage des Verfassers einzusehen: www.MichaelPleister.de


Dr. Michael Pleister 05.05.2016
Leserkritiken: Holy Shit
Sweet Baby Jesus!
Leserkritiken: Film "Die Prüfung"
Leserkritik: "Die Prüfung"

Till Harms dokumentiert in seinem Film die Aufnahmeprüfung zum Studiengang Schauspiel in Hannover.

Der Film lief auf der Berlinale und startete gestern in einigen Kinos.

Zur Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/19/die-pruefungblick-hinter-die-kulissen-auswahlverfahren-von-schauspielschulen/
Leserkritiken Effi Briest: Meister Übertrumpfung
"Effi Briest - allerdings mit anderem Text und auch mit anderer Melodie" beim Theatertreffen

Der „Effi Briest“-Abend, der am 19. September 2015 im Malersaal des Schauspielhauses Hamburg Premiere hatte, ist ein Abend mit skurrilen Einfällen, der vor allem für zwei Zielgruppen geeignet ist:

Für jene, die sich durch die Ehebruchstragödie „Effi Briest“ zu Schulzeiten hindurchquälten und mitten in ihren eigenen Puberträtssorgen von den Duell-Ritualen und Ehrvorstellungen des preußischen 19. Jahrhunderts genervt waren.

Und für jene, die sich nostalgisch an die 70er Jahre und die damalige Flokati-Zottel-Mode erinnern.

Für alle anderen ist es ein netter, recht kurzweiliger Abend, der nach mehreren Jury-Fehlgriffen und einem schwachen Theatertreffen-Jahrgang 2016 am Ende noch etwas gute Laune verbreitet.

Den beiden Marthaler-Schülern Sienknecht und Bürk ist außerdem zu Gute zu halten, dass sie ihren Meister übertrumpfen: ihre Effi Briest-Radishow ist wesentlich gelungener als Marthalers fader Country-Freizeitpark-Ausflug, den er uns zuletzt an der Volksbühne zumutete.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/21/effi-briest-radio-show-aus-hamburg-beim-theatertreffen/
Leserkritiken: gute Laune
Es war sehr unterhaltsam - ob der Marthaler-Abklatsch mit Ausnahme der Schauspielleistungen dem Stoff gerecht wird, wag ich zu bezweifeln - Zumal der Anlehnung an "The Last Radio Show" von Robert Altmann - Also was bleibt - Gute Laune und Erinnerung an gute Stücke und Filme :-)
Leserkritik: interessant
Ihr Hinweis auf den Robert Altman-Film ist interessant.

Trotz einiger Parallelen sehe ich einen entscheidenden Unterschied: Die Hamburger "Effi Briest" hat wesentlich mehr ironische Leichtigkeit als das melancholischere Alterswerk "The Last Radio Show".
Leserkritik: "Je suis Fassbinder", inszeniert von Falk Richter und Stanislas Nordey in Paris
Falk Richter und Stanislas Nordey inszenieren Je suis Fassbinder in Paris

Von Tobias Marian Wollenhaupt

„Ich mache kein politisches Theater, Politik machen die Leute draußen auf der Straße“, sagt Stanislas Nordey am Ende des Publikumsgesprächs, der zusammen mit Falk Richter das Stück Je suis Fassbinder am Théâtre National de la Colline inszeniert hat.

Das Stück beginnt in einer hitzigen Debatte mit Alkohol und Zigaretten. Diskutiert wird über die Silvesternacht in Köln und über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Das Thema ist politisch, Merkel habe sich mit ihrer Willkommenspolitik getäuscht, denn die Flüchtlinge seien viel zu viele, sie seien nicht registriert und vergewaltigen die deutschen Frauen. Wir würden jetzt wiederfinden, was den deutschen Frauen nach dem zweiten Weltkrieg durch russische Soldaten wiederfahren ist. Angelehnt ist die Szene an ein Gespräch von Fassbinder mit seiner Mutter, die, verkörpert von Laurent Sauvage, ihrem durch Angst gesteuerten Unmut freien lauf gibt. Dementgegen argumentiert Stanislas Nordey, der mal Stan ist und mal Rainer, mit steigender Fassungslosigkeit gegen diesen sozialen und politischen Rechtsruck, der sich im heutigen Europa vollzieht.

Das Stück wirkt wie Fassbinders Werk Deutschland im Herbst, in dem teils dokumentarisch, teils szenisch über die von Angst und Unsicherheit geplagte Gesellschaft der RAF-Jahre in Deutschland erzählt wird. Schon im Titel des Stücks wird eine parallele zwischen den 70er Jahren und der heutigen Zeit geschaffen. Je suis Charlie war nach den Anschlägen auf die Satire-Zeitung Charlie Hebdo der Leitspruch einer Bewegung von Solidarisierung mit den Werten der Demokratie, der den Terroristen und den Gegnern dieser Werte entgegenstanden. So wird die Relevanz von Fassbinders Werken in die heutige Zeit gehoben. In einer zehnminütigen Szene wird wieder und wieder Je suis, je suis mit beängstigender Musikunterlegung fast vorwurfsvoll vorgebetet. Ich bin Europa. Der Traum der Wirklichkeit wird. Alles was Sie wünschen und alles um meinen Reichtum zu beschützen. Eine Armbanduhr von Montblanc. Ich lasse kleine Kinder für mich in China arbeiten. Der 40er Holländische Populist, der sagt, dass die Moslems die größte Bedrohung der europäischen Gesellschaft seien sind. Marine le Pen. Ein System, das die Armen ärmer werden lässt und die Reichen reicher, Je suis Charlie! und wenn Araber an dem Restaurant vorbei laufen, in dem ich sitze, habe ich Angst und ekel mich. Ich will keine Angst haben, aber manchmal habe ich Angst. Abrupt beendet wird die Szene durch Gelächter, denn ich bin auch „das lächerlichste Lied beim Eurovision Song Contest“. Es macht den Anschein, als wenn das Publikum sich von einer immer mehr bedrückend-aufgezeigten Wahrheit der Orientierungslosigkeit durch diese scheinbare Harmlosigkeit losgelassen fühlt.

Das Bühnenbild besteht aus Podesten auf unterschiedlichen Höhen, mit weißen Flokati-Teppichen, die an Fassbinders Dekor aus Die bitteren Tränen der Petra von Kant erinnern. Die Podeste wirken wie Inseln, auf deinen die Fragmente des Stücks spielen, die wie in einem Patchwork zusammen ein Ganzes ergeben. Bilder von Fassbinder und den Charakteren seiner Filme liegen frei auf der Bühne. Videoprojektionen von Fassbinders Originalwerken, dokumentarische Einblendungen von Fassbinders Werdegang erklären dem französischen Zuschauer, wer Fassbinder war und woher er kommt. Auch Szenen aus dem kriegsgebeutelten Syrien werden gezeigt.

Was das Stück nicht schafft, ist, dem Publikum die andere Perspektive zu zeigen. Die, eines Flüchtlings, oder einer am Rande der Gesellschaft lebenden Person, die offensichtlich von dieser angstgetriebenen Verwirrung diskriminiert wird, wie es Fassbinder in seinen Werken oft erzählt hat. Der Zuschauer hat nicht die Möglichkeit das sozialpolitische Geflecht aus der außerhalb Europa stehenden Position zu betrachten. Es geht einzig um die Perspektive derjenigen, die schon „drin“ sind.

Nicht, dass die Theaterwelt politisches Theater noch nicht gesehen hat. Spätestens seit Shermin Langhoff und Jens Hillje die Direktion im Maxim Gorki Theater übernommen haben, ist politisches Theater allgegenwärtig und trifft den Nerv auch dieser, die es nur selten ins Theater schaffen. In Frankreich ist das anders. Das Theatersystem En Suite zwingt die Theatermacher zur Planung der Saison rund 18 Monate zuvor. Politisch aktuelle Themen so in die Stücke zu integrieren ist somit nicht nur schwer, sondern erfordert im besten Fall sehr gute Antizipation des Zeitgeists. Niemand konnte die schrecklichen Ereignisse der letzten zwei Jahre vorhersehen. Umso besser, dass dem eher strengen französischen Publikum nun ermöglicht wurde die aktuellen Ereignisse auf künstlerischer und nicht aus journalistischer Perspektive zu betrachten. Und es gefällt ihnen. An fast jedem Abend gab bis jetzt standing Ovations, was sonst eher die Seltenheit ist. Dieses Stück ist sehr wohl politisch. Von politischem Theater hat Frankreich offenbar nicht genug.
Leserkritik: Effi Briest, Hamburg / TT 16
Theatertreffen 2016 – Clemens Sienknecht und Barbara Bürk nach Theodor Fontane: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Deutsches Schauspielhaus, Hamburg (Regie: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk)

Herrlich, wenn die Spieler*innen versuchen, den Szenenanweisungen der Westphal-Aufnahme zu folgen und dabei zunehmend irritiert reagieren. Oder wenn Effi (Ute Hannig in einer Frisur, die an die frühe Angela Merkel erinnert) sich den musizierenden Herren hinzugesellt und dafür ein aggressives “This is a man’s world” entgegengeschleudert bekommt. Prägnanter lässt sich die Wand der Moralheuchelei, gegen die Effi läuft, nicht charakterisieren. Doch nein, Effis Briest wird hier nicht neu aufbereitet. Vielmehr wird der Stoff zur Spielwiese, macht man eine schöne, unterhaltsame Radioshow daraus. Alles ist bekanntlich Entertainment, warum nicht die sensationelle Fremdgeh-Story auch? Der fontanesche Ernst trifft auf das Liebespathos der Popmusik und gebiert schreiend komische Kinder. Dabei geht es in erster Linie nicht darum, irgendjemanden lächerlich zu machen, auch wenn der eine oder andere Lacher auf Kosten einer Figur gehen mag.

Bürk und Sienknecht reißen Fontanes Roman einfach von seinem verrosteten Sockel herunter, lesen quer, picken sich Details heraus, die sie remixen, auß ihren Zusammenhängen reißen und sie in neue – oder gar keine – stellen. Das Ergebnis ist ein hochkomischer, ironischer, spielfreudiger Abend, der nichts anderes will, als Fontanes texte freizusetzen, in die freie Wildbahn oder die moderne (nun ja, nicht mehr ganz so moderne, wir sind hier schließlich in der Schrankwand-Welt des Marthaler-Universums) zu entlassen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich darin verirren, ratlos herumrennen und orientierungslos irgendeine Richtung suchen. Um Relevanz geht es Bürk und Sienknecht nicht, vielmehr darum, den Blick freizugeben, Effi Briest dem Klassenzimmermuff zu entreißen. Und wenn der einzig mögliche Ort eine niveaufreie Radioshow ist, warum nicht. Das radio ist für die “Digital Natives” ja schon fast so vergangen wie der wilhelminische Salon. Und gleich präsent, denn das Internetzeitalter ist ja auch eines der Gleichzeitigkeit. Doch genug des Interpretierens. Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie ist wenig mehr und bestimmt nicht weniger als ein Heidenspaß, ein kurzweiliges Zwerchfelltraining, das Fontanes Buch entstaubt und herumwirft, ohne seine Essenz – den verzweifelnden Kampf eines Individuums ums eigene leben – zu diskreditieren. Es ist nur vielleicht nicht immer ganz so ernst. Und selbst wenn, ein bisschen spaß muss sein. Deutschlehrern – und Claus Peymann, wie man hört – wird das nicht gefallen, vielen anderen schon. Und vielleicht ist es nicht einmal eine schlechte Idee, Schulklassen ins “Radio Briest” einzuladen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/23/eine-weite-spielwiese/
Leserkritiken: Bremer Freiheit, Berlin
"Bremer Freiheit" von Rainer Werner Fassbinder (Berliner Ensemble/Pavillon)

Fassbinder erforschte in seinem Drama, das nur ein Jahr später auch als Fernsehfilm ausgestrahlt wurde, die Motive der Frau. Ganz auf der Höhe des Zeitgeistes der frühen 70er Jahre sieht er seine Hauptfigur Gesche als eine Frau, der von gefühlskalten Männern, patriarchalen Strukturen und religiösen Zwängen die Luft zum Atmen abgeschnürt wird. Aus Notwehr greift sie zum Arsen, das sie in den Kaffee träufelt.

Catharina May bringt diesen selten gespielten Stoff in ihrer ersten eigenen Regiearbeit auf die Bühne des Pavillons im Hof des Berliner Ensembles. Erste Erfahrungen sammelte sie als Assistentin von Claus Peymann bei seiner jüngsten Handke-Inszenierung und von Robert Wilson bei seinem Faust-Musical.

In kurzen, präzise komponierten Szenen trifft die Hauptdarstellerin Krista Birkner als Gesche Gottfried auf ihre Kontrahenten, die sie in scharfem Ton mit ultimativen Forderungen bedrängen: Mal ist es der erste Ehemann (Georgios Tsivanoglou), der breitbeinig rumsitzt und sie barsch herumkommandiert. Mal ist es der Vater (Joachim Nimtz), der sie gegen ihren Willen mit einem Vetter verheiraten will. Mal ist es die verhärmte Mutter (Ursula Höpfner-Tabori), die verlangt, dass sie die Affäre mit einem Mann beendet, da sie damit Schande über die Familie bringt und gegen religiöse Gebote verstößt. Ihr Bruder (Stephan Schäfer) verlangt, dass sie ihm die Leitung des Familienbetriebs übergibt.

Komplette Kritik:
https://daskulturblog.com/2016/05/26/vergiftet-fassbinders-bremer-freiheit-am-bremer-freiheit/
Die Gerechten, Berlin: Leserkritik
Albert Camus / Boris Sawinkow: Die Gerechten / Das fahle Pferd, bat-Studiotheater, Berlin (Regie: Marcel Kohler)

Samuel Simon als Stepan und Joshua Jaco Seelenbinder stehen sich im Streit gegenüber, die anderen suchen dazwischen ihre Position. Simons unerbittlicher Fanatiker und Seelenbinders nüchtern vergrübelter, von stillen Zweifeln heimgesuchter Iwan bilden die Pole – hier die Revolution als Selbstzweck, dort als rein dienendes Mittel zu einem höheren Ziel. Ruhig und intensiv ist die Auseinandersetzung, ein stiller Kampf der Argumente. Kohler setzt auf realistisches Spiel und auf Pausen, in denen die Worte, die Ideen, das Ungeheuerliche dessen, was hier verhandelt wird – ist es in Ordnung, auch Kinder zu töten oder sollte man sich auf den Vertreter der Macht beschränken. Je weiter sich die Figuren hinein wagen ins Dickicht der Abgründe sich absolut setzender Ideologien, desto unerträglicher, angespannter wird die Atmosphäre. Das liegt vor allem am Ensemble, in dem Seelenbinder, der für die rolle mit dem diesjährigen O. E. Hasse Preis ausgezeichnet wird, kaum herausragt. Einen starken Eindruck hinterlassen auch Luise Pöls, die als Dora erst und leidenschaftlich für die Liebe als Grundprinzip plädiert oder Lukas Gabriel, dessen dünner Körper das Ringen Alexejs mit dem Zweifel auf ungemein physische Weise ausficht. Auch Alexander Wanats entschlossener und zugleich unsicherer Pragmatiker Boris und Roman Schomburg, der im zweiten Teil den Polizisten Skuratow als sanften Praktiker der Macht gibt, sind zu nennen.

Am Ende steht ein Kompromiss: politischer Mord ja, aber keine Kinder als “Kollateralschäden”. Keine Antwort, sondern nur eine Ausflucht. Und so gefriert Seelenbinders Attentäter im zweiten Teil zum kalten mechanischen Propagandisten ideologischer Phrasen, gräbt er sich ein in einem Glaubensbekenntnis, das längst Schutzpanzer ist, sucht er die Hinrichtung, um sich nicht dem eigenen Tun stellen zu müssen. Das intensive Kammerspiel wird zum multiperspektivischen Geistertanz. Der Mitgefangene, dem sich Iwan als Retter präsentiert, ist ein tumbes Körperknäuel, das mit den hochtrabenden Ausflüchten des Mörders wenig anfangen kann. Die Großfürstin, Witwe des Opfers, erscheint als verhüllte Mahnung seiner Schuld – wie auch der Mithäftling, der sich als Henker entpuppt, im angeketteten Geist des Täters multipliziert. Auch die Mitverschwörer*innen sind nurmehr sich windende Untote, die wie tot dahin gestreckt sind und nur noch die alten Phrasen ausspucken. Am Ende bleibt ein Berg sich selbst entmenschlicht habender Körper.

Der Tod hat gesiegt, aber nicht auf ganzer Linie. Da können Sawinkows Hass-Predigten noch so sehr mit der archaischen Wucht eines antiken Chors daherkommen – auch der Hass-Prophet kann sich dem menschlichen nicht ganz entziehen. Und so beginnt sich Zweifel einzuschleichen (Sawinkos selbst wurde später zu einem ausgesprochenen Kritiker der Sowjetmacht und von dieser ermordet), wie sich überall der Kuntsschnee festsetzt, der in der Pause, die keine ist, vom Himmel fällt. Da tollen die sechs Revolutionäre wie Kinder über die Bühne, albern herum, bekämpfen sich in Schneeballschlachten. Da dringt das Leben ein in den selbstgewählten Kerker und sind alle hehren Motive, aller Ernst vergessen und nichts mehr wert. Der Schnee bleibt, auch wenn die Parolen wiederkehren – jetzt jedoch als Gespenster, fahle Schatten ihrer selbst. Christliche Choräle erklingen, falsche Hoffnungsversprechen und doch nisten auch sie sich ein – in den Figuren, im Publikum. Sie ist nicht tot zu kriegen, diese Hoffnung, die am Leben als etwas Bewahrenswertem festhält. Etwas das jetzt ist und nicht erst morgen. Wie albern. Wie wahr.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/05/29/der-schnee-von-heute/
Leserkritik: "Die lustigen Weiber von Windsor", Monbijou-Theater Berlin
Shakespeare's housewives: merry, not desperate
"Die lustigen Weiber von Windsor" eröffnen die Sommersaison des Monbijou-Theaters in Berlin

Überfälle, Ehebruch, Eifersucht in Windsor. Und dann noch zwei identische Liebesbriefe. Falstaff, ein sinnenfroher Lebemann und skurpelloser Betrüger, macht in völliger Überschätzung seines Sex-Appeals gleich zwei Damen Avancen in der erklärten Absicht, seinen chronisch unterversorgten Geldbeutel aufzufüllen. Doch er hat seine Rechnung ohne die Wirtin der Taverne zum Strumpfband und die listigen Frauen von Windsor gemacht: sie verbünden sich und nutzen die Gelegenheit, dem übergriffigen Machogehabe Falstaffs endgültig den Garaus zu machen.
Allein im ersten Akt dieser Komödie von Shakespeare sei "mehr Leben und Wirklichkeit, als in der gesamten deutschen Literatur", meinte Friedrich Engels 1873 in einem Brief an Karl Marx. Die Literaturkritk ist da von jeher anderer Meinung. Sie bemängelt die zerfranste Dramaturgie der von Shakespeare in nur vierzehn Tagen zusammensgeschusterten Episodenfolge. Doch beim Publikum gehörte der Stoff lange zu den populärsten, vor allem dank der trinkfesten und übergewichtigen Figur des Lebemannes Falstaff.
Maurici Farres geschickt verdichtete Fassung der Komödie für das Monbijou-Theater hat den Titel beim Wort genommen. Er lässt Falstaff buchstäblich den Kürzeren ziehen und konzentriert sich klugerweise auf die weiblichen Hauptfiguren als Sympathieträgerinnen: Frau Quickly (Franziska Hoyner), die als umtriebige Spielmacherin auch den Part des Wirts übernimmt, daneben die gar nicht verzweifelten Hausfrauen Ford (Claudia Rippe) und Page (Olivia Marei). Sie setzen dem sich maßlos selbst überschätzenden Schürzenjäger (Thorsten Loeb) derart einfallsreich zu, dass er, am Ende buchstäblich bis aufs Unterhemd bloßgestellt, das Zeitliche segnet und in einem triumphierenden Totentanz zu Grabe getragen wird. In einem Epilog darf der Falsataff-Darsteller aber noch der Figur des genussfreudigen Lebemanns, der nach wie vor als Markenname für Feinschmeckerartikel herhalten muss, mit dem berühmtem 91. Sonett Shakespeares poetisches Credo entgegensetzen:
"Liebe schafft mir Seligkeit
Mehr als Geburt, als Geld und Kleiderzier."
Diese "lustigen Weiber" sind die dritte Sommer-Produktion im Monbijou, seit der katalanische Regisseur und Dramaturg Maurici Farré als künstlerischer Leiter dem erfolgreichen Open-Airtheaters an der Museumsinsel eine personelle Frischzellenkur verordnet und die Arbeit spürbar professionalisiert hat. Sein Konzept eines künstlerisch ambitionierten, "klugen Volkstheaters", das effektvolles Theaterhandwerk mit schauspielerischer Artistik und literarischem Profil zu verbinden sucht, hat sich bewährt und wird vom Publikum mit einer um 30 % gestiegenen Auslastung honoriert.
Mit Darijan Mihajlovic aus Belgrad steht ihm ein Regisseur zur Seite, der alle Register des Theaterzauberers beherrscht, effektsicher szenische Pointen setzt und ein ausgeprägtes Faible für eine komödiantische Körpersprache zeigt. Das von Isa Mehnert Mehnert farbenfroh kostümierte und von Nina Dell wunderbar schräg und schrill geschminkte Ensemble (auch Tobias Schulze, Joachim Villegas und Ole Xylander) bespielt alle Nischen und Winkel des zur Taverne verwandelten Amphitheaters (David Regehr) mit circensischer Präzision und so vehement, dass man ums eigene und das leibliche Wohl der Truppe fürchten muss.
Mit einem chorischen "Sorry Shakespeare" verbeugt sich das Ensemble vor dem großen Theaterdichter. Very british, das Understatement. Dabei hätte der Autor bestimmt seinen Spaß an diesen listigen Vorstadtweibern. Das Premierenpublikum jedenfalls ließ sich begeistern.
Leserkritiken: "Nirgends in Friede. Antigone" bei den Autorentheatertagen Berlin
Autorentheatertage 2016 – Darja Stocker nach Sophokles: Nirgends in Friede. Antigone. Theater Basel (Regie: Felicitas Brucker)

Die Diskrepanz von Außen und Innen steht im Mittelpunkt des Stücks. Kreon ist der Mauerbauer, er braucht diese Differenz, um sein System aufrechtzuerhalten. Antigone dagegen steht auf beiden Seiten, sie ist, wie sie mehrfach sagt, Antigone und ist zugleich nicht Antigone. Sie ist die Mauerneinreißerin, ja, sie erkennt den Unterschied zwischen dem Drinnen und dem Draßen nicht an, lehnt die Mär vom Unterschied derer “hier” und jener “dort” ab. Kreon steht für das Europa, das wegschaut, den Status Quo zu schützen meint, aber auch für jene, die wir euphemisierend “Rechtspopulisten” nennen, die Feindbilder aufbauen, Ängste schaffen und ausnutzen, Behaupten, diese oder jene gehörten nicht zu “uns”, die spalten wollen und Hass säen. Er, so sagt das Stück, ist wenige, am Ende hat er nicht nur den Sohn, sondern auch den Wächter, seinen hartnäckigsten Schergen, an die “andere Seite” verloren. Während Kreon und eine der Antigones in ihrem Blut liegen, stehen die anderen – auch und gerade die bei Sophokles so angepasste Schwester Ismene, solidarisch zusammen. Stocker hat viel Zeit in Ägypten verbracht, die Nachwehen des “arabischen” Frühlings erlebt, sie engagiert sich für die Rettung schiffsbrüchiger Flüchtender. Ihre Antigone-Bearbeitung ist eine Anklage. eine, die uns, die sich angesichts des Elends – wie ihr Vater – selbst blenden.

Es ist ein wütendes Stück geworden, das vor allem bemüht ist, nicht wütend zu wirken. Also versucht es sich sprachlich so eng an Sophokles zu halten, wie es geht, kann es sich nicht recht entscheiden zwischen archaisierender Abstraktion und konkreter Gegenwärtigkeit, wie es zwischen Gesellschaftporträt und Familiengeschichte mäandert, vor seiner eigenen Courage angst zu haben scheint und sich zunehmend im Ungefähren verliebt. Keine ganz dankbare Aufgabe für Uraufführungsregisseurin Felicitas Brucker. Der sie sich mit solidem Kunsthandwerk zu entziehen sucht. Die Bühne (Viva Schudt) weist schräg in die Zuschauer hinein und sagt: Hier ist etwas aus dem Lot geraten. Dominiert wird sie von einer gerüstartigen Wand, durchsichtig, aber nicht durchlässig. Kalte Neonröhren symbolieren, nun ja, die Kälte einer sich erleuchtet fühlenden Gescellschaft, Drinnen und Draußen sind klar abgetrennt. Kreon und Co. stehen davor, die Antigones erobern sich zunehmend die Trennwand als Verbindungsglied. Ansonsten wird viel von der Rampe gesprochen, man positioniert sich klar im Raum und vergisst dabei zu spielen.

Die Zwiegesichtigkeit des Stücks zwischen Plakativität und Unentschiedenheit übernimmt die Inszenierung, die abspult, ein bisschen bebildert (etwa mit halbherzigen Bewegungschoreographien) und ansonsten bemüht ist klarzustellen, wie sie steht. Dass sie Steffen Höld seinen Kreons als nach und nach die Maske fallen lassenden kaltblütigen Bürokraten der Macht, der am Ende wie ein Rumpelstilzchen tobt, mit der Subtilität einer Seifenopernfigur spielen lässt, schadet der Intention des Stücks eher. Und so passiert etwas Seltsames: Der Abend lässt den Zuschauer kalt. Je mehr das Stück mit sich ringt, sich fragt, ob es sich dem Zuschauer nähern oder ihn auf Distanz halten soll, je mehr die Inszenierung versucht, dem Stück zu folgen, ohne eine eigene Haltung zu entwickeln, geschweige denn zu verstehen, wo es hin will, desto mehr Zwischenwände zieht der Abend ein, desto weiter sind wir entfernt von dem, was da verhandelt wird, desto leichter macht er es, nicht hinzuschauen, nicht nachzudenken über unsere eigenen Rollen – als Individuen, als Gesellschaft. Das Erschreckendste an diesem Abend ist womöglich seine Blutleere.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/06/12/je-suis-antigone-oder-nicht/
Leserkritiken: "Nirgends in Friede. Antigone" bei den Autorentheatertagen Berlin
Autorentheatertage 2016 - "Nirgends in Friede. Antigone" (Kleine Bühne im Theater Basel) zu Gast am Deutschen Theater Berlin

Das Problem an Darja Stockers Antigone-Überschreibung „Nirgends in Friede“ ist, dass sie die klassische Tragödie von Sophokles entkernt und stattdessen mit aktuellen Problemen überfrachtet.

Es war eine sehr unglückliche Entscheidung der Autorin, vor allem auf lange Erzählpassagen und Zeugenberichte zu setzen. Statt der dramatisch zugespitzten Konfrontationen zwischen Antigone und Kreon oder Antigone und Ismene, um nur zwei besonders herausragende Szenen des griechischen Originals zu nennen, bietet dieser Abend in der Regie von Felicitas Brucker nur müdes Stehtheater, das noch dazu wahllos zwischen poetischer Kunstsprache und „fast schon salopper Alltagssprache“ wechselt (zutreffender O-Ton aus Programmheft-Interview).

Auch Stockers Einfall, die Antigone auf drei Schauspielerinnen (Lisa Stiegler, Nicola Kirsch, Cathrin Störmer) führt zu nichts.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/06/12/nirgends-friede-basler-antigone-ueberschreibung-eroeffnet-dt-autorentheatertage/
Leserkritiken: "Ramstein Airbase" bei den Autorentheatertagen
Autorentheatertage 2016 - "Ramstein Airbase - Game of Drones"" (Staatstheater Mainz/U17) zu Gast am Deutschen Theater Berlin

Dieser Ort ruft sofort drei Assoziationen hervor: die Bilder des Unglücks bei einer Flug-Leistungsschau im Jahr 1988; die martialischen Klänge der Band „Rammstein“, die sich danach benannt hat; und in jüngster Zeit vor allem die Presseberichte und Vorwürfe, dass Ramstein eine Schlüsselrolle bei den US-Drohnenkriegen gegen Terrorverdächtige im Nahen und Mittleren Osten von Jemen bis Waziristan spiele.

Der weniger als 90 Minuten kurze Abend versucht, sich spielerisch an seine komplexen Themen heranzuarbeiten. Gockel zitiert munter die US-Popkultur: von Tom Cruise in „Eine Frage der Ehre“ über die Bill Cosby-Show bis zu „Game of Thrones“ werden bekannte Motive in die Dialoge auf der Bühne eingeflochten oder auch gerne im Hintergrund per Video eingespielt. Monika Dortschy kommt sogar im Marilyn Monroe-Kostüm auf die Bühne.

(...)

Vom Dokumentartheater im Stil von Hans-Werner Kroesinger ist dieser Abend weit entfernt: der Ansatz ist sowohl spielerischer als auch oberflächlicher. Aber Gockel gelingt ein Theaterabend, der gut unterhält und es im besten Fall schafft, ein jüngeres Publikum dazu zu bringen, sich noch intensiver mit den Drohnenkriegen im allgemeinen und der Verstrickung der Bundesrepublik Deutschland im besonderen zu befassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/06/19/ramstein-airbase-game-of-drones-mainzer-theaterabend-zwischen-popkultur-und-waziristan/
Leserkritiken: nochmal zu "Ramstein Airbase"
Ich bin jung und möchte mich bitte mit Drohnenkriegen und deutscher Mitverantwortung nicht spielerisch unterhalten lassen. Danke. Das Gespräch mit dem Anwalt dazu war aber sehr interessant, es wäre auch ohne das Stück möglich gewesen.
Leserkritiken: "Schatten (Eurydike sagt)", Autorentheatertage
Bislang keine nachtkritik von Schatten (Eurydike sagt) aus Karlsruhe, gestern bei den Autorentheatertagen am DT zu sehen? Kein Wunder: miserables Theater! Fast empörend schlecht, Text, Bühne, Schauspiel.
Leserkritiken: Widerspruch zu "Eurydike", ATT
@dabeigewesen #224: Dann waren Sie vermutlich der, der in der Reihe hinter mir als einziger rausgegangen ist. Die anderen Zuschauer fanden's toll, inklusive mir, riesiger Applaus, selten so erlebt bei den Autorentheatertagen. Zu Recht: Tolles Frauenensemble – und ich hab noch nie eine so erzählerische, unterhaltsame, berührende und ironische Jelinek-Inszenierung gesehen, wo es mal richtige Figuren gibt, wo man mal was vom Text versteht und nicht alles rhythmisch runtergerattert wird. Wusste gar nicht, dass Jelinek überhaupt Figuren hergibt. Vielleicht haben Sie (#224) die Ironie mancher Szenen nicht verstanden?
"Schatten (Eurydike sagt)", ATT Berlin
"Schatten (Eurydike sagt)", Badisches Staatstheater Karlsruhe zu Gast bei den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters Berlin

Die ersten Szenen sind von demonstrativer Langsamkeit geprägt. In scharfer Abgrenzung zum Jelinek-Staccato greift er zunächst zwei Motive aus der stark gekürzten Textfläche heraus, die er eingehend beleuchtet: zunächst die große Lust am Shoppen und das Interesse für Mode, die einige Jelinek-Texte prägen. Hier steht Lisa Schlegel im Mittelpunkt.

Später folgt ein langer, etwas zu zäh geratener Monolog der einsamen Eurydike im Schlafzimmer (Ute Baggeröhr) über Depression und Melancholie. Diese Passage erschließt sich erst richtig, wenn man die Gedanken von Jelinek über Freuds Aufsatz „Trauer und Melancholie“ kennt.

Die Langsamkeit der ersten Hälfte ist vor allem dann unerwartet, wenn man die Wiener Uraufführungs-Inszenierung von Matthias Hartmann kennt, die vor drei Jahren zu den Autorentheatertagen ans Deutsche Theater eingeladen war. Dieser Abend badete in seinen kabarettistischen Pointen, eine Jelinek-Puppe sorgte für Lacher, auf der Showtreppe erschien auch ein leibhaftiger Orpheus, der bei Gloger ganz abwesend bleibt.

Als man es schon gar nicht mehr erwartet, legt Gloger den Schalter doch noch um: Annette Büschelberger tritt an die Rampe und rechnet in einer galligen Suada mit den Groupies, Tussis und Casting-Shows von DSDS bis GNTM ab, von der sich auch Gernot Hassknecht noch eine Scheibe abschneiden könnte, wie Wolfgang Behrens meinte.

Der Abend gewinnt an Farbe und Substanz. In einer sehr guten Schatten-Choreographie (Video: Christoph Otto) suchen die fünf Spielerinnen nach ihrer Identität, treten einen Schritt zurück und kommentieren sich selbst und ihre Schattenprojektionen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/06/22/schlangenbisse-jelineks-schatten-euydike-sagt-aus-karlsruhe-zu-gast-in-berlin/
Leserkritiken: Erinnerung an den David-Cameron-Abend am DT Berlin 2013
David's Formidable Speech on Europe, Autorentheatertage 2013...
Aus gegebenem Anlass möchte ich noch mal an das großartige Event vor 3 Jahren erinnnern: zahlreiche europäische Theater zeigten am DT Berlin Szenen zur Rede von David Cameron, in der er das Referendum über die EU-Mitgliedschaft ankündigte. Das war nicht nur ein ausgesprochen unterhaltsamer Theaterabend, sondern auch hochpolitisch. Und von heute aus gesehen nahezu prophetisch. Leider habe ich dazu außer diesen links (http://mitos21.com/davids-formidable-speech-on-europe/ http://arnodeclair.net/davidsspeech/index.html) nichts gefunden. Vielleicht hat es ja der ein oder andere auch noch in guter Erinnerung...
Leserkritiken: Link zum David-Cameron-Abend am DT Berlin
@ 227/dabeigewesen

Ich habe damals darüber geschrieben: https://daskulturblog.com/2013/06/15/autorentheatertage-2013-jelinek-in-der-unterwelt-cameron-in-12-varianten/

Ich erinnere mich, dass die Nachgespräche bei Tomatensuppe sehr schleppend waren.

Positiv aufgefallen sind mir vor allem die Kurzdramen mit Stefanie Reinsperger und Mario Fuchs.
Leserkritiken, Der entfesselte Wotan, Berliner Ensemble
"Der entfesselte Wotan": Berliner Ensemble/Pavillon mit HfS Ernst Busch

Aus dem literarischen Werk von Ernst Toller kennt man heutzutage am ehesten noch seine Revue „Hoppla, wir leben!“ (1927). Außerdem hat er seinen Platz in den Geschichtsbüchern als sozialistischer Anführer der Münchner Räterepublik: sie wurde nach wenigen Monaten im Juni 1919 niedergeschlagen und endete für Toller mit mehrjähriger Festungshaft.

Während dieser Zeit schrieb er das Drama „Der entfesselte Wotan“: eine expressionistische, stark ins Groteske ausufernde Komödie über einen Friseur, der sich zum Anführer einer Schar von Auswanderern aufschwingt und krachend scheitert.

Als das Stück 1923 erschien, war es eine hellsichtige, aber fruchtlose Warnung vor dem Erstarken rechtsextremer Rattenfänger. Manche Textpassagen über ein orientierungs- und kraftloses Europa könnten aber auch aus einem tagesaktuellen Leitartikel stammen. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass Hauptdarsteller Tobias Lutze (als Friseur Wilhelm Dietrich Wotan) an die Auftritte der einschlägig bekannten Herren Donald Trump, Geert Wilders und Boris Johnson erinnert.

Der Stoff ist also eine interessante Wahl, hat aber den Nachteil, dass die Figuren – je länger der anderthalbstündige Abend dauert, umso deutlicher wird dies – nur Karikaturen und Knallchargen sind. Für die Schauspielerinnen und Schauspieler gibt es deshalb zu wenig Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen und Nuancen herauszuarbeiten.

Kompletter Text: https://daskulturblog.com/2016/06/30/der-entfesselte-wotan-ernst-busch-schauspielschueler-spielen-tollers-expressionstisches-drama-am-berliner-ensemble/
Leserkritik: Die Puritaner, Stuttgart
Oper Stuttgart (8.7.16)

Vincenzo Bellini: Die Puritaner. Meldodramma Serio in drei Akten.

Man braucht keine großartige Geschichte, um ordentlich Musik machen zu können. Die hat, nicht nur laut Wikipedia, diese Bellini Oper auch nicht. Dem historischen Hintergrund wird das eher schlichte Bühnenbild durchaus gerecht, ermöglicht es doch auch umgekehrt die Konzentration auf das Wesentliche: die Musik. Im zweiten Teil war das wohl den Regisseuren, möglicherweise durch das in der Nähe gelegene Schauspielhaus angeregt, doch etwas zu wenig und stellten deshalb eine Art Miniaturausgabe eines Schlösschens auf die Bühne, das aber auch etwas von jenem Hexenhäuschen hatte, in das Hänsel und Gretel gesteckt wurden. Dieser Wechsel ins Surreale geschah etwas unmotiviert, und war für mich auch nicht nachvollziehbar, beschränkten sich doch die Aktionen auf der Bühne z.B. im zeitlosen Gebaren religiöser Männer: Während sie in einem Buch lesen und im Stuhlkreis sitzen, gelegentlich die Stühle hin und her tragen, putzen die Frauen den Boden usw. Das war und ist oft noch immer so, wird vielleicht wieder mehr, und versteht jeder.
Was dann nun aber völlig aus dem Rahmen fiel, waren die im zweiten Akt auf die Bühne flutenden Verfolger des „Helden“, die etwas von einem Zombie-Marsch an sich hatten. Vor mir saß eine große dicke Frau, und so sah ich nicht sogleich, dass diese kein Blut an Händen und Kleidung und Mündern hatten, aber sich so puppenhaft verzerrt bewegten.
Das bürgerliche Feuilleton entdeckt hier sofort die Chance seiner Interpretationsaufgabe und sah Traumhaftes, dann folgt immer Freud in Klammer: (Freud), und den Rezensenten ergriff eine „schwindelerregende Klarheit“. Schade dass diese nicht auch den Politikprofessor ergriff, der auf der gleichen Seite der Stuttgarter Zeitung die Motivation der einfachen Leute für den Brexit „erklären“ durfte.
Die Stuttgarter Oper ist dringend renovierungsbedürftig, darin herrschte eine Hitze, die kaum auszuhalten war. Auch die Toilettensituation ist zu beklagen. (...) Schöner Gesang ohne irgendwelche Ambitionen ist ein Genuss, und war es an diesem Abend auch. Beim Sprechtheater ist das schwieriger, da die Menschen (manche) die etwas altmodische Begier haben, einen Sinn und einen Bezug zu ihrem Leben herzustellen. Wo dieser absichtsvoll verdunkelt wird wie im Stuttgarter Schauspielhaus, bleibt als mögliche Reaktion das bedauerliche Fernbleiben, wenn man nicht zum Masochismus neigt. Man kann das mit der Zeitungslandschaft in Stuttgart vergleichen; wenn diese Stuttgarter Zeitung/Nachrichten von immer weniger Menschen gelesen werden, kann das am abnehmenden Bildungsniveau der Menschen liegen, die die (a-) social media bevorzugen. Man sollte aber auch gut dialektisch das Gegenteil nicht ausschließen. Wer sich von der Theaterkritik in der Stuttgarter Zeitung Erhellung verspricht, dem sei mit Folgendem gedroht: „führt aus der Religion der Weg über die Kunst ins Leben? Und was ist Ersatz für was?“
Die Oper lohnt trotzdem einen Besuch.
Leserkritik: Refuse The Hour, Berlin
Foreign Affairs 2016 – William Kentridge: Refuse The Hour

Ein Denkprozess ist dies, wie der Titel andeutet. Vielschichtig, von vielen Richtungen her ansetzend, vielstimmig auch, ein polyphones Tönen unterschiedlichster Ausdrucksformen – vom Individuellen ist Tanz und Gesang, zum Wiedergegebenen in Kentridges Lesungen bis hin zum Mechanischen, in seinen Skulpturen und dem von der Decke hängenden Schlagzeugapparat. Die zeit läuft vorwärts und zurück, der Raum ist drei- wie zweidimensional, Spigelungen, Dopplungen, Schatten bevölkern Bühne und Leinwand, das Reale findet sich im Repräsentierenden wieder und umgekehrt. Dekonstruktion und Zusammensetzung ist eines, die Zeit kein lineares Fortschreiten, sondern ein Kreislauf, vielleicht auch ein ansetzen und abbrechen, stets jedoch nie nur eines. Kentridge fragmentiert und kombiniert immer wieder neu, er löst auf und baut zusammen, er lässt den Zufall regieren, etwa ist den Figuren und Worten, die verbrannte Schnipsel auf der Leinwand bilden und verschwinden lassen. Die Unsicherheit, das Dazwischen findet sich überall: in der Musik Philip Millers, die mal minimalistisch verwirrt, mal afrikanische Rhythmen zitierend, mitreißt; in den Worten Kentridges, die Geschichten erzählen, Wissenschaft wiedergeben oder pures Sprachmaterial sind; in den Bewegungen, Tänzen, im Bewegtwerden von Dada Masilo; in den sich überlagernden visuellen Ebenen von Kentridges Zeichnungen, Schattenspielen und Installationen.

Nichts ist nur eines, alles ist auch sein Gegenteil. Das klingt ungeheuer verkopft und sperrig – und wirkt doch so leicht, so natürlich, so unterhaltsam gar. Denn eines macht William Kentridges Kunst eben auch aus: das ständige Infragestellen auch seiner selbst, die Ironie auch dem eigenen Schaffen gegenüber, der spöttische, aber immer auch warme Blick auf Welt, Kunst und Ich. Refuse The Hour ist ein spielerisches Experiment, von Neugier durchpulst wie vom Spieldrang, ein chaotisches, zuweilen fast dadaistisches Durcheinander disparat erscheinender Kunstformen, die einander befeuern, aufheben, überlagern, die sich verstärken, visuell, akustisch, rhythmisch oder Konfusion stiften, die aufbauen und erschaffen oder stören und einreißen. Die Ordnung der Zeit, die Übersichtlichkeit des Raums werden sabotiert mit dem Trotz eines Kindes, dem die Logik der Vernünftigen zu langweilig ist. Doch dieses “Kind” entdeckt, dass diese Vernunft eben nur eine Möglichkeit von vielen ist, dass im “unsaying”, im “unremembering”, im Umkehren der Zeit, im Widerstand gegen ihre Ordnung Freiheit liegt – der Kunst, des Menschen, des Lebens. Freiheit ist Unsicherheit. Und Schönheit. “Truth is beauty, beauty truth”, lautet ein mantrahaft wiederholtes Credo. So ist es. Und natürlich ist es nicht so.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/12/truth-is-beauty-oder-nicht/
Leserkritiken: Ubu and the Truth Commision
Foreign Affairs 2016 – Handspring Puppet Company / William Kentridge / Jane Taylor: Ubu and the Truth Commision (Regie: William Kentridge)

Der Geier ist schon da. Auf der linken Bühnenseite wartet er auf Beute. Aber nein, weder die geschäftige Hausfrau noch der abgehalfterte Mann im Unterhemd denken auch nur daran, sich zum Aasfresser-Futter machen zu lassen. William Kentridge verfrachtet Alfred Jarrys moderne – und um einiges blutigere – Wiedergänger des Ehepaars Macbeth ins Südafrika der jüngsten Vergangenheit. Er (David Minnaar) ist ein Scherge des Apartheid-Systems, der unzähliche Menschen auf dem Gewissen hat, was ihn aber nur insofern stört, als man ihn womöglich dafür zur Verantwortung ziehen könnte. Sie – in einer spannenden Volte von der schwarzen Schauspielerin Busi Zukufa in traditionell anmutender Kleidung gespielt – verdächtigt ihn des Fremdgehens und nutzt die Wahrheit, als sie diese entdeckt, für ihre Zwecke aus. Am Ende segeln sie in eine glänzende Zukunft, nachdem er vor der Wahrheitskommission ausgesagt hat und ungeschoren davon gekommen ist. Der Geier geht leer aus, die Leichen sind schon längst entsorgt.

Es ist kein hoffnungsfrophes Bild, das Kentridge von dieser Institution zeichnet, die Nelson Mandela einst ins Leben rief, um die Vergangenheit aufzuarbeiten und zugleich das gespaltene Land zusammenzubringen. Kentridges Verdikt ist kein positives: Ja, die Stimmen der Opfer werden gehört, aber die Täter kommen davon. Das klingt ein wenig vereinfacht und das ist es leider auch. Die Zeugen werden von Puppenspielern gegeben – sie sind wenig mehr als Objekte, als Fälle in den Augen der Öffentlichkeit. Sie wurden benutzt und sie werden es auch heute. Die Distanzierung hat einen eindeutigen Effekt: So schrecklich die Geschichten sind, so wenig gehen sie nahe. Das mag Absicht sein, zumal der Fokus auf dem Täter und seinem Umgang mit der Vergangenheit liegt. Nur führt das eben dazu, dass die Opfer eben Mittel zum Zweck bleiben, Anlässe für den Mörder sich in Albträumen zu wälzen, die er so schnell abschüttelt wie sie kamen. Die Objektifizietung der Opfer gehört zu den Problemen dieses abends ebenso wie das doch eher, sagen wir, traditionelle Frauenbild. Mama Ubu ist eine cholerische, eifersüchtige und gerissene Matrone ohne auch nur einen Hauch von Tiefe, die ihrem Mann zumindest zugestanden wird. Sie zetert und keift und lässt sich nicht ernst nehmen. Ihr Mann dagegen ist etwas komplexer angelegt, auch wenn die Figur zwischen trotziger Selbstbehauptung und plakativem Heimgesuchtwerden keine Mitte findet.

Da kann Kentridge noch so viele durchaus eindrucksvolle Bilder für das Verdrängte und Vertuschte finden – die Folterszenen mit Schattenfiguren aber ohne Folterer gehören sicher zu den eindringlichsten – der Abend bleibt an der Oberfläche und erfreut sich an seinen Einfällen: den Zwitterwesen aus Raubtier und Bürokratenkoffen, der lebensgroßen schwarzen Ubu-Figur, die als Anwalt des Pragmatischen auftritt, den sich vor Scham wegdrehenden Mikrofonen bei der Rechtfertigungsrede des Schlächsters.- Am Schluss bleibt die Ironie: Das Gerede von der “hellen Zukunft” erweist sich als Farce, den Tätern geht es besser denn je. Ubu and the Truth Commission ist ein Abend, der vor Ideen sprüht, der multimedial und auf mehreren Ebenen daherkommt, bildende Kunst, Schauspiel, Video und Puppenspiel verzahnt und die Kunst als großen Lügenzertrümmerer feiert. Doch leider ist er auch eher unterkomplex geraten, arbeitet sich an seiner Grundthese – die Wahrheitskommission als Feigenblatt der Täter – während er sich für die Vielschichtigkeit der Institution und auch ihrer durchaus verdienstvollen Rolle nicht weiter interessiert. Für Kentridge-Fans bietet er sicher genug für den kleinen Kunst-Hunger zwischen durch. Ob er sättigt, ist eine andere Frage.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/15/der-geier-muss-warten/
Leserkritiken "Bessere Zeiten", Berlin
Alexander Vaassen: Bessere Zeiten, Theater O-Tonart, Berlin (Regie: Alexander Vaassen)

Von Sascha Krieger

Was machen Schauspielstudent*innen in den Sommerferien? Klar: Sie spielen Theater. Zumindest gilt das für vier von ihnen, die gerade ihr zweites Jahr an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch” hinter sich haben. Alexander Vaassen gehört zu diesem Jahrgang, er hat Bessere Zeiten geschrieben und inszeniert, drei seiner Kommiliton*innen als Darsteller*innen gewonnen, dazu kommt eine Studentin des Fachbereichs Puppenspiel, die bereits eine Schauspielausbildung hinter sich hat. Ein kleines Sommerprojekt, bei dem man sich ausprobieren und, was man im Fußball Spielpraxis nennen würde, sammeln kann? Nein, das wäre viel zu einfach. Stattdessen überrrascht Vaassen im Programmheft mit einem Appell für ein neues Theater, ein Theater der Verständlichkeit, das die gesellschaftlichen Zusammenhänge aufdeckt, die kapitalistische Konsummaschinerie, die längst auch die Kunst in ihrem Würgegriff habe, entlarvt und aufdeckt, an welchen Schnüren wir alle zappeln. Das ist nahe an Bernd Stegemanns Realismusbegriff, der denn auch im Programmheft nicht fehlen darf. Mehr Ambition geht kaum.

Doch dann blickt man auf das Stück und treibt sich verwundert die Augen: Ein Konversationsdrama haben wir vor uns, zwei Paare, eines erfolgreicher gehobener Mittelstand, das andere prekäre Künstler-Ehe. Man trifft sich jede Woche und hat sich doch schon längst nichts mehr zu sagen. Schnell brechen Konflikte auf, versagen die Verdrängungsstrategien, bröckelt die Fassade, bis sie einstürzt. Es ist ja schon fast langweilig, diesen Vergleich anzustellen, aber hier schreit alles: Yasmina Reza! Das dürfte auch Vaassen aufgefallen sein, also dreht er die Plot-Schraube noch ein bisschen weiter. Natürlich hat man sich schon gegenseitig betrogen, einer der Freunde hat den anderen einst aus der gemeinsamen Firma gedrängt und bietet ihm jetzt Geld für Sex mit der Frau. Am Ende nimmt er Rezas Der Gott des Gemetzels wörtlich und veranstaltet ein solchen. Nicht aber, bevor das gemeine westliche Mittelstandsleben mit einer Hybrid-Schallplatte verglichen wurde: zwei Plattenhälften aufeinandergeklebt. Disparates ohne Mitte. Wir Wohlstandsnachjager und -verweigerer leben, als würden die südamerikanischen Ureinwohner ihre spanischen Schlächter selbst zu sich einladen. Starker Tobak.

(...)

Was den Abend dann doch immer wieder zumindest kurzzeitig rettet, ist das Ensemble, das sich lustvoll in jede Wendung wirft und auch das Abgründige stets mitdenkt. Am stärksten bleibt mit Vincent Redetzki einer in Erinnerung, der umfangreiche Film- und Theatererfahrung (als teenager spielte er mehrfach bei Falk Richter) mitbringt. Seine fiebrige Nervosität, die wiederholt kippt – in Resignation, kindischen Trotz, groteske Verzweiflung – erzählt mehr von der Fragilität postmoderner Lebensentwürfe, von denen man halb spürt, dass sie auf Sand gebaut sind, und die man doch nicht loslassen kann, weil man keine Alternative weiß. Busch-Rektor Wolfgang Engler schreibt im Programmheft: “Man kann nicht sehen, was man nicht sieht. Nicht sehen zu wollen, was man nicht sehen kann ist das Drama des mittleren Bürgers”. Es ist in Redetzkis Spiel wie auch in denen Tabitha Frehners und Laura Waltz’, ja sogar in Augenblicken des Stinkstiefels Levin, dargestellt von Daniel Séjourné, dass diese Bodenlosigkeit zwischen Plattenstapeln und Ledersofa fühlbar wird. Da wird dann auch die Wurst, welche die Gastgeber reichen – Wurst, nicht mehr, eigentlich auch ein nettes Bild – zur Metapher für das Durchwursteln, die Wurstigkeit, die dünne zivilsatorische Fassade des hier Verhandelten. “Ich hoffe, die Wurst schwitzt nicht”, heißt es am Anfang. Vielleicht wäre es besser, sie täte es.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/30/ich-hoffe-die-wurst-schwitzt-nicht/
Leserkritik: Der Ignorant und der Wahnsinnige, Salzburger Festspiele 2016
In 24 Stunden war alles vorbei!

Bernhards "Der Ignorant und der Wahnsinnige" bei den Festspielen in Salzburg

Nur dafür von Aachen nach Salzburg? Hatte zu Hause Peymanns (* 7. Juni 1937) Inszenierung aus dem Jahr 1972 auf DVD mit Angela Schmid (Königin der Nacht), mit Ulrich Wildgruber (Vater), mit dem jungen Bruno Ganz (* 22. März 1941) als Doktor, Maria Singer (Frau Vargo), Otto Sander (Kellner Winter) immer wieder angesehen. Peymann ließ wohl Bruno Ganz einen intellektuell arroganten manchmal aber fast auch sakralen Sprachausdruck wählen, arm an Gesten, die Sprache aber wie ein Seziermesser führend.
Gerd Heinz, gerade einmal drei Jahre jünger als Peymann, in einem anderen Jahrhundert und zuletzt von der Opern-Regie kommend, spricht vom „Ausdruck der Schizophrenie einer Kultur, die sich von aller Natur losgesagt hat. Und wir erleben ein artifizielles Sprachspiel, eine Oper für Schauspieler, die nicht nur lustvoll die Zauberflöte dekonstruiert und parodiert, sondern die es schafft, den trockenen Inhalt eines Pathologiebuches in Arien zu verwandeln und das gesamte Sprachmaterial des Stückes mit Mitteln der musikalischen Rhetorik strukturiert und so der Molltonart der Dunkelheit die Durtonart der gelungenen Dichtung, des heiteren Musizierens an die Seite stellt.“ Dafür wurde in Sven-Eric Bechtolf (*1957 und fast doppelt so alt wie 1972 Bruno Ganz)) in der Rolle des Doktors der passende Darsteller gefunden. Opulent die Sprache, gestenreich sein Spiel, das ihn manchmal in einen Rausch geraten lässt.
Die Frankfurter Rundschau vom 15. August hält Sven-Eric Bechtolf vor, er entwerfe „einen Doktor, der illustrativ bis in die allerletzte Geste selbst die zynischen Weltbeschreibungen auf Gartenzwerggröße herunterbricht.“
Etwas versöhnlicher in der Nachtkritik vom 14.08.20016: „ … nach der Pause quasi eine 180-Grad-Drehung, wenn plötzlich das Gallige, das Angriffige durchschlägt. Kinder und Narren, auch Wahnsinnige sagen die Bernhard'sche Wahrheit ... An seinen Lippen hängt Christian Grashof als Vater der Sängerin. Mit Fingern und Händen zeichnet er nach, was er vor dem blinden Auge zu sehen meint, mit den Lippen formt er die Rede des selbsternannten Anatomie-Kunstmenschen nach. Wie aufgestaut platzen die einzelnen Wörter und Sätze aus ihm heraus. Das muss einer auf Langstrecke so konsequent und dicht durchkriegen!“
Die Neue Züricher Zeitung vom 16.08.2016: „Letztlich war es aber auch egal, wie der Regisseur dieses Spiel um künstliche Kunst und menschliche Vergänglichkeit deutet, denn im Mittel- und Vordergrund stand ohnehin nur einer: Sven-Eric Bechtolf als Doktor – und mithin als der «Wahnsinnige» [Anmerkung vom Leserbriefschreiber: Der Ignorant] – hat sich in seinem letzten Jahr als künstlerischer Leiter der Festspiele nochmals einen Herzenswunsch erfüllt und ist als Schauspieler zurückgekehrt ins Theater. Wer ihn dort vermisst hat, bekommt hier die geballte Ladung seines Könnens serviert, das vor allen Dingen darin besteht, an selige Bühnenzeiten zu gemahnen, da die Rampensau noch eine höchst angesehene kulturelle Persönlichkeit war.“ Eine Rampensau, die beim Schlussapplaus von meiner Nachbarin, einer Salzburgerin in der ersten Reihe, ein dreifaches „Hurra“ zugerufen bekam. Man hoffe, ihn weiter auch als Schauspieler sehen zu dürfen.
Die Frankfurter Allgemeine (15.08.2016): „Dafür, dass Gerd Heinz in den vergangenen drei Jahrzehnten hauptsächlich Musiktheater in Szene gesetzt hat, sieht man an diesem Abend erstaunlich wenig von der Zauberflöte.“ Und weiter, so „hat er [der Arzt] leichtes Spiel, einerseits etwa den verdatterten Fastblinden auf einen freien Tisch im Gastronomietempel zu knallen und eine Vivisektion an ihm vorzutäuschen oder andererseits mit der Koloraturmaschine einige gewagte Tangoschritte anzudeuten, um sich sodann in die Faust zu beißen, als es ihm nicht gelingt, mit dem Objekt seiner Altherrenbegierde nach Paris zu reisen. Alles viel zu brav, viel zu vorhersehbar.“Ich weiß nicht, was einige Kritiker gesehen haben wollen, was sie über Bernhard und Bechtolf denken, so wie es Gerd Heinz inszeniert, sollte man dieses Stück, das erstaunlicherweise nach seiner Entstehung Endes des Zwanzigsten Jahrhunderts, auch noch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhundert seine Aussagekraft behalten hat.
„Das Licht ist ein Unglück“, lässt Bernhard den Doktor sagen und wenn er seinen Titelhelden „Bruscon“ im „Theatermacher“ sprechen lässt: „Wie gesagt, in meiner Komödie hat es am Ende vollkommen finster zu sein, auch das Notlicht muss gelöscht sein, vollkommen finster, absolut finster. Ist es am Ende meiner Komödie nicht absolut finster, ist mein Rad der Geschichte vernichtet …“ Bernhard selbst schrieb nach der Uraufführung von "Der Ignorant und der Wahnsinnige": „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus.“
Dass es ausgerechnet der Intendant der Salzburger Festspiele war, der in der Neuinszenierung von Gerd Heinz die zentrale Rolle des “Doktors” übernahm, ist ein doppelter Glücksgriff. Zum einen hat die Versöhnung mit dem bissigen Stück des “Alpen-Beckett” (Zitat: Martin Walser) damit mehr Gewicht. Zum anderen ist Bechtolf nach wie vor ein großartiger Bühnenschauspieler. Mag sein, dass er durch seine Regiearbeiten und Verpflichtungen als Intendant wenig Zeit hatte, seine Sprache zu pflegen, Sprechübungen zu praktizieren und konkrete Bühnenluft zu atmen. Aber mit jeder Zeile Bernhard’scher Wutkaskade kam Bechtolf besser ins Spiel, wurde eins mit Körper und Geste und transportierte diese außergewöhnliche Sprach-Musik punktgenau ins Publikum.
Als das gleissende Licht, vor dem die Bühne mit den Schauspielern wie ein schwarzer Scherenschnitt wirkte, plötzlich erlosch, war ich in der 1. Reihe wie blind. Aber vielleicht wirkte das bei einigen Kritikern in der Loge ganz anders.
Großes Theater!
Leserkritiken: "Othello" im Theaterdiscounter
Othello, Theaterdiscounter

Fabian Gerhardt straffte den Eifersuchts-Klassiker „Othello“ auf 90 Minuten und verteilte alle Rollen auf vier Schauspieler.

Im Mittelpunkt stehen Othello, den Jochen Weichenthal als tapsiges, gutmütiges Riesenbaby anlegt, und seine Desdemona, die von der Mexikanerin Elena Manzö in einem Sprachen-Mix aus Deutsch und Spanisch und im fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadium gespielt wird.

Fabian Raabe versprüht als Jago sein intrigantes Gift, schlüpft aber im nächsten Moment in die Rolle der Kurtisane Bianca, die sich im Abendkleid auf Männerfang begibt. Die meisten Rollenwechsel legt Anton Weil aufs Parkett: er glänzt als schnippisch-stolze Emilia, die sich von ihrem Mann Jago vernachlässigt fühlt. Außerdem spielt er den naiven Rodrigo, der in jede Falle tappt, und den alkoholisierten Cassio.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/01/othello-im-theaterdiscounter-mit-udk-absolventen/
Leserkritiken: Until our hearts stop / A song to, Tanz im August, Berlin
"Tanz im August": "Until our hearts stop" (Volksbühne) und "A song to" (HAU)

Die Szenenfolge „zwischen Yoga, Zauberei und Ritual“ hat keinen klaren roten Faden: das Menschen-Knäuel auf der Bühne schlägt sich und verträgt sich wieder, kommt zum Small-Talk ins Publikum, bietet Zigaretten, Wasser und Geburtstagskuchen an und rettet sich in die nächste, oft recht alberne Varieté-Nummer.

Einen besonderen Moment gibt es beim Gastspiel von "Until our hearts stop" an der Volksbühne doch noch: Kurz vor Ende kommt der Schauspieler Kristof van Boven im klassischen Smoking als Conférencier auf die Bühne. Er war seit 2011 in der Ära von Johan Simons im Ensemble der Münchner Kammerspiele, wo das Stück „Until our hearts stop“ im Juni 2015 uraufgeführt wurde, bevor sich Simons zur Ruhrtriennale verabschiedete.

Wie es der Zufall will, stammt van Boven aus Lier, einer Kleinstadt bei Antwerpen mit etwa 35.000 Einwohnern. Der prominenteste Sohn dieses Ortes ist: Chris Dercon, Rotes Tuch für die eingeschworene Volksbühnen-Gemeinde und Adressat mehrerer offene Briefe, seitdem ihn Kulturstaatssekretär Tim Renner als Nachfolger am Rosa-Luxemburg-Platz ausgerufen hat.

Die letzte Spielzeit der Ära Castorf beginnt also mit Sticheleien gegen Kuratoren, Eventbuden und Publikums-Erwartungen, die der belgische Gast von Boven mit Unschuldsmiene und lässig ans Klavier seiner Begleitband gelehnt vorträgt. Der große Jubel am Ende galt wohl vor allem auch diesen süffisant-frechen Bemerkungen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/05/tanz-im-august-endet-mit-a-song-to-und-our-hearts-stop/
Leserkritiken: Furcht und Ekel in der BRD, Marburg
Hessisches Landestheater Marburg - Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute
Ich habe ein Wochenende in Marburg verbracht und noch eine Karte für die Premiere von „Furcht und Ekel. Das Privatleben glücklicher Leute“ ergattert. In der Black Box im Marburger Theater war das Publikum ganz nah bei den Schauspielern und damit auch ganz nah bei der Handlung und bei den Emotionen. Es gab Szenen, in denen wir gemeinsam Spaß hatten und laut gelacht haben. Aber es gab noch viel mehr ernste Szenen. Und es gab Szenen, die erschreckt haben. Da ich das Stück von Dirk Laucke vorab gelesen hatte, wusste ich aber in etwa, was mich erwartet. Die gut zwei Stunden dauernde Vorstellung (ohne Pause) verging unheimlich schnell. Es gelang der Regisseurin Fanny Brunner und vor allem auch den Schauspielern, mich zu fesseln, von Anfang an. Die Schauspieler spielten mit einem Engagement und einer Inbrunst, wie ich es selten gesehen habe. Und das trifft auf alle Schauspieler zu, ausnahmslos.
Ganz besonders hervorheben möchte ich die Musik. Dem jungen Musiker Jan Preißler, selbst während des ganzen Stückes auf der Bühne dabei als roter Teufel oder als Narr – das kann man sehen, wie man will – ist es gelungen, das Spiel der Schauspieler durch seine teils wilde, teils aber auch ruhige melodiöse Musik noch zu unterstreichen. Dabei stammen auch die Texte der Lieder aus seiner Feder. Durch die Musik war das Stück für mich rund.
Das war die Premiere. Das Theater war so voll, dass ein Teil der Zuschauer auf den Stufen neben den Stühlen Platz nehmen musste. Dieses Stück ist es wert, dass es auch zu den weiteren Vorführungen gut besucht ist.
Ich kann es nur empfehlen.
Buch. Berlin (5 ingredientes de la vida), Berlin
"BUCH. Berlin (5 ingredientes de la vida)´", Deutsches Theater Berlin/Kammerspiele

An den Schauspielerinnen und Schauspielern liegt es nicht an: Wiebke Mollenhauer brüllt sich mit spitzen Schreien die Seele aus dem Leib. Benjamin Lillie singt auf Schwedisch. Und auch seine drei Kollegen aus dem DT-Ensemble (Linn Reusse, Jörg Pose und die schon erwähnte Wiebke Mollenhauer) haben tolle Gesangs- und Gitarrensoli.

Einem gelungenen Theaterabend würde nichts im Wege stehen, wenn die Schauspieler einen besseren Text sprechen dürften als diese fünf Bruchstücke von "Fritz Kater" alias Armin Petras.

Ausführlichere Kritik: https://daskulturblog.com/2016/09/25/buch-berlin-tilmann-koehler-inszeniert-am-deutschen-theater-den-text-von-fritz-kater-alias-armin-petras/
Leserkritiken: der thermale widerstand, DT Berlin
Ferdinand Schmalz: der thermale widerstand, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Matthias Rippert)

der thermale widerstand ist ein schwieriger Zwitter: Natürlich birgt das Stück allein sprachlich reichlich komödiantisches Potenzial, lässt es sich natürlich als Satire auf den Selbstoptimierungswahn und den damit verbundenen Zwang, alles müsse einen Zweck haben, auch und gerade der menschliche Körper und seine Pflege, lesen, Aber natürlich ist seiner Grundthese auch ernst gemeint, eine doch recht schlichte Kritik am Turbokapitalismus und seiner Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche. Wo auch immer man den Schwerpunkt setzen möchte: Die Untergründigkeit, der gähnende Abgrund unter den Wortspielen, die Doppelbödigkeit jenseits der rein sprachlichen Ebene, die Schmalz’ frühere arbeiten zumindest zum Teil auszeichneten – hier sucht man sie vergeblich. Matthias Rippert, Regisseur der deutschen Erstaufführung, behauptet sie trotzdem.

Selina Trauns Bühne ist zunächst eine Art Schaufensterfront klaustrophobischer Rückzugsorte, die längst zum Gefängnis sich verbarrikadiert habender Besitzstandswahrer geworden sind. Das biedere Verwaltungsbürochen, die sinnentleerte Schwimmbadandeutung, die leere Sauna – sie sind Schauplatz eines düsteren Psychothrillers mit unheilvoll grollendem Soundtrack, der sogleich zu seiner eigenen Parodie gerinnt. Angespannt und hypernervös schwitzen die grotesken Figuren vor sich hin, eingeschränkt in ihrem Bewegungsrepertoire, mechanisch gesteuerte Puppen ihrer gleichermaßen engstirnigen Weltanschauungen. Spätestens wenn sich Roswitha und Hannes eindrucksvolle anbrüllen, wird klar: In ihrer selbstgefälligen wie selbstsüchtigen Verbohrtheit nehmen sich beide Seiten nichts. Auf die moralische Parteinahme, die sich aus Schmalz’ Text noch herauslesen lässt, verzichtet Rippert in seiner düsteren Farce, die seinen Figuren viel Raum zum Karikieren lässt. Harald Baumgartners sinister schnoddriger Masseur Leon, Michael Goldbergs trauriges Alt-Bademeisterwürstchen Walther, Anne Kulbatzkis immer am Rande der Panik entlangschrammende Roswitha oder Daniel Hoevels fanatisierter Bademeister-Rebell Hannes schaut man gern und mit wachsender Faszination zu. Dass die von Linda Pöppel gespielte Konzernvertreterin in ihrer bizarren Verzerrung und den Logo-Tattoos ein wenig arg abziehbildhaft daherkommt, verzeiht man ebenso schnell wie die Tatsache, dass der Hydrogeologe Dr. Folz, dargestellt von einem arg hibbeligen Thorsten Hierse, hier irgendwie keinen Platz finden will.

Rippert tut gut daran, sich grundsätzlich skeptisch zu zeigen: dem von Schmalz ironisierten Kulturkampf gegenüber ebenso wie der moralischen Ernsthaftigkeit, die immer wieder durch den Text durchscheint. Wenn Hannes Kreidekreis-haft fordert: “Die Bäder denen, die baden gehen!”, lässt Rippert den Satz mit der leeren Phrasenhaftigkeit stehen, die ihm angemessen ist. Der Abend dekonstruiert alle Seiten und stellt eine Horror-Farce auf die Bühne, die Lächerlichkeit und Gefährlichkeit ideologischer Fanatisierung – am Ende gibt es als einzig wirkliches Bad ein Blutbad – gleichermaßen aufzeigt, aber immer auch ein Augenzwinkern bereithält. Am Ende will der thermale widerstand vor allem eines: unterhalten. Und das tut er reichlich in diesen kurzen 60 Minuten. Dass der Erkenntnisgewinn eingeschränkt und die Dekonstruktion des Textes wenig Substanz übrig lassen, ist einkalkuliert und schmälert den Spaß des Zuschauers nicht. Vielleicht muss das Theater auch nicht immer die großen Menschheitsprobleme lösen und reicht manchmal eine streckenweise mitreißende Genreparodie. Vielleicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/01/blutbad-in-phantomscheise/
Leserkritiken: La dictadura de lo cool - Die Diktatur der Coolness, HAU Berlin
"La dictadura de lo cool - Die Diktatur der Coolness" von "La Re-sentida" beim Festival "Ästhetik des Widerstands - Peter Weiss 100" im HAU 2

Wenn „La-Resentida“ mit seinem Turbo-Brachialtheater auf die Tube drückt, verblassen daneben Castorfs Volksbühnen-Exzesse zu einer zen-buddhistischen Meditation.

In ihrem neuen Abend am HAU lassen sie es über weite Strecken etwas ruhiger angehen, aber ihr Thema ist geblieben: ihre Wut über eine kraftlose linke Boheme, die es sich auf Partys und mit Kunst-Installationen bequem macht, anstatt gegen die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich zu kämpfen.

In Berlin freute man sich besonders über die Darstellung eines neuen Kulturministers, der zugleich ein ambitionierter Kurator ist. Er ist fleißig damit beschäftigt, die Leitung der kulturellen Einrichtungen in neue, am liebsten fachfremde Hände zu legen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/01/aesthetik-des-widerstands-das-hau-erinnert-mit-zwei-auftragsarbeiten-umstrittener-kuenstler-an-den-hundertsten-geburtstag-von-peter-weisss/
Leserkritiken: der thermale widerstand, DT Berlin
"der thermale widerstand", Deutsche Erstaufführung, Box des Deutschen Theaters Berlin

Der 1985 geborene Österreicher, der unter dem Pseudonym Ferdinand Schmalz schreibt, bleibt auch in „der thermale widerstand“ seinem Rezept aus dem „herzerlfresser“ (Premiere in der Box des Deutschen Theaters im November 2015) treu. Er mixt eine saftige Sprache mit grotesken Figuren und mehr als einer Prise Kritik an Auswüchsen des Turbo-Kapitalismus.

Dem neuen Bademeister Hannes (Daniel Hoevels) sind die auf Profit-Maximierung getrimmten Wellness-Center, in denen moderne Großstädter und andere „überlastete Selbstausbeuter_innen“ (Dramaturg Joshua Wicke im Programmheft) den Glücksversprechen hinterherjagen, ein Dorn im Auge. Er möchte, dass im friedlichen Kulturbad alles beim Alten bleibt.

Damit kommt er zwei Frauen in die Quere, die dort den Ton angeben: der Unternehmensberaterin (Anne Kulbatzki, die mit Regisseur Matthias Rippert bereits am Wiener Max Reinhardt-Seminar zusammengearbeitet hat) und der Geschäftsführerin Roswitha (Linda Pöppel mit ihrem Debüt als DT-Ensemble-Mitglied). Hannes ist mit seinen strammen Bademeister-Waden für sie ein unberechenbarer Querbetreiber und kein Schluffi wie die anderen drei Männer, die sie fest im Griff haben: die beiden altgedienten Masseure Leon und Walther (Harald Baumgartner und Michael Goldberg, die auf die komisch-kauzigen Rollen am Deutschen Theater Berlin abonniert sind) und ein Geologe (Thorsten Hierse).

In einer Parodie auf Thalheimers „Medea“-Inszenierung rückt die Wand mit den Waben, in denen die Schauspieler sitzen, stehen oder herumlungern, vor allem aber schwitzen, immer dichter an das Publikum in der ersten Reihe heran. Dazu wummern die Bässe bedrohlich. Klar, dass es für Hannes kein gutes Ende nehmen kann und das Blut nur so spritzt, bis die Übriggebliebenen endlich ihren Traum von einem Tropical Island-Spaßbad umsetzen können.

Die offensichtlich von Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ inspirierte Vorlage von Ferdinand Schmalz ist kein großer Wurf, bietet aber dem Ensemble genug Stoff für amüsante Szenen. Kurzweilige Unterhaltung. Die Aufführung dauert nur eine Stunde und ist ein launiger Auftakt für den Start ins Wochenende am Freitag Abend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/01/der-thermale-widerstand-deutsche-erstauffuehrung-am-deutschen-theater-berlin-im-schwitzkasten/
Hedda Gabler, Berlin: Leserkritik
"Hedda Gabler", Schaubühne am Lehniner Platz

Mit „Hedda Gabler“ wurde die Schaubühne am Lehniner Platz zum bisher letzten Mal zum Theatertreffen eingeladen. Elf Jahre liegt die Premiere (25. Oktober 2005) mittlerweile zurück.

An diesem verlängerten Wochenende wurde die Inszenierung wiederaufgenommen und wirkt keineswegs angestaubt. Es ist vor allem der Abend von Katharina Schüttler: ihre Hedda ist ein schnippisches, narzisstisches Ekel. Kühl berechnend hat sie sich Tesman, einen drögen Geisteswissenschaftler im Wollpulli (Lars Eidinger), geangelt. Attraktiv findet sie an ihm nur, dass er eine gut dotierte Professur in Aussicht hat und im Vertrauen darauf schon mal ein luxuriöses Eigenheim mit langen Glasfronten finanzierte.

(...)

Das bekannte, nur leicht aktualisierte Ibsen-Drama nimmt seinen Lauf: bei Ostermeier hat Eilert Løvborg (Kay Bartholomäus Schulze) sein neues Buch auf dem Laptop, den Hedda mit dem Hammer zertrümmert und dann auf dem Grill röstet.

Im starken Schlussbild liegt Katharina Schüttler blutverschmiert im Séparée. Im Salon gehen Brack, Tesman und Thea Elvstedt (Annedore Bauer) achselzuckend zur Tagesordnung über. Tesman und Elvstedt rutschen auf Knien über den Fußboden und versuchen in das Zettelchaos, das Løvborg hinterlassen hat, Ordnung zu bringen. Brack fühlt sich in seiner Lieblingsposition pudelwohl – fläzend auf dem Sofa.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/04/hedda-gabler-mit-lars-eidinger-und-katharina-schuettler-wiederaufgenommen/
Leserkritik: Selbstbeschwichtigung, Berlin
Selbstbeschwichtigung, Turbo Pascal:
Die Gruppe Turbo Pascal, von der ich zuletzt die wunderbaren 'Algorithmen' gesehen habe, hat dieses Jahr über eine Website Schuldgeständnisse und Selbstbezichtigungen gesammelt und ihre Beute jetzt in den Sophiensaelen auf die Bühne gebracht.
Es ist ein runder, kleiner Abend geworden: die über 500 kleinen Beichten sind auf identisch große Kartons ausgedruckt und als begehbarer Zengarten über den Raum verteilt, nach Kategorien geordnet. Die drei Performer durchschreiten diese Beete, pflücken einzelne Aussagen und setzen sich gemessen und ritualisiert damit auseinander. Das ist mal berührend, mal komisch, nie hämisch. Schon nach 60 Minuten endet der performative Teil, das Publikum begibt sich selber auf den Weg der kontemplativen Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen.
Leider ist es so, daß einem viele der Geständnisse bekannt vorkommen, oder sie letztlich banal sind. Ganz sicher die Folge davon, daß die Beträge dann doch aus einer homogenen Gruppe von Mitte-Berlinern kommen, deren erste Welt-Probleme einfach die dramatische Fallhöhe vermissen lassen. Schön aber, daß natürlich das Publikum genau aus diesen Menschen besteht, die etwas verlegen in den Spiegel blicken dürfen. Mir hats gefallen.
Leserkritiken: 2 Uhr 14, Deutsches Theater Berlin
2 Uhr 14, Box des Deutschen Theaters Berlin/Junges DT

Das Stück „2 Uhr 14“ vibriert 70 Minuten lang in der Box des Deutschen Theaters Berlin vor Energie. Sinnbildlich stehen dafür die weißen Lamellen, die fast ständig in Bewegung sind und dem Publikum vor den Augen flirren, bis sie Kopfschmerzen verursachen.

Durch diese Lamellen zwängen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler auf die Bühne: sie erzählen von ihren Pubertätsnöten.

Die Bühne gehört diesem Nachwuchs. Die beiden erwachsenen Profischauspieler sind nur die Side-Kicks. Jens Schäfer spielt den Lehrer Denis. Sein Burn-out sitzt ihm in jeder Pore und ist in jeder Szene zu merken. Judith Hofmann, die einzige Schauspielerin aus dem DT-Ensemble, sitzt als bleicher Schatten meist am Rand – mal links, mal rechts, immer von der Trauer um den Verlust ihres Sohnes nach einem Amoklauf gramgebeugt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/09/2-uhr-14-das-junge-dt-ueber-pubertaetsnoete-und-einen-amoklauf/
Leserkritik: Die Brüder Brasch, Berlin
"Die Brüder Brasch", Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin

Nur zwei kleine Tische für vier Personen: So minimalistisch ist das Bühnenbild für die Collage „Die Brüder Brasch“, die am Wochenende wieder in den Kammerspielen des Deutschen Theaters zu sehen war.

Eigentlich sollten dort vier Schauspielerinnen und Schauspieler Platz nehmen. Da aber Simone von Zglincki krankheitsbedingt ausfiel, las neben Daniel Hoevels, Ole Lagerpusch und Katrin Wichmann diesmal Marion Brasch selbst.

Die Radio Eins-Journalistin erzählte in ihrem 2012 erschienen Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ vom Drama ihrer Familie und gestaltete diesen anderthalbstündigen Abend „Die Brüder Brasch“.

(...)

Marion und Lena Brasch bastelten aus Videoeinspielern und Textausschnitten der drei Brüder eine sehens- und hörenswerte Collage, die von der Bolschewistischen Kurkapelle Schwarz-Rot musikalisch begleitet wird. Anfangs findet man sich noch schwer zurecht, da der Abend recht unvermittelt mit zwei Figuren aus Brasch-Texten beginnt, die sich gegenseitig anzicken. Erst dann wird das Panorama der drei Brüder klarer und vor allem auch für jene interessant, die sich bisher noch gar nicht oder nicht intensiv mit der Künstler-Familie aus der DDR auseinandergesetzt haben.

Dieser Stoff wäre ideal für ein gemeinsames Projekt des Regie-Duos Jürgen Kuttner/Tom Kühnel, die sich einmal pro Spielzeit am Deutschen Theater in einer Revue mit politisch aufgeladenen Zeitreisen befassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/10/die-brueder-brasch-collafge-in-den-kammerspielen-des-deutschen-theaters-ueber-eine-kuenstlerfamilie/
Leserkritik: Exit Ayahuasca, Ballhaus Ost
Przemek Zybowski: Exit Ayahuasca, Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Tobias Yves Zintel)

Gut, beginnen wir mit dem Titel: “Exit” ist der Name einer Schweizer Sterbehilfeorganisation, die auch Deutsche, in deren Land Sterbehilfe jeder Art nach wie vor verboten ist, beim selbst gewählten Freitod begleitet. “Ayahuasca” ist eine der Bezeichnungen für einen stark halluzinogenen Pflanzensud, der von einigen indigenen Stämmen Südamerikas für Heilungs- und und Reinigungsrituale eingesetzt wird. Beide Begriffe bilden die Pole der Rahmenhandlung des abends, wenn man das narrative Fragment um den deutschen Rentner Kurt Widmer so nennen will. Dieser hat mindestens einen Herzinfarkt hinter sich, möchte aus dem Leben scheiden und hat dazu eine Exit-Mitgliedschaft erworben. Die Sterbehilfe wird ihm jedoch verweigert, weil ihm Psychiater nicht bescheinigen wollen, geistig gesund zu sein. Eine von ihnen nimmt ihn dann mit nach Südamerika, wo sie Ayahuasca-Rituale durchlaufen, er eine Todeserfahrung macht und ihr Leben sich grundlegend verändert. Ein Plausibilitätspreis lässt sich mit dieser Geschichte sicher nicht gewinnen, das wird Autor Przemek Zybowski aber kaum stören, schließlich sind ihm Handlung und Figuren weitgehend egal. Er braucht sie nur, um irgendeinen narrativen Aufhänger zu haben, der das Publikum animiert, sich knapp eineinhalb Stunden mit schamanischer (Pseudo-)Medizin zu befassen.

Die eigentliche Hauptfigur ist denn auch nicht Widmer (seltsam aufgekratzt: Johannes Suhm) oder die hyperstoische Ärztin Dr. X (Tamara Saphir), sondern der finnische (!) Schamane, mit vollem Körpereinsatz und meist blanker Brust gespielt von Rasmus Slätis. Er gibt den Conférencier, lädt das Publikum zu Atemübungen ein, um dann das Programm der folgenden “Sitzung” vorzustellen. Die Idee, diese als Rahmen zu setzen und das Publikum damit quasi zu Beteiligten zu machen, vergisst der Abend ziemlich schnell, wie er ohnehin ein wenig sprunghaft und – der Seitenhieb sei erlaubt – kurzatmig daherkommt. Unmotiviert die Übergänge zwischen szenischem Spiel und Erzählebene, die mal aus dem Off, mal von einer der Darsteller*innen absolviert wird, es wird vom Bewusstsein der Pflanzen und der Kommunikation der DNS-Stränge schwadroniert, die Metamorphonse des Schmetterlings wie in einem VHS-Vortrag langatmig erläutert, bis auch der letzte begriffen hat, hey, die Verwandlung der Raupe in die geflügelte Schönheit ist eine Metapher!

Philip Wiegard hat ein hübsches Bühnenbild aus bunten Gummischläuchen gebastelt, die zu Tunneln, Raupenkörpern und gar einem Videoscreen werden. Dazu ein transparenten Schamanenzelt, in dem Steev Lemercier schön esoterisch singt. Regisseur Tobias Yves Zintel arbeitet hart an einer entsprechenden Stimmung, die an einer Stelle in Richtung von Shakespeares Zauberern weist – mit Text aus Macbeth und einer netten Tempest-Anspielung – aber auch das ist so schnell verpufft, wie es kam. Das Magische, Sinnerweiternde, Erfahrungsprengende wird versucht zu visualisieren und endet in Klischeebildern indigener Medizinmänner, zuckenden Körpern und neckischen Metamorphosen im Zusammenspiel zwischen Mensch und Gummischlauch. Die Schulmedizin ist der Feind des Abends: Sie kommt daher als engstirnig totalitäre Disziplinarkommission und als Seil, das ihr Opfer fesselt und an der Entfaltung hindert. Viele Bilder probiert der Abend und durchschreitet dabei das weite Spektrum zwischen plump und hilflos. Und wenn dann am Ende plötzlich eine Metaebene eingezogen wird, die drei Darsteller*innen das gerade gezeigte abfällig als übertrieben abtun, um am Ende durch den langen Raupengang zu entschwinden, dann entfleucht mit ihnen alle vorherige Sinn- und Substanzbehauptung dieses Abends, der in keinem Moment zu wissen scheint, was er eigentlich sagen möchte. Das ist natürlich auch eine Metamorphose.

Quelle: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/14/gib-gummi-schamane/
Leserkritik: Rechte Reden, Gorki Theater Berlin
"Rechte Reden", Studio Я/Gorki

Die Gorki-Kolumnistin Mely Kiyak und Thomas Wodianka, der Experte für Wutbürger-Reden im Gorki-Ensemble, präsentierten im Studio Я einen besonderen Abend: 75 Minuten lang bombardierten sie das Publikum in dem vollbesetzten Raum mit einer geballten Ladung „Rechte Reden“.

Genauer gesagt: Mit O-Tönen aus der AfD. Passagen von Alexander Gauland fehlte zwar, ansonsten war alles vertreten, was Rang und Namen hatte: Frauke Petry, Beatrix von Storch, Björn Höcke. Aber auch Leute aus der zweiten Reihe wurden zitiert: z.B. die Landesvorsitzenden André Poggenburg, Petr Bystron oder Armin-Paul Hampel.

Während Kiyak die Reden eher zurückhaltend vortrug, schlüpfte Wodianka als Parodist in die Rollen der AfD-Politiker. Die Publizistin Liane Bednarz, die sich sehr intensiv mit den verschiedenen Strömungen (klassische Rechtspopulisten und nationale Rechte) befasste, zollte ihm im anschließenden Nachgespräch Respekt, wie präzise er die Gestik und Mimik von Bystron getroffen habe.

Die szenische Lesung war so aufgebaut, dass Kiyak und Wodianka zunächst Statements von Pressekonferenzen oder den großen Pegida-Kundgebungen in Dresden oder vor dem Erfurter Dom zitierten. Danach folgten Ausschnitte aus Kyffhäuser-Reden, wo die AfD-Vertreter unterhalb des Radars öffentlicher Aufmerksamkeit noch ungeschützter über ihre Ziele redeten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/10/14/rechte-reden-performance-aus-afd-zitaten-im-gorki-studio/
Leserkritik: Kein Ort.Finsternis, Hamburg/Berlin
Frei nach Motiven von Christa Wolf: Kein Ort.Finsternis, LICHTHOF Theater, Hamburg / Theater unterm Dach, Berlin (Regie: Anne Schneider)

Die Realität ist für die Leidenden verzerrt, der feste Boden des Faktischen zu einer bedrohlichen Kippfigur geworden. Wie das dreidimensional verbogene Quadrat aus Holzlatten, das den Mittelpunkt der Bühne (Ausstattung: Giulia Paolucci) bildet. Die vermeintlich so klar strukturierte Welt ist eine ins Rutschen geratene. Man kann sich vorsichtig auf ihr entlang robben, hochklettern und absteingen, vielleicht auch einmal vorsichtig balancieren – festen Halt gibt sie nicht. Zumal das Bretterkonstrukt zuweilen auch die Anmutung von Gitterstäben gewinnt. Die Welt als Gefängnis – keine ganz originelle Metapher für depressive Zustände. Kleist (bis zur Teilnahmslosigkeit sachlich: Rainer Strecker) und Günderrode (sehr dominant und überraschend optimistisch auftretend: Judith Rosmair) bewegen sich auf ihr und außerhalb, die versuchen sich in der Realität zu halten und kommen doch auch außerhalb ihrer ins Schwanken. Die restlichen vier Darsteller*innen sind mal die gesichtslose Gesellschaft, dann wieder die innere Dämonen der Gepeinigten. In sparsamen, von Victoria Hauke erarbeiteten, Choreografien suchen die Körper krampfhaft Bewegungsraum zu finden, später gar mit einander zu kommunizieren und kommen doch nicht heraus aus ihren Korsetten. Eindrucksvoll Haukes sich windendes physisches gegen sich selbst Ankämpfen auf einer Plattform mit Bodenmikrofon. Da wird der Körper und das Scheitern an der Welt und der eigenen Inkompatibilität mit dieser, die aus ihr und durch ihn spricht, zum Instrument, die Depression zu non-verbaler Sprache, das Leiden zu Klang, das Nichtakzeptierte zu greifbarer Realität.

Ein zwingend eindringliches Bild, das Episode bleibt, wie auch die körperliche ebene meist Beiwerk ist. Denn der Abend ist vor allem eines: Sprache. Das ist per se nicht schlecht, schließlich liefert Christa Wolfs vielschichtige Prosa durchaus ein komplexes, von Untiefen nur so strotzendes Spielfeld, das Schneider, Strecker und Rosmair leider viel zu oft links liegen lassen. Die Unmittelbarkeit, die Hauke erzeugt, findet sich im Rest von Kein Ort.Finsternis kaum. Auch, weil sich der ausführlich gesprochene, meist distanziert rezitierte und kaum gespielte Text, immer wieder gegen seine Interpretation stäubt. Denn die Geschichte der Unangepasstheit zweier unabhängiger Geister, ihr Zweifeln am Selbst und Ringen mit der Welt ist bei Wolf eben keine der Depression, auch wenn sich in beiden Hauptfiguren sicherlich Züge depressiver Erkrankungen erkennen lassen. Und so entweicht irgendwann der thematische Rahmen kaum merklich, emanzipieren sich Text und Sprache von ihrer Reduktion auf die eine Ebene, ohne dass sie den Raum erhalten, auch einmal um die Ecke zu schauen. Das Ergebnis ist eine gewisse Blutleere, die der thematisierten Krankheit nicht unangemessen ist, um sich selbst aber nicht so recht zu wissen scheint. Das Lachen, das am Ende durch die Finsternis klingt, ist kein Erhellenden, sondern ein aufgesetztes, ein falscher Hoffnungsschimmer, auch weil es nichts mehr hat, wogegen es anrennen kann.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/17/das-kippen-der-welt/
Stören, Berlin: Leserkritik
Sina Gürler und Ensemble: Stören, Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Sina Gürler)

Die Frau als Objekt, als Betrachtetes, Bewertetes, Einzuordnendes. Darum geht es in Stören, der ersten Regiearbeit Sina Gürlers auf der “großen” Gorki-Bühne nach mehreren Arbeiten mit dem Jugendclub “Die Aktionist*innen” des Theaters. Sechs Darstell*innen wühlen, kämpfen, schlagen sich durch individuelle wie kollektive Erfahrungen: der breitbeinig im U-Bahnwagen sitzende Mann, die objektifizierenden Blicke, die sexistischen Sprüche, das Gefühl, nicht zu genügen, die Gesellschaft, die der Frau die Verantwortung zuschreibt, die angst, die aus jedem Mann ein potenzielles Monster macht, die Schwierigkeit, sexuelle Belästigung als solche zu sehen. “Warum habe ich eigentlich so lange gebraucht zu begreifen, dass das Grenzüberschreitungen sind”, fragt eine. Am Ende der leeren Bühne ist eine halbhohe Mauer aufgestellt. Diese zu erklimmen, bereitet Mühe. Immer wieder rennen die Darsteller*innen gegen sie an scheitern, versuchen es wieder, bis sie oben sind. Irgendwann sind sie oben, alle, sich ihrer selbst bewusst, ihrer Stärke, ihrer Schwächen, ihres Potenzials.

Und drehen den Spieß um: Mit einiger Wut und einem gehörigen Schuss an beißend spöttischem Humor stellen sie den Sexismus des alltags aus, sie stellen Szenen nach, probieren Rollen aus und wechseln die Perspektiven. Etwa in der unglaublich intensiven Passage, in der die einzige Trans-Darsteller*inn ihre Identitätsreise in Stenoform von den anderen Spieler*innen vortragen lässt. “Ich will halt nicht als Frau gelesen werden, sondern als Ich”, heißt es da. “Ich will eindeutig uneindeutig sein.” Ein Wunsch, nein, eine Forderung, welche die anderen durchaus teilen. Die Raus wollen aus Rollenzuschreibungen, raus aus den Schubladen und einfach nur rauf auf die gleiche Ebene, mit denen, die diese Zuschreibungen vornehmen. Jene, die die Angst erzeugen, sie denen, die sie zu Opfern machen, einimpfen und sich am Ende als Beschützer aufspielen. Die nicht nachdenken, was sie tun, und damit soviel anrichten. “Sollen jetzt die Typen anfangen zu denken oder hörst du damit auf?”, lautet die Schlüsselfrage. Sie bedarf keiner Antwort.

Stören ist eine 75-minütige Tour de Force durch die Abgründe alltäglicher Welterfahrung, der Frauen und Mädchen jeden Tag ausgesetzt sind, unbemerkt zuweilen gar von sich selbst und fast immer von denen, die sie umgeben, die ihnen einreden wollen, es läge an ihnen, etwas dagegen zu tun. Der Abend ist ein Erkenntnislabor, ein Akt des Widerstands, ein trotziges Aufbäumen widerspensitiger Selbstbehauptung. Stellvertretend erobern sich diese sechs Spieler*innen zwischen 18 und 24 diese Bühnen, die die Welt ist oder zumindest Deutschland, machen sie zu ihrem Ort, ihrem Diskurs-, Reflexions- und Spielraum, zu ihrem Erfahrungslabor und zum Spiegel, den sie uns, dem Publikum, der Gesellschaft vorhalten. Und was sehen wir darin: Eine Welt, die längst zum alltäglichen Spießrutenlauf geworden ist, derer, die das herrschende zum “schwachen” Geschlecht auserkoren hat, derer, die ringen mit den Rollen, die ihnen gegeben sind, und die aus diesen ausbrechen. “Einfach ein bisschen größer denken”, fordern sie zum Schluss, wollen sich nicht mehr klein machen lassen, sich nicht verbergen und verbiegen. Sie erklimmen die Mauer, richten sich auf und springen hinab. In die Welt, die sie zu ihrem Ort zu machen entschlossen sind. Wie? Keine Ahnung. Am besten einfach etwas größer denken.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/20/einfach-ein-bisschen-groser-denken/
Leserkritik: Imitation of Life, HAU Berlin
Kornél Mundruczó / Proton Theatre: Látszatélet / Imitation of Life, Proton Theatre, Budapest / Wiener Festwochen / Hebbel am Ufer, Berlin / Theater Oberhausen (Regie: Kornél Mundruczó)

Regisseur Kornél Mundruczó, der in seinen Arbeiten das moderne Ungarn als Psychothriller, als subtile Horrorstory erzählt, nimmt sich hier zurück. Er lässt die Augen seiner Protagonistin erzählen, ihre Stimme, geht nah heran, zu nah fast, bis aus dem klaren Blick wieder nur ein Fragment geworden ist. Wenn sich der Blick weitet, die Leinwand fällt, bleibt die enge. Eine verlebte Wohnung mit hohen Fenstern, bröckelndem Putz und den Überresten von Jahrzehnten Lebens hat Márton Ágh gebaut, zwei kleine, nicht getrennte Räume, Hort kleiner Träume, die hier wenig mehr tun können als ersticken. Wenn die Leinwand hochfährt, ist die Energie der alten Frau versiegt. Sie strauchelt, sinkt zusammen, der Mann ruft einen Notarzt und muss hören, dass "solche Fälle" keine Priorität haben. Alltagsrassismus in seiner klarsten Form. regen fällt, aus dem Nebel der Erinnerung schälen sich Bilder, der letzte Kontaktversuch der Mutter mit dem sie verleugnenden Sohl. Dann kippt die kleine Welt. Der nun leere Bühnenraum beginnt sich zu drehen, die Möbel geraten ins Rutschen, Küchenschränke geben ihren Inhalt preis, altes Spielzeug verteilt sich im Raum, Elektrogeräte hängen nur noch an ihren Kabeln. Das Leben wird zum Trümmerfeld, zur Müllhalde, auf der sich alsbald eine alleinerziehende Mutter einrichten Muss, zur Unterschrift genötigt vom gleichen Vertreter der Macht, der zuvor der Mutter zusetzte.

Ganz am Ende kehrt die Leinwand wieder. Da ist es die Handykamera eines kleinen Jungen, Sohn der neuen Bewohnerin, die ein Gesicht einfängt. Ein jüngeres und doch gezeichnetes. es ist das des verlorenen Sohnes, der zurück ist in der Wohnung der nun toten Mutter, wobei diese Rückkehr, auf Videowänden links und rechts des nun offen sichtbaren Bühnenraums projiziert, irgendwo zwischen (Alb-)Traum, Geistergeschichte und Zeitreise anzusiedeln ist. Vielleicht gehört dieses Gesicht einem Gespenst, einer Körper gewordenen Anklage, die nun stumm in die Kamera schaut. Längst ist die große Videowand wieder heruntergefahren, das Gesicht nurmehr Projektion. Auf ihm erscheinen Worte, eine Geschichte, die so im vergangenen Jahr in Budapest passiert ist. Da wurde ein junger Rom mit einem Schwert angegriffen und schwer verletzt. Der Täter, der, so mutmaßte man, aus rassistischen Motiven handelte, entpuppte sich ebenso als Rom.

Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will. Und hinhören: Das leblose Lärmen des sich über die Bühne ergießenden gelebten Lebens, des Übriggebliebenen von denen, die längst vergessen sind, vergessen werden sollen – es ist kaum zu ertragen. Die tödliche Kälte einer Macht, die Menschen gegeneinander ausspielt, die Diskriminierung als Instrument ihrer eigenen Sicherung und Vermehrung nutzt, sie ist zu fühlen. Wenn der Regen fällt, wird es kalt im Raum, greift so mancher Zuschauer zur Jacke. Sie wärmt nicht angesichts dieser Miniatur des Leidens, dieser kalten Selbstverständlichkeit der Ausgrenzung, des ineinandergestürzten, zusammengefallenen Lebens. Der Witz des Beginns ist eisiger Starre gewichen, der finale Blick des jungen Mannes leer, geschlagen, besiegt, aussortiert. Die Wut, die dieser Anblick erzeugt, verweigert der Abend. Er zwingt sie dem Zuschauer auf und lässt ihn damit allein. Das ist nicht angenehm und darf es auch nicht sein. Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer. Großen Theater kann das.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/10/29/ausgekipptes-lebens/
24+, Berlin: Leserkritik
Russischer Theaterfrühling: "24+" (Teatr.doc aus Moskau zu Gast im Theaterforum Kreuzberg)

Besonders gespannt durfte man auf das Stück „24+“ sein: erstens wurde es im Programmheft als das „wohl meist diskutierte Stück der russischen Theater-Saison“ angekündigt, zweitens stammt es vom Teatr.doc, das mit experimentellen, Putin-kritischen Stücken seit 2002 für Wirbel sorgt und immer wieder mit Schikanen des Staatsapparats zu kämpfen hat.

Michail Ugarow, künstlerischer Leiter und Mitbegründer des Theaters, entwickelte mit seinem sehr jungen Ensemble und Meisterschülern der Moskauer Schule für Neues Kino einen Abend über eine „ménage à trois“.

(...)

In langen Monologen, die während des fast zweistündigen Stücks meist frontal auf Stühlen ins Publikum gesprochen werden, verhandeln die jungen Großstädter ihre Beziehungsprobleme zwischen Experimentierfreude, Wut, Eifersucht und Scheitern. Mit russischer Simultanübersetzung und recht assoziativ nimmt dies seinen Lauf.

Am Rande wird eine Bemerkung über den Kampf für die Meinungsfreiheit eingestreut, den ein befreundeter Blogger des Trios führt. Ausführlicher sprechen die drei Hauptfiguren darüber, dass sie mit dem Leistungsdruck einer Gesellschaft, die ein „Schneller, höher, weiter“ fordert, und den propagierten Rollenbildern von Männlichkeit unzufrieden sind.

„24+“ ist ein interessanter Einblick in das aktuelle Schaffen der russischen Theaterszene, für Berliner Verhältnisse – vor allem gemessen an den Ankündigungen – jedoch enttäuschend konventionell geraten.

Komplette Kritik:https://daskulturblog.com/2016/11/01/24-das-teatr-doc-aus-moskau-zu-gast-in-berlin/
Leserkritiken: Caligula in Basel
"Caligula" im Theater Basel, Schauspielhaus

Die Bühne im Schauspielhaus Basel ist auf ein kleines Dreieck zusammengeschrumpft. Auf engstem Raum und fast ohne Requisiten inszeniert der italienische Regisseur Antonio Latella den „Caligula“ von Albert Camus als Kammerspiel.

Thiemo Strutzenberger ist in der Titelrolle ein früh gealterter, schwermütiger Mann, der in den Abgrund blickt und alle um sich herum mit in die Tiefe reißt. An diesem Abend ist deutlich zu spüren, in welchem historischem Kontext Camus dieses Drama schrieb: eine erste Fassung erarbeitete zu Beginn des 2. Weltkriegs bis 1941, die Endfassung wurde noch düsterer und 1945 in Paris uraufgeführt.

Strutzenbergers „Caligula“ ist ganz anders als der Springteufel Max Wagner in der Inszenierung des Münchner Volkstheaters von 2o14. Fast schon apathisch steht er in dert Szenerie und befiehlt ganz beiläufig die Enteignung der Patrizier und die Ermordung seiner Freunde und Gegner.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/11/12/caligula-von-albert-camus-als-melancholisch-philosophisches-kammerspiel-in-basel/
Leserkritik: Cabaret, Magdeburg
Cabaret / Premiere am Theater Magdeburg
Kurze Rückmeldung nach der Premiere am 12.11. in Magdeburg: Ich habe dieses Musical noch nie so düster, Brecht-like und politisch gesehen. Eine herausragende Inszenierung auch für Musical-"Hasser". Und eigentlich ein Muß für alle Populisten und deren Anhängern derzeit....
Leserkritiken: "Unter Eis" in der Schaubühne Berlin
"Unter Eis" von Falk Richter, Schaubühne am Lehniner Platz

Nach längerer Zeit ist im Saal C der Schaubühne wieder Falk Richters Frühwerk „Unter Eis“ zu sehen. Das Stück stammt aus dem Jahr 2004: Gerhard Schröder setzte damals gegen Proteste aus der eigenen Partei und die Montagsdemos seine „Agenda 2010“ mit Hartz IV durch, bevor er ein Jahr später abtreten musste. Fast in jeder Talkrunde von Sabine Christiansen wurde darüber debattiert, wie man die „Deutschland-AG“ für den Weltmarkt fit machen könne. Die öffentliche Debatte wurde von den Sprechblasen der Unternehmensberater dominiert.

Falk Richter und sein Dramaturg Jens Hillje ließen ihre drei Schauspieler Thomas Thieme, Mark Waschke und André Szymanski an einem langen Konferenztisch mit Hochglanz-Glasfläche Platz nehmen. Das Publikum wird mit den Worthülsen des McKinsey-Sprechs bombardiert, dazwischen liest Thomas Thieme längere Monologe der Hauptfigur Paul Niemand: mit Mitte 40 spürt er den Atem der ehrgeizigen Schnösel in seinem Nacken und blickt zurück auf sein bisheriges Berufsleben: sein Hetzen von Gate zu Gate, von Termin zu Termin. Jetzt hat er den Abstieg vor Augen: statt London, Paris, New Yorkl nur noch Bremen, Kiel, Oldenburg, Fürstenfeldbruck. Er bleibt einfach sitzen, als sein Name am Flughafen ausgerufen wird.

Falk Richter gelang es in diesem Stück am Beginn seiner Karriere noch nicht so gut, seine Stoffe zu einer so packenden Gesellschaftsanalyse wie in „Never Forever“ oder „Fear“ zu verdichten. In der ersten Stunde wird zu frontal und mit zu wenig Reibung der Manager-Sprech heruntergebetet. Im letzten Drittel wird Jan Pappelbaums Bühne von Video-Einspielern glatter Wolkenkratzer-Fronten überschattet, André Szymanski übt sich in einer längeren Szene als Robbe und quält sich über die Eiswürfel auf der Tischfläche.

Die titelgebende Metapher „einer Katze, die aus einem hohen Gebäude geschleudert einer zufrierenden Wasserfläche entgegenfällt, bevor sie in ewiger Erstarrung fossilisiert“ fand der Deutschlandfunk-Kritiker schon nach der Premiere zurecht etwas angestrengt.

Im Programmheft wird Marc Bauder gedankt: Er ist ein sehr genauer Beobachter der Parallelwelt hinter den Glasfassaden. Vor kurzem war in der ARD sein Film „Dead Man Working“ zu sehen, vor allem lohnt sich sein Dokumentarfilm „Master of the Universe“.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/11/19/unter-eis-falk-richters-unternehmensberater-portraet-an-der-schaubuehne/
Leserkritik: Körper, Berlin
"Körper" von Sasha Waltz & Guests im Haus der Berliner Festspiele

Diesem Stück eilt ein Ruf voraus: „Körper“ von Sasha Waltz & Guests ist die erfolgreichste Inszenierung der Choreographin und gastierte in vielen Städten weltweit. Dieses Stück war im Januar 2000 eine der beiden Eröffnungspremieren der neuen Leitung der Schaubühne am Lehniner Platz war, die Sasha Waltz damals gemeinsam mit Thomas Ostermeier und Jens Hillje übernahm.

„Körper“ wurde damals gleich zum renommierten Theatertreffen eingeladen und sorgte wohl vor allem deshalb für Furore, da es einen starken Bruch mit der Schaubühnen-Tradition von Peter Stein und Andrea Breth markiert.

Wie wirkt das Stück heute? 16 Jahre nach der Premiere an der Schaubühne und 6 Jahre nach der letzten dortigen Aufführung ist diese Arbeit wieder in Berlin zu erleben – allerdings nach einem Zerwürfnis zwischen Thomas Ostermeier und Sasha Waltz nicht am Ort der Uraufführung, sondern im Haus der Berliner Festspiele.

Das Stück hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Sicher gelingen den 13 Tänzerinnen und Tänzern einige starke Momente.Insgesamt fehlt der Arbeit der rote Faden. Assoziativ kreist „Körper“ um sein Thema und reißt einige Facetten an. Es geht um den Marktwert von Körpern in der Werbung, springt weiter zum Organhandel und kehrt immer wieder zur Orientierungslosigkeit des Individuums in einer unübersichtlicher gewordenen Welt zurück, wie sie schon oft in Choreographien und Performances beschrieben wurde.

Sasha Waltz verzichtete im Gegensatz zu anderen Arbeiten bewusst auf eine stringente Erzählung, bietet stattdessen kurze Szenen und Splitter, die für vielfältige Interpretationen offen sind. Zwangsläufig läuft der knapp 80minütige Abend Gefahr, zu sehr zu zerfasern.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/11/25/koerper-die-beruehmte-choreographie-von-sasha-waltz-ist-zurueck-in-berlin/
Leserkritiken: Affe, Neuköllner Oper
Nur ganz kurz: gestern abend 'Affe' in der Neuköllner Oper gesehen. Herrlich! Gut arrangiert, gesungen, getanzt und gespielt, mit viel Energie und alles live. Die Rahmenhandlung ist ausgesprochen clever und daher nicht einfach nur eine beliebige inhaltliche Verknüpfung von Erfolgsliedern, sondern in sich überzeugend. Ich war also aufs angenehmste überrascht und wurde (wie auch meine Teenager-Kinder) gut unterhalten.
Leserkritiken "König Ubu", DT Berlin
König Ubu, Deutsches Theater Berlin.
Lange nicht mehr so befreiend gelacht, die Groteske 'König Ubu' wird von András Dömötör und seinem Team auf angemessene Weise inszeniert: immer voll in die Fresse. Das Tempo ist hoch, die Spielfreude zu greifen, unglaubliche Mengen an Ideen aus Populär- und Gamingkultur, und dabei dennoch immer ein glückliches Händchen, die Motive und Zwischentöne auszuarbeiten. Es ist teilweise ungeheuer plakativ und vulgär, aber die Schauspieler schaffen es immer, sauber umzuschalten, die Facetten zu zeigen. Für mich große Kunst.
Und außerdem: keine Angst vor niemand! Wenn man schon die Bühne hat, kann man es auch raushauen und nicht nur das eigene Spielzeitmotto, sondern auch das deutsche Theater, das Deutsche Theater, sich selber, das Ensemble und Ulrich Matthes ('Man stirbt nicht auf der Hinterbühne!') ordentlich durch den Kakao ziehen. Bevor dann die ganze Riege aktueller Rechtspopulisten als Pappkameraden ihr verdientes Schicksal erleiden ("Skandal!", Zeitungsname einsetzen). Kluges und witziges Theater, mehr davon!
Leserkritik: Dantons Tod, Berlin
Georg Büchner: Dantons Tod, Schaubühne am Lehniner Platz (Studio), Berlin (Regie: Peter Kleinert)

Von Sascha Krieger

Die Revolution ist ein Rocksong. Punkrock, um genau zu sein, oder doch besser eine schöne Bluesnummer? Wie wäre es mit etwas Elektropop? Ach ja, ein Klavier ist auch da. Sprechen wir doch einfach durch die Musik. Was, die Angebetete versteht “Ich liebe dich wie mein Grab” nicht als Kompliment? Moment, schnell die Gitarre hervorgeholt, einen Song geschrieben und schon sagt sich alles viel besser. Und selbst wenn die Angesprochene noch immer schmollt – dann haben wir immerhin einen coolen Song gehört. Und schreit “French Revolution 1989” nicht gerade nach einem Rap oder einem schmissigen Gitarren-Riff? Neun Studierende der Hochschule für Schauspielkunst “Ernst Busch” versuchen sich an Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod und machen es zum Rockkonzert. Mit zuweilen mehr Enthusiasmus als Talent – das Gitarrenspiel Jonas Dasslers oder die Klavierkünste Esra Schreiers mal ausgenommen – schrammelt man sich durch Gesellschaftliches und Persönliches. Die Idee, den zaudernden Danton jedesmal zur Gitarre greifen zu lassen, wenn er eigentlich handeln sollte, ist nett, Musik als eskapistische Verweigerung einer Entscheidung, einer Handlung, einer Parteinahme. Das ist hübsch gedacht und wäre um einiges wirksamer, wenn der Abend diese Bewegung nicht selbst nachvollzöge.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/12/06/terror-glutenfrei/
Leserkritik: Dantons Tod, Schaubühne Berlin
Dantons Tod, Schaubühne/Studio

Das Rededuell zwischen Danton und Robespierre darf auch in dieser Büchner-Inszenierung, die ansonsten oft sehr frei mit der Vorlage umgeht. Der Abend ist als Rockkonzert mit Schlagzeug, Keyboard und E-Gitarre angelegt und unterhält sein Publikum mit einem Stil-Mix aus Blues, Rap, Punk und Pop.

Manches wirkt noch etwas ungeschliffen und fahrig, nicht jeder Übergang zwischen Musikstück und Schauspiel-Text sitzt. Vieles scheint im spielerischen Proben-Rausch spontan erfunden und zu einer Revue zusammengepuzzelt. So dürfen Monika Freinberger und Lola Fuchs als Glamour-Girls durch den Abend zicken. Ihre Revolutionärs-Gattinnen Lucie und Camile erinnern eher an Spielerfrauen von Fußball-Promis als an Büchners Charaktere.

„Dantons Tod“ fehlt auch die Stringenz von Peter Kleinerts letzter Arbeit „Die Mutter“ an der Schaubühne, für die vor allem Ursula Werner als ruhender Pol und strenge Mutter der Kompanie sorgte. Auch wenn noch nicht alles perfekt ist – und wie könnte es das auch im 3. Studienjahr bereits sein – hat der Abend den Charme des Unfertigen mit einer coolen Truppe, der man gerne zusieht. „Dantons Tod“ ist ein Spaß für alle Beteiligten: für das Publikum wie für die Spieler auf der Bühne.

Als Hausherr Thomas Ostermeier 2001 kurz nach dem Start seiner Intendanz an der Schaubühne „Dantons Tod“ inszenierte, rümpfte Andreas Schäfer in der Berliner Zeitung die Nase, dass er „hauptsächlich abgestandenes Mineralwasser“ angeboten bekam. Mineralwasser ist diese neue Inszenierung auf der Studiobühne sicher nicht, eher ein kleiner Aperitif, der Lust auf mehr macht.

Kompletter Text: https://daskulturblog.com/2016/12/07/dantons-tod-rockkonzert-frei-nach-georg-buechner-von-studenten-der-hfs-ernst-busch/
Leserkritik: Affe, Berlin
"Affe", Neuköllner Oper

„Berlin, Du kannst so häßlich sein“: Wie wahr diese Klage von Peter Fox aus seinem berühmten Song „Schwarz zu blau“ ist, kann jeder hautnah erleben, der sich mit der U-Bahn vom Alexanderplatz über das Kottbusser Tor und den Hermannplatz zur Karl-Marx-Straße in Neukölln aufmacht.

Regisseur Fabian Gerhardt und Dramaturg John von Düffel ließen sich vom 2008 erschienen Album „Stadtaffe“ zu einem Horrortrip-Musical durch die Berliner Nacht inspirieren. Sie verbinden die Songs von Pierre Baigorry alias Peter Fox mit einer schlüssigen theatralischen Handlung um die Hauptfigur „F.“: Anton Weil, der mit seinem körperbetont-energiegeladenen Spiel schon in Fabian Gerhardts „Othello“-Inszenierung im Theaterdiscounter auffiel, zuckt und zittert sich 90 Minuten lang durch eine grauenvolle Nacht.

(...)

Der Spannungsbogen ließ sich nicht ganz über die 90 Minuten aufrecht halten, dafür ähneln sich die in den Songs transportierten Stimmungen und die hinzuerfundenen Spielszenen manchmal zu sehr. Aber nach diesen kleinen Durchhängern sind doch immer wieder kraftvolle Momente zu erleben.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/12/10/affe-horrortrip-nach-peter-fox-durch-die-berliner-nacht-an-der-neukoellner-oper/
Leserkritiken: "Stören"/Maxim Gorki Theater Berlin
"Stören", Gorki

Sechs wütende junge Frauen am Gorki: das Setting erinnert an die wütend aufstampfenden Twentysomethings in Sibylle Bergs „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“, einem Highlight im Repertoire des Hauses.

Tatsächlich hat eine der Schauspielerinnen des Berg/Nübling-Abends bei der Stückentwicklung „Stören“ Regie geführt: Suna Gürler erarbeitete den knapp 80minütigen Abend mit taffen, nicht-professionellen Frauen zwischen 18 und 24.

Ausgangspunkt sind die Alltagserfahrungen von Sexismus und sexuellen Übergriffen. Jede der Spielerinnen kann von schmierig-zotigen Anmachen oder der Angst davor, nachts alleine von der Party nach Hause zu gehen, berichten. Die Stichworte „Köln“ und „Silvester-Nacht“ schweben im Raum, werden aber – im Gegensatz zum Einführungstext auf der Webseite – im Stück nur ganz kurz explizit angesprochen. Dieses Eisen scheint immer noch zu heiß, um es an einem Theaterabend bearbeiten zu können.

Mit schwungvollen Choreographien und plastischen Schilderungen ihrer Erlebnisse umkreisen die Spielerinnen ihr Thema. Der Abend ist mit viel Leidenschaft einstudiert, hat aber auch einige Mängel. Das Sextett richtet es sich etwas zu gemütlich in einer „Gut-Böse“-Dichotomie ein, die sich vom Publikum unterhaltsam konsumieren und zu einfach „abnicken“ lässt, wie auch Georg Kasch in der Berliner Morgenpost und Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung kritisierten.

Das „Feindbild Mann“ wird lustvoll und sehr unterkomplex gepflegt. Die feministischen Schwarz-Weiß-Bilder durchbricht nur Transgender Chantal Süss. Ihre Pubertätserfahrungen, dass sie in keines der beiden Geschlechter-Rollenmuster passt, lässt sie von ihren Mitspielerinnen vorlesen: einer der nachdenklichen, ruhigeren Momente an diesem Abend.

Gegen Ende wiederholen die Spielerinnen mehrfach den Appell, dass sie „größer denken“ müssen. Sie tasten sich an grundlegende Probleme struktureller Gewalt heran und reflektieren darüber, was man konkret tun sollte.

Der Abend endet mit einer Reihe offener Fragen genau an der Stelle, wo es erst richtig spannend wird.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/12/13/stoeren-sechs-junge-frauen-setzen-sich-mit-sexismus-im-alltag-auseinander/
Leserkritik: BUCH. Berlin, Berlin
Fritz Kater: BUCH. Berlin (5 ingredientes de la vida), Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Tilmann Köhler)

Seine Berliner Inszenierung – der zweiten nach Petras’ Stuttgarter Uraufführung – eröffnet Tilmann Köhler mit einer sanft nostalgischen Shownummer. Die Utopien der versammelten Wissenschaftselite kommen vom Band, heraufbeschworen von Jörg Pose, einem stillen Illusionisten, der zu Siebziger-Jahre-Showmusik einen schrullig belächelten Reigen von Zukunftsszenaren vorführt, der in einem Gruppenbild mit Aliens endet. Der Glaube an den Fortschritt der Menschheit wird zum bestaunendswerten Jahrmarkts-Exponat, ein wenig lächerlich, aber gut gewollt. Ein stiller, sacht poetischer Auftakt, dem mehr als zwei Stunden Prosa folgt. Köhler stellt die einzelnen Teile nebeneinander, verweigert die Klammer. Die transparenten Szenenumbauten sind Programm, jeder Teil ist ein erneuter, zu scheiternder Versuch der Sinnnfindung. So bleibt der Abend im Anekdotischen: Die Sorgen der Kinder um das Verschwinden ihrer Sicherheit in einer Welt, in welcher der Vater sich zu Tode trinkt und die Mutter vielleicht schon im Westen ist, verkleinert er zu einer niedlichen Studie in kindlichem Sprechen, den Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn, der eigentlich ein Nebeneinander persönlicher und dem anderen nicht kommunizierbarer Sinnsuchen ist, macht er zum Rockkonzert. Die Distanz wird sicht- und hörbar, doch die Selbstzermarterung, die pubertäre wie die resignierte des gelebten Lebens, geht zu oft unter in natürlich stets passender musikalischer Entäußerung von Joy Division bis Bruce Springsteen. Dabei bleibt es oft beim Illustrativen. Ganz am Ende, da übernimmt der Vater-Darsteller Jörg Pose die Rolle des Sohnes von Benjamin Lillie, erinnert er sich an ein Leben in Erstarrung, wird es noch einmal essenziell. Doch der spannende Gesichtertausch verpufft, Pose ergeht sich in pseudo-verzweifeltem Gebrüll. Keine Wahrhaftigkeit nirgends.

Ähnlich kalt lassen die letzten zwei Teile. Für die Parabel von den Elefanten, denen der Mensch die Welt nimmt, findet Köhler weder Ton noch Bilder, Christoph Franken stampft, Linn Reusse rezitiert, die Metapher fällt in sich zusammen. Und auch das Kammerspieldrama der leidenden Eltern, die doch nicht zueinander kommen, weil jeder zu sehr in der eigenen Welt verhaftet ist – die Mutter in ihrem Schmerz, der längst in Selbstmitleid gekippt ist und nur der eigenen Sinngebung dient, der Vater in seiner Kunst, die Petras als puren Eskapismus und Verweigerung, sich seinem Selbst zu stellen, denunziert – wirkt seltsam blutleer. Wiebke Mollenhauer gibt die Mutter im weißen Ballerina-Kleidchen als sarkastische Anklägerin, die für den Mann nur noch Verachtung empfindet, Matthias Reichwald den Vater als hilfloses Weichei, bei dem die zitierten Worte hohl klingen, wie auswändig gelernt. Wenn Frankes Arzt als Clown daherkommt, wirkt das schon fast bemitleidenswert hilflos. Aufziehpuppen und Abziehbilder, die zweidimensional zu nennen, schon eine Übertreibung ist.

Tilmann Köhler inszeniert Katers Stück ohne Schnörkel. Direkt, kammerspielartig, reduziert. Er vertraut auf Katers Wort und findet dadurch nie zum Spiel. Und weil der Text eben ein narrativer ist, episch statt dramatisch konzipiert, bleibt er über weite Strecken leblos. Köhler verweigert ihm jegliche Lebendigmachung, sodass der gefühlt überlange Abend oft wenig mehr ist als eine szenische Lesung. Die Betrachtungen und Reflexionen zur Vergeblichkeit menschlichen Strebens verlieren sich irgendwo zwischen den – knapp drei Monate nach der Premiere – sehr leeren Sitzreihen. Bedeutung bleibt hier eine nie auch nur im Ansatz greifbare Illusion, ein Nichts, das vielleicht nur imaginiert ist. Damit ist die Inszenierung durchaus nah am Text – und doch in seinem ratlosen Nihilismus unendlich weit von ihm entfernt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/12/20/das-leben-ein-nichts/
Leserkritiken: Film "Sag mir nichts"
Minima Moralia - "Sag mir nichts"
Andreas Kleinerts Fernsehfilm „Sag mir nichts“ beginnt mit einem Schlag in die Magengrube. D. J. Frederiksson sprach in der Frankfurter Rundschau angesichts der „komplett wortlosen siebenminütigen Eröffnungssequenz“ „irgendwo zwischen Verfolgung und Verführung“ von einem „inszenatorischen Fanal“. „Kleinert inszeniert die ganze Sequenz wie einen Mord“. Wenn nicht so schlimm, so ist bei uns Korrekten sofort die Kölner Silvesternacht präsent: Das geht alles gar nicht! Und dann treffen sich eine Frau und ein Mann in ihrer Lust, die – so Adorno – „das schrankenlose Wegwerfen“ zur Voraussetzung hat. Dessen seien die Frauen „um ihrer archaischen Angst willen“ nicht mächtig. Diese archaische Angst wirft „weibliche Hingebung“ stets wieder auf die Situation des Opfers - als Objekt der Gewalt - zurück. Zur Emanzipation in unserer Gesellschaft gehört es, eine undurchdringliche Kälte um sich zu verbreiten, in deren Schutz wir gedeihen können.
Folgerichtig diagnostizierte D. J. Frederiksson im Umkehrschluss, dass in dem „inszenatorischen Fanal“ „keine Liebe stattgefunden hat, sondern eine Infektion“. „Die Lust, der sie sich so spontan hingeben, wirkt wie ein Virus, der beide überwältigt.“ Ja, wir glauben nicht mehr daran, wie vielleicht noch Adorno, dass „schrankenloses Wegwerfen“ möglich ist als „subjektive Fähigkeit zum Glück“ im Reich der Freiheit und der Liebe: „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren“. Wo du dich schrankenlos wegwerfen kannst, ohne in mißbrauchender Gewalt zu enden. Unser Unglaube macht uns kalt und untot, was wir uns nicht eingestehen dürfen. Wie perfekt uns dies gelingt, demonstrierte auch D. J. Frederiksson, die solche Reflexionen frontal abwehrt und auf das – schauspielerisch perfekt agierende – Paar Lena (Ursina Lardi) und Martin (Ronal Zehrfeld) zurück projiziert: „Wie Untote wühlen sie im Fleisch des anderen auf der vergeblichen Suche nach einem letzten Rest Leben“.
Im Verlauf von Andreas Kleinerts Film werden Lena und Martin bemerkenswert schonend behandelt, sie landen nicht als Kranke auf der Isolierstation oder als Verrückte in der geschlossenen Psychiatrie. Vielleicht wollte Kleinert uns eine weitere Adorno-Lektion erteilen: „Nur der liebt, wer die Kraft hat, an der Liebe festzuhalten. … Es ist die Probe aufs Gefühl, ob es übers Gefühl hinausgeht durch Dauer, wäre es auch selbst als Obsession“. Im Film hat Lena offenbar die Kraft zum Lieben, nicht jedoch Martin. Die „Gewährende“ ist wieder – wie „seit Urzeiten“ – die „Betrogene“. Und wir, die wir nie die Kontrolle verlieren dürfen, die wir nie den Keim (Virus !) des „schrankenlosen Wegwerfens“ in uns trugen, oder die ihn längst ausgemerzt haben, wir dürfen und wieder bestätigt fühlen.
Adorno hat seinen Aphorismus zum „schrankenlosen Wegwerfen“ mit „Darf ich’s wagen“ überschrieben, Faust und Margarete dienten ihm offenbar als Inspiration. „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“? Von wegen! Für uns heute ist Margarete auch nur eine vom Virus überwältigte Untote, deren Naivität wir verachten.
Leserkritike: König Ubu, Berlin
König Ubu, Deutsches Theater Berlin/Box

„Bitte, darf ich den König spielen“, kräht eine Uli Matthes-Maske dazwischen. Er hat doch bekanntlich schon den König Ödipus und den Macbeth auf der großen Bühne des Deutschen Theaters gespielt. Deshalb wäre es doch eine Majestätsbeleidigung, wenn er nicht den König in der Box des Deutschen Theaters sein Können zeigen dürfte.

Die drei Spielerinnen und Spieler des Abends (Elias Arens, Božidar Kocevski und Linda Pöppel) winken genervt ab und weisen die quengelnden Interventionen von Ulrich Matthes mehrfach ab („Nein, Uli, das geht nicht“), bis sie ihm doch nachgeben und ihn auf seinen geliebten Platz „Rampe Mitte“ zur Schlachtbank des Königsmords führen.

Nach dem Star des Hauses ziehen die unerschrockenen Drei die versammelte Internationale der Rechtspopulisten durch den Kakao: Marine Le Pen, Geert Wilders, Donald Trump und Victor Orbán, der Premier aus der Heimat des ungarischen Regisseurs András Dömötör, dürfen sich über die Parolen von „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ lustig machen und ein paar Sprüche klopfen. Der Kurzauftritt der Polit-Prominenz bleibt aber wesentlich handzahmer als erwartet.

Die bluttriefende, Shakaespeare-parodierende Handlung, die derbe Sprache, die schnelle Schnitte bieten dem spielfreudigen jungen Ensemble die Gelegenheit, sich nach Lust und Laune auszutoben. Der Regisseur und sein Ensemble haben sich einige amüsante Gags einfallen lassen, wie sie die berühmte „König Ubu“-Groteske von Alfred Jarry dem heutigen Publikum schmackhaft machen können.

Ein Skandal ist „König Ubu“ heute längst nicht mehr. 1896 war das Publikum so schockiert, dass das Stück sofort verboten werden musste. Am Deutschen Theater wird daraus ein lustiger Abend für die Nebenspielstätte auf der Hinterbühne: mit einigen Running-Gags zum Schmunzeln, mit einer starken ersten Stunde. Das letzte Drittel fällt dann allerdings ab: der Inszenierungsansatz ist ausgereizt, die Handlung schon fast auserzählt, das Trio hängt noch einige Publikums-Mitmachaktionen dran und beendet den Abend alberner, als er es verdient hätte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/04/koenig-ubu-in-der-box-des-deutschen-theaters-werden-uli-matthes-und-rechtspopulisten-durch-den-kakao/
Leserkritiken: "Krankheit der Jugend" / BE Berlin
"Krankheit der Jugend", Berliner Ensemble/Pavillon

Bürgerlich zu werden oder Selbstmord zu begehen – zwischen diesen Alternativen schwanken die Figuren in „Krankheit der Jugend“.

Bürgertum oder Suizid – diese beiden Scheinalternativen muten aus heutiger Sicht sehr befremdlich an. Die Generation der Digital Natives ist davon geprägt, dass ihr so viele Optionen und Lebensmodelle offen stehen wie kaum einer ihrer Vorgänger.

Theodor Tagger, damals Direktor des Berliner Renaissance-Theaters, traf jedoch einen Nerv seiner Zeit, als er unter dem Pseudonym Ferdinand Bruckner im Jahr 1926 von den Gefühls-Verwirrungen der Jugend zwischen den beiden Weltkriegen erzählte.

Am zeitgenössischsten wirkt die Figur des Freder: ein Langzeitstudent, der seine Mitmenschen um den Finger wickelt. Er wechselt ständig seine Sexpartnerinnen und manipuliert das etwas naive Zimmermädchen Lucy (eindrucksvoll-verträumt: Karla Sengteller), bis sie für ihn auf den Strich geht.

Es ist ein Höhepunkt dieser Inszenierung, wie sich Sven Scheeles Freder breitbeinig auf dem Sofa fläzt, sich den Raum nimmt und die weniger selbstbewussten Figuren, die noch nach ihrem Platz im Leben suchen, vorführt. Claus Peymann bewies mit dieser Neuverpflichtung für das Berliner Ensemble, dass er einen wachen Blick für vielversprechende Talente hat.

Ein zweites Kraftzentrum von Catharina Mays „Krankheit der Jugend“-Inszenierung im Pavillon des Berliner Ensembles ist Celina Rongen als Medizinstudentin Marie. Ihr Leben gerät völlig aus der Bahn: erst spannt ihr die Kommilitonin Irene (Marina Senckel) den Mann aus und angelt sich den zappelig-linkischen Möchtegern-Dichter Herrn „Bubi“ Petrell (Felix Strobel), dann scheitert auch noch ihre lesbische, die damaligen Zeitgenossen schockierende Affäre mit ihrer Mitbewohnerin Desiree (Larissa Fuchs).

Catharina May inszeniert ihre zweite Regie-Arbeit am Berliner Ensemble mit genau gezeichneten Figuren und lässt sich für das Ende eine dritte Variante statt der beiden von Bruckner alias Tagger überlieferten Fassungen einfallen. Das Publikum ist diesmal nicht so hautnah am Geschehen wie bei Mays Debüt, als sie Fassbinders Giftmord-Serie „Bremer Freiheit“ auf einem engen Steg mitten im Publikum platzierte. Hinzu kommt, dass der Stoff, den sie sich desmal aussuchte, aus heutiger Sicht etwas angestaubt und fremd wirkt. Deshalb hinterlässt „Krankheit der Jugend“ keinen so starken Eindruck wie ihr Erstlingswerk „Bremer Freiheit“ vom Mai 2016.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/07/krankheit-der-jugend-catharina-may-inszeniert-im-pavillon-des-berliner-ensembles/
Leserkritiken: Wuppertaler Tanztheater
Das Wuppertaler Tanztheater pflegt seine Tradition und erfindet sich gleichzeitig neu

Auch acht Jahre nach dem Tod von Pina Bausch reißt das Wuppertaler Tanztheater sein Publikum immer noch zu Beifallsstürmen hin. So wie jetzt wieder bei den restlos ausverkauften Aufführungen der Stücke „Palermo,Palermo“ und „Viktor“ im Wuppertaler Opernhaus. Beide Stücke entwickelten ihre Stoffe aus Recherchereisen nach Italien in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts: „Viktor“ wurde durch Rom beeinflusst, „Palermo, Palermo“, wie schon der Name sagt, von der sizilianischen Hauptstadt. Die beiden über dreistündigen Meisterwerke haben auch nach dreißig Jahren nichts von ihrer Opulenz und Wucht verloren, im Gegenteil, die historische Distanz offenbart einmal mehr, wie inhaltlich und ästhetisch zeitlos die Schöpfungen Pina Bauschs sind.

Die Qualität der Wiederaufnahmen zeigt, dass das Wuppertaler Tanztheater nach dem überraschenden Tod seiner Erfinderin und Leiterin im Jahr 2009 energiegeladen aus der Findungsphase für eine Neuausrichtung hervorgeht. Wer befürchtete, das Werk der Jahrhundert-Choreografin könne eines Tages im Musealen erstarren, wird jetzt eines besseren belehrt. Wie frisch und aktuell das Werk ist, zeigt sich auch daran, dass inzwischen rund ein Drittel des Ensembles aus jungen Tänzerinnen und Tänzern besteht, die nicht mehr mit Pina Bausch gearbeitet haben. Sie haben ihre Rollen mit Hilfe der älteren Ensemblemitglieder einstudiert, deren wichtigste Mission es zurzeit ist, den Geist der Stücke und die Rollen weiterzutragen. Das gelingt auf beglückende, niemals epigonale Weise und es beweist die Tragfähigkeit der Rollen, die auch in den neuen Besetzungen authentisch wirken. Die NachwuchstänzerInnen setzen zwar einige Akzente neu, aber sie zeigen auch, wie gut die Stücke gebaut sind, wie originär, vielschichtig und gültig die Charaktere angelegt sind. Die Perfektion, der Charme, der Humor und das präzise Timing der Inszenierungen bleiben erhalten.

Parallel zur Pflege der mehr als vierzig Stücke von Pina Bausch probiert das Tanztheater neue Formate aus: Einzelne TänzerInnen laden zu Tanzkursen ein, in der Reihe „Underground“ bespielen sie besondere Orte wie das Elefantenhaus im Wuppertaler Zoo, eine Fabrikhalle oder das marode Schauspielhaus mit eigenen Improvisationen.

Die designierte neue künstlerische Leiterin des Tanztheaters Adolphe Binder, die im Mai ihren Dienst antritt, will den eingeschlagenen Weg weitergehen. Auch sollen – wie schon im vergangenen Jahr – wieder zeitgenössische Choreografen eingeladen werden, die mit dem Ensemble neue Stücke und Formate entwickeln. Die ersten Gastchoreografien (von Theo Clinkhard, Cecilia Bengolea, Francois Chaignaud, Tim Etchells) im vergangenen Jahr überzeugten zwar nicht auf ganzer Linie, dennoch sollte der Weg weiter beschritten werden.

Parallel ist die Bausch-Foundation unter der Leitung von Salomon Bausch, dem Sohn Pina Bauschs, mit einem beachtlichen Stamm von MitarbeiterInnen höchst aktiv. Ein umfangreiches, modernes Archiv ist im Entstehen, in dem auch - als „oral history“ – die Erlebnisse von Wuppertalern mit Pina Bausch und dem Tanztheater hinterlegt sind. Die Foundation coproduzierte das Bausch-Stück „Die Kinder von gestern, heute und morgen“, das – fast ein Novum in der Geschichte des Tanztheaters- vom Bayrischen Staatsballett einstudiert wurde, natürlich mit Unterstützung aus Wuppertal. Ein Beispiel für die Originalität der Projekte ist das Oral-History Projekt 7x7x7 zur Neueinstudierung des Stückes „Two cigarettes in the dark“, bei dem sieben Zuschauer sieben Tänzer sieben Minuten lang zur Entstehung des Stückes befragten. Die ersten vier Stipendiaten der „Pina Bausch Fellowship for Dance und Choreography“ haben jetzt ihre halbjährigen Hospitationen in internationalen Kompanien absolviert und die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt, die nächsten Stipendiaten stehen in den Startlöchern.

Eine Heimat sollen das Tanztheater und die Foundation im Wuppertaler Schauspielhaus finden, das mit Zuschüssen des Bundes zu einem Tanzzentrum mit überregionaler Strahlkraft hergerichtet werden soll, und es ist zu hoffen, dass die Beschlüsse umgesetzt werden. Zum 50sten Geburtstag des zur Zeit wegen Baufälligkeit geschlossene Schauspielhauses wurden die Wuppertaler angeleitet, auf dem Vorplatz die berühmte „Nelken-Linie“ aus dem Stück „Nelken“ zu tanzen, und sie taten es mit Begeisterung. Das Tanzangebot war auch Teil der großen Ausstellung über Pina Bausch in der Bundeskunsthalle in Bonn, die in enger Zusammenarbeit mit der Bausch-Foundation konzipiert wurde und bis zum 9.Januar auch im Berliner Gropius-Bau zu sehen war.

Für Tanzbegeisterte heißt es also weiterhin: Auf nach Wuppertal, und von da aus in alle Welt -so wie Pina Bausch es in ihrem mehr als 40jährigen Wirken in der Schwebebahnstadt vorgemacht hat.
Leserkritiken: E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen, Stuttgart
Ein Puzzle und jedes Teil sitzt bei ’E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen’. Es geht um Töchter und Söhne Stuttgarts, die heute weitgehend vergessen sind, zu ihrer Zeit jedoch Berühmtheiten waren. Ungefähr zwei Dutzend Biografien waren angekündigt und da stellt sich schon die Frage, wie man diese Einzelteile dramaturgisch und schauspielerisch zu einem Ganzen zusammenbringt. Dass diese Aufgabe ganz hervorragend gelungen ist, sei schon vorab gesagt.

Von Anfang an erkennt sich auch der Zuschauer als zukünftig sterblicher Unsterblicher, denn die gesamte Breite der Bühne nehmen verspiegelte Glasscheiben ein. Ein schräger Spiegel auch an der Decke. Wir Zuschauer sehen uns selbst im gegenwärtigen Jetzt, während hinter dem durchsichtigen Glas Personen in historischen Kostümen wie Schemen aus dem Jetzt der Vergangenheit auftauchen, während gleichzeitig eine Rahmengeschichte von einer Schauspielerin vorgetragen wird, die gemäß dieser Intention aus dem Publikum auf die Bühne schreitet. Was nun folgt ist ein Feuerwerk der allerbesten Art, das alles enthält was Theater im besten Sinn ausmacht. Dramatisches, Skurriles, Trauriges, Komisches, Witziges, Romantisches, Politisches, Philosophisches tempo- und abwechslungsreich vorgetragen von erstklassigen Schauspielerinnen und Schauspielern. So viele gute, gelungene Szenen in teils phantastischen Kostümen in ausgeklügelter Choreographie zwischen beweglichen Wänden und zum Teil mit ihnen in Szene gesetzt. Zum Beispiel wird ein Waschbecken zum Händewaschen benutzt, just zu dem Zeitpunkt, wo es an einer beweglichen Wand hängend von Requisiteuren vorbeigeschoben wird und nach einigen Schritten taucht im richtigen Augenblick eine andere Wand auf, an der der passende Spender für die Papierhandtücher montiert ist. Und auch wenn es ungerecht ist etwas herauszuheben, denn alle Akteure haben alles gegeben und sind außerordentlich zu loben, muss ich doch meine absolute Lieblingsszene erwähnen, in der Manuel Harder, als fliegender Schuster Salomon Idler, seiner Frau schildert, was er ’gedenkt hat’. Diese Schilderung ist derart leicht und luftig und dennoch so eindringlich, dass man das Gefühl hat, jetzt wird er sich gleich erheben und tatsächlich davonfliegen, und dem kleinen Vogel zuzwinkern, der ihn durch die Luft begleitet. Ganz ganz großes Theater.

Uraufführung im Kammertheater Stuttgart am 20. Januar 2017
Stückentwickling von Jan Neumann
Leserkritiken "Lesbos" DT Berlin: Schrecken
Lesbos – Blackbox Europa. Ein Projekt von Gernot Grünewald und Ensemble, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Gernot Grünewald)

Am eindringlichsten ist vielleicht der Bericht vom Besuch auf einem versteckten Flüchtlingsfriedhof. Da wendet sich der Blick der Darsteller*innen plötzlich auf sich selbst, auf die eigene Komplizenschaft mit dem weißen Mehrheitseuropa, den leeren Trauerritualen, der Betroffenheitskultur, bei der es in erster Linie um den diese zelebrierenden selbst geht, nicht um die namen- und gesichtslosen Opfer. Wie sehr, sind wir, die beobachten, aber stumm dabeisitzen, die erschüttert sind, aber nichts tun, die nicht auf die Straße gehen und ihre Macht als Souverän einfordern, Mittäter, mitschuldig? Eine Frage, die im Raum steht und doch leider meist an den Rand gedrängt wird. Denn über weite Strecken ist das, was hier passiert, eben doch Betroffenheitstheater, Zeigefinger-reiche Anklage der bösen Machtpolitiker “da oben”, die Europa um jeden Preis abschotten und sich ihrer Menschlichkeit erledigen. Dass diese von uns gewählt sind, dass wir diejenigen sind, die das zulassen, erscheint als Erkenntnis zu brutal, um sie zulassen zu können. Und so plätschert der Abend über weite Strecken erschreckend harmlos dahin, nimmt das Publikum die Schreckensgeschichten teilnahmslos hin, verhallen die Hilferufe der um Unterstützung flehenden.

Das ist alles ganz furchtbar, aber nicht zu ändern, weil “der Staat”, “die Macht” das so wollen. Klar sitzen wir mittendrin und doch sind das “Sie” und das “Wir” klar definiert. Wir stehen/sitzen auf der guten Seite. Das schlechte Gefühl geht auch bei den Spieler*innen schnell wieder weg, denn die Schuldigen sind ganz andere. Da bekommt denn auch der “echte Geflüchtete” seine Rolle. Er darf hin und wieder Fragmente seiner Geschichte erzählen, freundlich, lächelnd, unterhaltsam. Die großen Themen gehören den “Deutschen”, Regisseur wie Spieler*innen, dieAußensicht dominiert, Augenhöhe ist nicht gewollt. Natürlich kann die Fluchterfahrung nicht nachempfunden werden, aber eine so weitgehende Reduktion der stimmen derer, um die es gehen sollte, hinterlässt denn doch einen fahlen Beigeschmack. Viel wichtiger ist die Grundbotschaft vom kalten, unterdrückenden, egoistischen Europa. Da dürfen Geschichten wie die vom bayerischen Polizisten, der den Geflüchteten willkommen heißt, nicht mehr sein als eine schnell vergessene Anekdote. So multiperspektivisch die Anlage des Abends erscheint, so monoperspektivisch gerät er dann doch, weil er dazu dienen soll, seine Grundaussage zu belegen. Am ehrlichsten ist denn auch der Schluss. Da öffnet sich die Blackbox, wechseln die Zuschauer*innen auf die Tribüne und werden zu den distanzierten Beobachtern, die sie zuvor schon waren. Wir blicken auf die verlassene Spielfläche, schauen den friedlichen Wellen zu und beginnen den Abgrund zu spüren, der sich in dieser stillen, harmonischen Leere auftut. Und plötzlich geht uns das etwas an, nicht als wütend hilflose Beobachter, sondern als Mitverantwortliche, Mittäter. Am lautesten schreit der Abend, wenn er nichts sagt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/01/27/das-wuten-der-stille/
Leserkritiken: Lesbos/Blackbox Europa im DT Berlin
Lesbos - Blackbox Europa. Deutsches Theater Berlin/Box

Monatelang beherrschten die Hunderttausende Flüchtlinge, die sich über die Balkanroute auf den Weg in ein besseres Leben machten, die Medienschlagzeilen und die politische Agenda. Einer von ihnen ist Thalfakar Ali, der aus dem Irak geflohen ist, in einer Bar arbeitet und am Deutschen Theater Berlin im Projekt „Wechselstube“ mitwirkt. Von seinem Schicksal erzählt das Recherchetheater-Stück „Lesbos – Blackbox Europa, das Regisseur Gernot Grünewald mit seinem Ensemble für die Box des Deutschen Theaters Berlin entwickelte.

Im Februar/März 2016 änderte sich die Lage: die Balkanroute wurde dicht gemacht. Die EU handelte mit dem türkischen Autokraten Erdogan einen höchst umstrittenen Deal aus. Das Ergebnis: die Zahl der Flüchtlinge, die es bis zur deutsch-österreichischen Grenze nach Passau oder gar bis zum Berliner LaGeSo schafften, ging drastisch zurück. Die Medien und die politische Debatte wandten sich anderen, scheinbar dringlicheren Themen zu. Aus den Augen, aus dem Sinn, aber längst nicht alles gut: die griechische Insel Lesbos entwickelte sich zu einem Auffanglager für gestrandete Flüchtlinge, die in überfüllten Provosorien wie Moria festsitzen.

Gernot Grünewald reiste mit seinem Regie-Team und den beiden Schauspielern Katharina Schenk und Božidar Kocevski im Sommer 2016 auf die bei deutschen Urlaubern beliebte Insel, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Sie führten zahlreiche Interviews mit Flüchtlingen, Helfern, staatlichen Institutionen und drehten Videomaterial, das an diesem 90minütigen Abend eingespielt wird. Sehr schlaglichtartig und leider auch oft zu sprunghaft montierten Grünewald und sein Team die einzelnen Bausteine. Am Ende ergibt sich aber doch ein deutliches Bild einer prekären Situation:

Die Schauspieler fühlten sich immer rat- und hilfloser, je länger sie sich hautnah vor Ort mit der Situation befassten. Katharina Schenk macht dies in zwei exemplarischen Situationen deutlich: als sie auf einem Friedhof, wo die Leichen der aus dem Meer gefischten Flüchtlinge verscharrt wurden, eine Schweigeminute vorschlägt, ist sie sich selbst klar darüber, dass dies nur eine hilflose, wohlfeile Geste ist. Sie weiß aber – genauso wenig wie wir im Publikum – keine angemessenere, bessere Reaktion. Später erzählt sie, wie sie einem Bustransport in das jetzt schon völlig überfüllte Lager Moria hinterherwinkt. Auch hier spürt sie, dass diese Reaktion wohl nicht so glücklich ist, aber immer noch besser, als völlig tatenlos zuzusehen.

Der Abend endet mit rhetorischen Fragen des Ensembles, die in den Wunden der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik bohren, und langen Einstellungen der Ägäis vor Lesbos, wo die Touristen mittlerweile fernbleiben.

Die schwierigste Frage wird offen angesprochen, bleibt aber ungelöst: Was passiert, wenn Erdogan den Bogen derart weit überspannt, dass die EU Konsequenzen ziehen muss? Der heute schon vielen als schmutzig kritisierte Deal mit der Türkei würde dann platzen. Einen Plan B gibt es bisher nicht.

Als „Bonusmaterial“ gibt es im Programmheft einen klugen Text des vor kurzem verstorbenen polnischen Soziologen Zygmunt Baumann, der das ganze Dilemma gut auf den Punkt bringt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/01/28/lesbos-blackbox-europa-engagiertes-recherchetheater-projekt-zum-umstrittenen-eu-tuerkei-deal-in-der-box-des-deutschen-theaters-berlin/
Leserkritiken: Minna von Barnhelm, Schlosspark Theater, Berlin
Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, Schlosspark Theater, Berlin (Regie: Thomas Schendel)

Zunächst lässt sich durchaus übersehen, dass Schendel und sein Ensemble Störgeräusche eingebaut haben, dass das Unterhaltungsuhrwerk immer wieder ins Stocken gerät. Der deutlichste Indikator ist Just, Diener des unehrenvoll aus der preußischen Armee entlassenen Major von Tellheim. Anton Spieker hat seinen ersten Auftritt in einer Art Prolog, wo er, ein Kartenspiel begleitend, eine traurige Weise spielt, die andeutet, dass die zivilisatorische Fassade eine recht dünne sein könnte. Schließlich kommt man gerade aus dem Siebenjährigen Krieg, den Preußen unter riesigen Verlusten gewonnen hatte. An der Oberfläche bleibt der Krieg fern, doch in den Figuren wütet er, hat er Verwüstungen hinterlassen. Das gilt zunächst vor allem für Just: Spieker gibt ihn an unbeherrscht aggressives Pulverfass, das bei jeder Kleinigkeit aus der Haut fährt. Seine Toleranzschwelle, seine Geduld sind auf ein Minimum reduziert. Die Ruhe des Friedens bekommt ihm nicht, der harmonische Schein erscheint ihm falsch. So versehrt sein Herr physisch ist, so sehr ist es der Diener mental.

Ersterer dagegen hält sich zurück. Und doch ist auch bei ihm von Beginn an zu spüren, dass die galante Oberfläche bestenfalls gespielt ist. Die Anspannung, die Anstrengung, die es erfordert, den soldatischen und adligen Verhaltenskodex aufrechtzuerhalten, sind bei Tatort-Star Oliver Mommsen in jedem Moment zu spüren. Sein verqueres Verständnis von Ehre, das dazu führt, der geliebten Minna, die nach Berlin gereist ist, um ihn zu finden, zu entsagen, hat von Anfang an Brüche. Vor der Pause lassen sich diese noch mühsam übertünchen, bleibt der Ton lebhaft und vergleichsweise leicht. Dieser erste Teil gehört dem wieder erwachenden Leben, vor allem in der Person von Moinnas Zofe Franziska, die bei Maria Steurich zum Star des Abends wird: burschikos, frech, schlau und bei aller Schärfe warmherzig. Sie hat die meisten Lacher des Abends, ist sein Kraftzentrum, hält ihn zusammen, so lange es geht. Und mit ihrer ebenso sanft wie humorvoll erblühenden Liebe zum Wachtmeister Paul Werner (Oliver Nitsche) gehört ihr auch die Hoffnung, der Optimismus, der Glaube an bessere Zeiten. Es ist Schendels Verdienst, dass der Humor nie grob wirkt oder auf billige Lacher ausgerichtet ist. Vielmehr speist sich das Lachen aus der Sehnsucht.

Eine Sehnsucht, die sich Tellheim verbietet. Nach der Pause gerät er bei Mommsen aus dem Gleichgewicht. Die fatale Mischung aus Kriegstrauma und den Illusionen von Stolz und Ehre, die er für den letzten Rest seiner Identität hält, brechen sich Bahn. Er tobt und schreit und droht, bricht in wahnsinniges Lachen aus, steigert sich hinein in groteske Eifersüchteleien, baut einen Panzer aus Selbstmitleid auf und flüchtet sich in Selbstgerechtigkeit. Von “Lustspiel” ist hier nichts mehr zu spüren, stattdessen reißen Schendel und sein Hauptdarsteller die sorgsam erhaltenen Fassaden ein. Was zum Vorschein kommt, ist eine verwundete Seele, die im Widerstreit von Kriegsgräueln und einem repressiven, Schwäche nicht zulassenden Ehrbegriff schier zerreißt. Da stürzt das ganze Harmoniegebäude ein und ist doch nicht alles verloren. Auch wegen Katharina Schlothauers Minna: Sie spielt die Titelfigur als wissende, selbstbewusste Frau, die sich nicht einschüchtern und nicht abschrecken lässt, die an ihrem Geliebten festhält, auch wenn sie um seine Verletzungen weiß. Eine unaufgeregte praktische Feministin, die die Zügel in die Hand nimmt und doch nie zu fest anzieht. Wenn sie ganz am Ende Mommsen mühsam die Stiefel auszieht, glimmt da ein winziger Funken Hoffnung. Mommsens Züge entspannen sich kaum merklich. Daneben sitzt Spiekers Just und blickt mit einer Prise Traurigkeit ins Weite. Nein, vergessen und überwunden ist hier nichts.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/01/29/traum-und-trauma/
Leserkritik: Wunschkinder im Renaissance Theater Berlin
Lutz Hübner und Sarah Nemitz: Wunschkinder, Renaissance Theater, Berlin (Regie: Torsten Fischer)

Das Stück erzählt die Geschichte des 19-jährigen Marc, der als spross einer wohlhabenden Familie nach (gerade so) bestandenem Abitur ziellos in den Tag hinein lebt, umgeben von der übergriffig fürsorglichen Mutter und dem Vater, der darauf besteht, dass der Filius endlich in die Gänge komme. Marc verliebt sich in die aus prekären Verhältnissen stammende, natürlich taffe und ihr Leben im Griff habende Selma. Dann wird letztere schwanger, Marc haut ab und seine Eltern versuchen die Sache zu “regeln”. Generationen- und Klassenkonflikt werden verzahnt, schöne ironische Punchlines gibt es zuhauf, allzu komplex ist die Weltsicht des Stückes auch nicht – also der perfekte Stoff für den gehobenen Boulevard. In seiner Bochumer Uraufführung hat Anselm Weber versucht, der Tendenz des Stücks zur Plakativität mit Realismus zu begegnen, seine Leerstellen nicht zu überkleistern, Raum für Zwischentöne zu lassen, die existenzielle Verunsicherung einer zunehmend überforderten und kaum noch in irgendwelche Schubladen passenden Gesellschaft zumindest punktuell spürbar zu machen.

Nichts davon ist bei Torsten Fischer zu sehen.Er schwingt den breiten Pinsel, treibt seine Darsteller*innen zu boulevardesker Überdeutlichkeit an – am unterhaltsamsten sicherlich Klaus Christian Schreiber als dauersarkastischer Vater – hetzt von Pointe zu Pointe. Insbesondere vor der Pause geht es nur darum, möglichst viele Lacher in möglichst kurzer Zeit zu erzeugen. Da stören gebrochene oder gar komplexe Charakterisierungen nur. So beginnt der Abend schön programmatisch: mit Radioheads Effizienzverweigererhymne “Creep” und einem artistisch aber nutzlos an den in den angedeutet schäbigen Raum samt depressiver Fototapete (Ausstattung: Herbert Schäfer, Vasilis Triantafillopoulos) gehängten ringen turnenden Marc. Ein Schlaffi, wie er im Buche steht. Arne Gottschling spielt ihn denn auch mit reichlich hölzener ausgestellt pubertärer Tumbheit, was leider nur zu gut zur völlig überzogenen Toughness von Emma Lotta Wegners Selma passt.

Nein, mit dieser Jugend ist nicht viel Staat zu machen. Und so bekommt Vater Gerd nicht nur bei seiner wohlfeil anti-inttellektuellen Rede zur Verteidigung des Smalltalks gegen ernsthafte politische Debatten vereinzelten, aber begeisterten Szenenapplaus, sondern auch reichlich Zustimmung beim Umgang mit dem hier tatsächlich durchgängig nutzlosen Sohn. Der Preis: Das Konfliktpotenzial des Stücks verpufft, weil eine Seite fast gänzlich verschwindet. Ein Generationenkonflikt findet nicht statt, denn natürlich lässt sich über die Helikoptereltern die Nase rümpfen, aber irgendwie haben sie ja auch recht.

Bleibt die soziale Ebene. Der ergeht es ein wenig besser, was vor allem an Judith Rosmair liegt, die Selmas labile Mutter spielt. leicht wird es ihr nicht gemacht mit den wilden Haaren und der lächerlichen Hysterie, zu der Text und Regisseur sie anspornen. Und doch gelingt es ihr immer wieder, kleine Momente der Wahrhaftigkeit zu finden, Schlüssellochblicke auf die existenzielle Verzweiflung, die so manche um die Zukunft der eigenen Kinder besorgte Mutter umtreibt. Die Verunsicherung in einer Welt der vermeintlichen Chancenüberfülle und des medialen Overkills – in Rosmair wird sie zumindest punktuell spürbar. Doch fehlt auch ihr der Gegenspieler: Schreibers Vater spielt auf einer ganz anderen, eher klamottigen Ebene und Simone Thomalla, Star des Abends, bleibt weitgehend farblos. Ihre Mutter Bettine gerät ebenso beliebig haltungslos wie die “vernünftige” Schwester, gespielt von einer gelangweilt sympathischen Angelika Milster. Was am Ende bleibt: harmlose Unterhaltung mit vielen Lachern und einem schalen Gefühl im Hals.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/02/01/generation-schlaffi/
Leserkritik: Lear, Berlin
Nach William Shakespeare: Lear, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Silvia Rieger)

(...)

Da ist es denn auch logisch, dass Lear als diktatorischer Choleriker erscheint, zunächst weitgehend allein auf der Bühne, eingekapselt in seinem Machtkokon, dass das Gegenprinzip, die ehrliche Tochter Cordelia abwesend bleibt (sie huscht nur kurz stumm im lächerlichen Show-Tänzerinnenkostüm über die Bühne), dass die meisten Figuren schizophren oder gar bipolar angelegt sind, mit sich selbst debattieren, zu Gollum-haften Monstern gewaltinduzierter Ich-Aufspaltung werden (dass die beiden “bösen” Töchter in Personalunion gespielt werden, ist da kein Zufall), dass der Mob wütet (“Cordelia muss weg!”), dass Rieger das Königsdrama, das sie ohne Rücksicht auf Figuren und Handlungszusammenhänge bestenfalls skizziert, verschränkt mit Heiner Müllers Kriegsirrsinn der Wolokolamsker Chaussee, dass sie die Ränkespiele von Othello zitiert und die naive Menschheitsvision von Der Sturm persifliert. Der Mensch ist des Menschen Wolf, in den Schlössern Englands wie den russischen Wäldern. wohin das führt? Nirgends. Nur in den Tod. Sterben ist sinnlos. Für Lear wie die Soldaten bei Heiner Müller, für Desdemona und Othello, für die Menschheit.

So weit so gut. Doch Silvia Rieger will nicht verstanden werden oder zumindest will sie es dem Publikum so schwer wie möglich machen. es wird, das gehört zum guten Ton, im Theater Castorfs, gebrüllt, was das Zeug hält. Rollen lösen sich auf, Texte werden zu mechanischem Selbstzweck – man beachte den schönen Beginn, in dem Rieger Lears Rede nacheinander aus den Bestandteilen Schreien, Schimpfen und Text zusammensetzt – Körper zu unkontrollierten gestischen Verkrampfungsmaschinen (den neben Rieger agierenden Studierenden der HfS “Ernst Busch” kann man zumindest keinen mangelnden Einsatz vorwerfen, auch eine schöne Martin-Otting-Imitation ist dabei). Inmitten der Ränkespiele wird über Kaffeetassen gestritten, Konfrontationen enden in grotesker Sinnlosigkeit, sechs Rotkäppchen stellen sich einem imaginierten Wolf. Immer, wenn sich so etwas wie Verstehen einzuschleichen droht, setzt Rieger Störfeuer, durchbricht die Narration mit wahnwitzigem Nicht-Material oder bringt sie zum Stillstand, etwa wenn tausende Briefe die Bühne fluten.

Lose Enden, Nichtzusammenpassendes, wiederholte Sprünge zwischen den nicht ineinander greifen wollenden und sollenden Textebenen, Durchbrechungen des Theatralen, unerträglich lange Wiederholungsschleifen, die Gewalt des gewollt Sinnlosen (Beispiel: der vielleicht seltsamste Bauchladen der Theatergeschichte): all das ist nicht Regiemittel – eas ist der Kern dieses Theaters des Auseinanderbrechens, der Dekonstruktion. Nur ist eben was bleibt herzlich wenig: Zweistündiges monotones Brüllen, zunehmend willkürliche Sinnaufhebungen und eine Überforderung, die nur ermüdet und den Blick nicht schärft. Es ist, als würde Silvia Rieger einfach nur noch mal die Mittel des Castorfschen Theaters vorführen – ob das irgendwohin führt, ist ihr egal. Wenn es das nicht tut – umso besser. Nur weiß eben jeder Castorf-Kenner auch: Wenn seine Stilmittel zum Selbstzweck werden, wenn sie nicht mehr dazu dienen, Geschichten zu erzählen, zu hinterfragen und sich an ihnen zu reiben, dann bleibt, was diese Bühne in Bert Neumanns ikonischem Raum wie den ganzen Abend auszeichnet. Leere und Erschöpfung. Und den Wunsch zu vergessen. Ganz schnell.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/02/02/cordelia-muss-weg/
Leserkritik: Katzelmacher, Berlin
"Katzelmacher", Junges DT, Berlin

Die neue Produktion des Jungen DT in den Kammerspielen des Deutschen Theaters überrascht damit, dass die Jugendlichen auf der Bühne ganz unter sich bleiben. Jessica Glause erarbeitete ihre Fassbinder-Adaption „Katzelmacher“ mit elf Schülerinnen und Schülern. Anders als in „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf…“ oder „2 Uhr 14“ stehen ihnen diesmal keine erfahrenen Profis zur Seite.

Die zweite Setzung des Abends ist, dass die zentrale Rolle des Jorgos eine Leerstelle bleibt. Der griechische „Gast- oder Fremdarbeiter“ – so nannte man die Zuwanderer bekanntlich Ende der 60er Jahre, als Rainer Werner Fassbinder mit 24 Jahren dieses Stück schrieb – ist eine Projektionsfläche. Bei den einen löst er Sehnsüchte aus. Einige junge Frauen erträumen sich eine Zukunft mit potentem, exotischem Lover, der sie aus der bisherigen Tristesse herausreißt. Die Männer reagieren eher ängstlich auf den „Eindringling“ in ihr „Revier“. Sie überspielen ihre Unsicherheit mit Aggression und Hass.

Das Leitmotiv des knapp 80minütigen Abends: Wenn die Meute oder Einzelne den Neuankömmling Jorgos ansprechen, gehen ihre Worte ins Leere. Damit sollen die im Programmheft zitierten Fragen aufgeworfen werden: „Was, wenn es für Fremdenfeindlichkeit gar keinen Fremden braucht? Was, wenn Jorgos nur in den Köpfen existiert? Wenn das abgelehnte Andere eine Projektion des Eigenen ist?“

Die Berliner Jugendlichen treffen die bayerisch eingefärbte Umgangssprache der Fassbinder-Figuren erstaunlich gut, wenn sie lamentieren: „Das hat mal sein müssen, weil der hier rumläuft, wie wenn er hergehört.“ Ihre lasziven Choreographien nimmt man ihnen in ihrem Teeanger-Alter aber noch nicht ganz ab: diese Szenen wirken noch zu gekünstelt und angelernt.

Fraglos passt das Fassbinder-Drama, mit dem der junge Regisseur 1968 am Münchner Action-Theater und ein Jahr später auch im Kino erste Erfolge hatte, gut in unsere Zeit. Die fremdenfeindlichen Töne der Figuren und die Forderung „Eine Ordnung muss wieder her“ klingen aus aktuellen Diskussionen gefährlich vertraut.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/02/07/katzelmacher-das-junge-dt-spielt-fassbinder/
Leserkritiken: Hilferuf aus Esslingen
Hilfe! Ich halte es nicht mehr aus, was an der Landesbühne Esslingen für flaches Wasser gezeigt wird. Ja klar, man muss das Publikum (Ü60, oder was?) halten, aber wo bleiben wir, die zwischen 30 und 50 Jahren. Was ist mit uns? Ich fühlte mich noch nie wie momentan beim Zuschauen intellektuell unterfordert, dass ich schreiend aus dem Theater rennen möchte. Aber da mein Theater liebe, werde ich mir weiterhin alles anschauen, in der Hoffnung auf Besserung, auf den Wandel. Aber vielleicht liege ich ja falsch, und hier entsteht ein neues modernes Volkstheater mit schwäbischer Sprache, who knows? Aber im Publikum klafft ein Loch. Wo ist die jüngere Generation? Wo sind die modernen Ästhetiken? In Esslingen scheinen alle Theatererneuerungen der letzten Jahre spurlos an den Inszenierungen vorbeigegangen zu sein. Könnte Nachtkritik die WLB Esslingen etwas mehr besprechen, in der Hoffnung von außen Impulse setzen zu können? Ah! Ich sterbe im Zuschauersaal und dennoch liebe ich die WLB. Paradox!
Leserkritik: The Making-of, Gorki Berlin
"The Making-of". Eine Produktion des Studio Я / Maxim Gorki Theaters

ie hysterische Regisseurin Gordon (Stella Hilb) möchte die prekären Arbeitsbedingungen des Stadttheaters hinter sich lassen und träumt vom großen Ruhm und großen Geld: sie plant ein deutsches Remake der Batman-Blockbuster-Reihe.

Den unbegabten Sohn des 80er Jahre-Action-Stars Dolph Lundgren besetzt sie zähneknirschend für die Titelrolle: so ist sichergestellt, dass der Papa als Produzent einsteigt und das nötige Kleingeld zuschießt, um die Produktion zu stemmen. Eva Bay spielt diesen schwäbelnden Jungen, der mit großen Augen übers Set wandert eine viel zu hohe Stimme hat.

Als klischeeblonde Männerphantasie wird eine feministische Performerin (Mareike Beykirch) verpflichtet, die nur „Das Mädchen“ genannt wird. Sie macht in Schweden politisch-engagierte, aber brotlose Kunstprojekte, verachtet das trashige Drehbuch des Blockbusters und versucht, die Produktion feministisch zu unterwandern. Im King Kong-Stil soll ein Schakal (Till Wonka) animalisch über sie herfallen.

Nora Abdel-Maksoud macht in ihrer Kunstbetriebssatire „The Making-of“ dort weiter, wo sie 2014 im Ballhaus Naunynstraße mit „Kings“ aufgehört hat: temporeiche Dialoge, stark überzeichnete Figuren und jede Menge Insider-Gags über „Gender Pay Gap“, „Method Acting“, Performance vs. klassisches Theater, Popcorn-Kino vs. cineastische Projekte sorgen für einen unterhaltsamen, wenngleich streckenweise recht selbstreferentiellen Abend.

Für den Abend im Studio Я des Gorki Theaters holte sie als Partner für ihre beiden bewährten Stamm-Spielerinnen Bay und Hilb, die u.a. auch in „Kings“ dabei waren, zwei Ensemble-Mitglieder des Gorki (Beykirch und Wonka).

„The Making-of“ hatte am 13. Januar 2017 Premiere und wurde zum „Radikal jung“-Festival des Münchner Volkstheaters eingeladen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/03/03/the-making-of-kulturbetriebsatire-mit-ueberzeichneten-figuren-im-gorki-studio/
Leserkritiken: Homo Digitalis, Berlin
Gilliéron / Koch / Wey: Homo Digitalis, Kaserne Basel / Ballhaus Ost, Berlin (Regie: Zino Wey)

Steve klickt. Steve preist an. Steve verkauft. Was? Sich. Er ist ein “Homo Digitalis”, er lebt im, mit dem, durch das und vom Internet. Bekommt er fünf Sterne, geht es ihm gut, gehen die Bewertungen runter, gähnt der Abgrund. So lange er ein “Top Seller” bleibt, hat er eine Existenzberechtigung, verliert er den Status, verschwindet er. “Ich löse mich auf”, sagt er einmal. Ohne seine Netzidentität ist er nichts. Beim Basler Kollektiv Gilliéron / Koch / Wey gibt es ihn gleich vierfach: Klone eines scheinbaren Individuums, gekleidet in Jeans und Rollkragenpullover, verwechselbar, verzichtbar. Um die Lebenswirklichkeit in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft soll es in diesen 70 Minuten gehen und darum, was die Anonymität, Verfügbarkeit und Schnelligkeit der(post)modernen Arbeitswelt mit dem auf Individuum trainierten Menschen machen. Eine enge Box bevölkern die vier Steves, ein Stuhl, ein Tisch, eine Matratze – und vier Laptops. Sie leben online, arbeiten online, denken online und existieren online. Ihren Körper, ihre Hände brauchen sie nicht mehr. Sie sind Pixel und Likes und Klicks. In radebrechendem Denglish preisen sie sich an, bieten ihre Dienste feil und sich selbst, werden gepriesen und verstoßen, verlieren jegliche Kontrolle über das, was sie Leben nennen, weil ihnen ein passender Begriff dafür fehlt.

(...)

Das ist eindringlich, stringent und spannungsreich inszeniert – und greift natürlich viel zu kurz. Das Netz als Möglichkeits- und Entfaltungsraum, als Ideenlabor und Freiheitsort kommt nicht vor, seine praktische wie utopische Dimension bleiben außen vor. Stattdessen ist der “Homo Digitalis” hier ein evolutionärer Rückschritt, die digitale Gesellschaft, die Zukunft der Arbeit eine reine Dystopie, die der Abend weiterspinnt zu einer Arbeitswelt ohne Menschen, einer platt abgestandenen Vision einer Computer- und Roboterwelt, in welcher der Mensch nur noch Störfaktor wäre, ein Science-Fiction-Szenario, das eigentlich schon vor Jahrzehnten zu Grabe getragen wurde. Hier feiert es im Schlussteil alles andere als fröhliche Urständ. Wenn auf die Melodie von “Ave Maria” binäre Zahlenreihen gesungen werden, ist das ein netter Einfall, der aber keinerlei Erkenntnisanspruch hat. Und so bringt das ende auch den deutlich stärkeren – und um einiges klügeren – Beginn mit zu Fall. Natürlich ist die Analysen der Gefahren einer immer digitaleren Arbeits- und Lebenswelt von einiger Schärfe und Prägnanz, nur führt leider seine Alternativlosigkeit, das unerbittliche Schwarz-Weiß, das dieser Analyse als Schlussfolgerung folgt, zu einer Perspektive, die immer mehr einengt, selbst als die Wände der Box fallen und die Steves die babyblaue Spielfläche erobern, die Welt, in der sie erstarren, weil sie nur ihren Algorithmen zu folgen im Stande sind. Die “schöne neue Welt”, sie ist – natürlich – ein entmenschlichender Schreckensort ohne erkennbaren Ausweg jenseits seiner kompletten Ablehnung. Und so versteckt sich ein Abend, der so klug und klarsichtig begann, zunehmend in schlichtem Kulturpessimismus. Gut, dass der Besucher am Ende wieder hinaus muss, in eine Wirklichkeit, in der sich der Mensch eben (noch) nicht so leicht wegklicken lässt.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/03/04/ins-netz-gegangen/
Leserkritik: Schwarze Jungfrauen in Trier
Jakub Gawlik inszeniert „Schwarze Jungfrauen“ am Theater Trier.
Bericht von der Premiere am 03.03.2017.
Wer ist der Islamist?
Diese Frage hat nach den Anschlägen der letzten Jahre an Zugkraft gewonnen. Es wird mehr darüber geredet und je mehr geredet wird, desto gleichförmiger werden die Antworten.
Die Schwarzen Jungfrauen befassen sich mit dieser Frage. Der Text beruht auf Interviews mit radikalisierten Muslimas. Er exponiert, er zerrt ins Rampenlicht, was sonst im Verborgenen bleibt. Dabei soll das Verworrene und Konspirative von Weltsichten zu Tage treten, die uns irgendwie fremd sind, aber auch die persönlichen Risse und Frustrationserfahrungen der Protagonistinnen. Es wird über Bomben und Sex gesprochen, Terroranschläge und Einsamkeit.
In der Inszenierung von Jakub Gawlik, der vorher am Residenztheater gearbeitet hat, ist das Stück bereits da, wenn die Zuschauer den Raum betreten. Statt von Schließerinnen werden sie von Schauspielerinnen im schwarzen Abendkleid empfangen, die freundlich lächeln. Es folgt eine sekundenschnelle Transformation: Das Stück beginnt und die freundlichen Frauen im Kleid konfrontieren das Trierer Publikum mit ihren Ansichten, dem, was sie sonst hinter einem Schleier halten. Dabei treten, teils chorisch, teils einzeln gesprochen vielseitige und verstörende Ansichten zu Tage. Es begegnen sich der Wunsch, in Demut bei Allah zu sein, mit Hasstiraden über die „Tetrapack-Fressen“, einer Verschwörung der Homosexuellen und der Bloßstellung einer Lesbe. Eine Anwältin spricht über Flöhe, die man sich einfängt und die Freude am elften September. Eine andere über ihre Flucht nach Berlin, weil Bilder von ihr im Internet kursieren. Gemeinsam ist den Stimmen etwas Jugendliches und Naives, aber auch eine unterschwellige Wut, die erst hinter Parolen versteckt, im Lauf der Inszenierung aber immer verständlicher wird. Hat die Anwältin nicht Recht, dass wir uns gerne die „Befreiungsgeschichten“ von jungen Muslimas anhören, dass wir soziales Scheitern lieber auf die Religion als auf die Person verlagern? Stimmt es nicht, dass uns die Leichen „auf deren Gesichtern dicke fette Fliegen landen“ die meiste Zeit egal sind? Die Frauen in schwarzen Abendkleidern entwickeln sich bei Gawlik zu Projektionsflächen, die an ihrem Text so viel Spaß entwickeln, dass sie gemeinsam auf dem Bühnenteppich herumtollen können und Freude verbreiten, wo hinter jedem Satz eine geistige Brandbombe lauert.
Die große Leistung der Inszenierung besteht darin, Sympathie für Figuren zu erzeugen, die seltsame Dinge sagen, aber auch darin, die Angst vor diesen Figuren abzubauen. Gawlik arbeitet die Divergenz in der Community heraus, aber auch die Orientierungslosigkeit und das Abstrakte dieses Glaubens. Das gelingt erstaunlich gut und passiert unmerklich und nebenher. So oft sich die Spielerinnen zusammenfinden, es gibt hier keine einheitliche Gruppe, die spricht. Die eine ärgert sich über die „Halbgläubigen“, die andere über „Traditionstürken“, die ihr den „Glauben kaputt stinken“. Eine Konvertitin offenbart sich als fremdenfeindlich. Nicht einmal auf den Schleier können sie sich einigen. Eigentlich gibt es nichts, was diese Menschen zusammenbringt.
Es ist eine Mischung aus Konzentration und Betroffenheit, in die sich das Publikum versetzt sieht. Anspannung und Lockerung wechseln sich stimmig ab und gerade wenn es droht zu viel der Freude am Spiel zu werden, tritt mit Gina Heller eine vierte Spielerin dazu, die einen Kontrapunkt setzt, indem sie ernst bleibt, wo vorher Trash-Referenzen aufgerufen wurden: Einhörner, Trump-Einspielungen oder dialektale Liedchen. Das alles vollzieht sich unmerklich, es kommt in den achtzig Minuten nicht zu Längen
Sicher handelt es sich um einen Theatertext, der verstört. Trotzdem wird er bei Gawlik auf eine so natürliche Weise erzählt, dass das Abgründige plötzlich nicht mehr schrecklich und fremd erscheint. Mit hohem Einfühlungsvermögen und ohne pädagogischen Impetus lässt uns Gawlik an der Weltsicht dieser Figuren teilhaben, an ihrer Rede, an ihrem Spiel. Fast könnte man vergessen, dass es sich bei dem Stück ursprünglich um eine Konzeptarbeit handelte, die in Textform doch hölzern bleibt. Das verschwindet in einer Inszenierung, die aus dem Material eine eigene Poesie entwickelt.
Damit sind die Schwarzen Jungfrauen in Trier ein Theaterabend, der nachdenklich macht, auch weil es ihm gelingt, Ängste zu nehmen und Empathie herzustellen, poetisch zu sein und Radikalität und Hass als etwas erscheinen zu lassen, was nicht unendlich weit von uns selbst entfernt ist. Gawlik holt die Schwarzen Jungfrauen zurück in unsere Welt.
Leserkritik: Bela B spielt Sartana in Braunschweig
Sartana-noch warm und schon Sand drauf
Eine außergewöhnliche Kunstform bringt Bela B auf die Bühne - ein visuell erlebbar Hörspiel, gesehen am 04. März im Staatstheater Braunschweig. Dazu hat sich Bela B von den Ärzten eine Reihe guter Künstler auf die Bühne geholt, von einer Band über eine Sängerin, einen Erzähler sowie einen Top-Geräuschemacher. Bela B selbst ist Moderator und der gefürchtete Sartana. Die Story dreht sich um diesen schiesswütigen Sartana-noch im Wilden Westen. Entsprechend auch die Musik, die jene seiner neuen CD ist.
Die Idee ist gut und zum Teil auch gut umgesetzt. Es ergeben sich auch immer wieder neue überraschende Momente, mit reichlich Lachen und Zwischenablage. Leider wiederholen sich bestimmte Szenen, vor allem Schießereien so oft, dass zunehmend Langeweile aufkommt. Die Selbstverliebtheit von Bela B ist auch etwas nervend. Hier muss Bela B schnell nacharbeiten (kürzen). Da die Truppe ja durch Deutschland zieht, werden wohl immer reichlich Ärzte-Fans in die Aufführungen gehen. An einem festen Ort würde die Nachfrage sonst schnell abnehmen. Also: tolle Idee - aber noch nicht richtig ausgefeilt. Allerdings muss man auch einen sehr speziellen Humor mögen. Die primitive Art erinnert nicht selten an Helga Schneider.
Leserkritik: nebenan, Braunschweig
"nebenan" vom Jungen Staatstheater Braunschweig

Welche Bilder kann ein Theaterabend finden um eine tief schwarze Episode der Vergangenheit nicht nur aufzudecken und sichtbar zu machen, sondern den Augenblick des erschrockenen Innenhaltens darüber hinaus zu erhalten? Nur einen Moment? Welche Szenen muss er abspielen um dem Publikum eine Vorstellung davon zu geben, was sich vor Jahrzenten wirklich ereignete? Und wo kann man den Zuschauer einer solchen Konfrontation aussetzen?
Ulrike Hatzer (Konzept/R