Traum vom Fliegen

6. Juni 2022. Am Tag bevor dieses Stück in Kyijw am 25. Februar uraufgeführt werden sollte, kam der Krieg. Jetzt fand die Exilpremiere von Luda Tymoshenkos Luftfahrtdrama, das vom Erwachsenwerden in der post-sowjetischen Ukraine der 1990er-Jahre erzählt, am Schauspiel Stuttgart statt. 

Von Thomas Rothschild

Zal'ot vom Malyi Theater aus Kyijw in Stuttgart, wo diese Uraufführung stattfand, die in Kyjiw wegen des Krieges ausfallen musste. © Malyi Theatre

6. Juni 2022. Wovon träumt ein junges Mädchen, in den neunziger Jahren, also kurz nach dem Kollaps der Sowjetunion, in Kyjiw (so die ukrainische Bezeichnung von Kiew)? Es möchte fliegen, wie ihr Onkel Kostja (nicht zu verwechseln mit dem Onkel Mischa im Untertitel, der bloß eine anekdotische Nebenfigur ist, die das Stadium des Erwachsen-Seins ankündigt). Es ist, klar, ein Traum von Freiheit und von der Flucht aus prekären Verhältnissen. Als der Onkel von einem Auto überfahren wird, droht der Traum zu platzen und die erhoffte Ausbildung zur Flugbegleiterin zu scheitern. Eine Coming-of-Age-Story, Variante Ost. Die Schwierigkeiten, die sich Lida stellen, sind uns vertraut und doch wiederum spezifisch für die Länder, in denen man sich nach dem gesellschaftlichen Umbruch neu orientieren musste.

Ein ukrainisches Theater in Stuttgart

Darf ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, zunächst eine intime Frage stellen? Wann haben Sie das letzte Mal auf einer deutschen Bühne ein osteuropäisches Ensemble gesehen? Es ist nicht weit her mit dem in Festreden gerne beschworenen Kulturaustausch. In der Wirtschaft funktioniert das irgendwie besser. Das hat seine offensichtlichen Gründe, aber es besagt etwas über die Prioritäten in unserer Gesellschaft. Bei den Wiener Festwochen beispielsweise, einst, in Zeiten des Kalten Kriegs, ein bevorzugter Treffpunkt von Ost und West, kommt das (süd)osteuropäische Theater heute (außer in einer Eigenproduktion mit einer kroatischen Regisseurin) nicht vor.

Es fällt schwer, nicht in Sarkasmus zu verfallen, wenn es eines Krieges bedarf, damit ein ukrainisches Theater in Stuttgart auftritt (immerhin konnte man hier kürzlich eine Koproduktion mit dem Warschauer Nowy Teatr sehen), und zwar nicht mit einem lange geplanten Gastspiel, sondern mit einer Uraufführung, die in Kyjiw nicht mehr stattfinden konnte, weil just am Tag der Generalprobe russische Truppen in der Ukraine einmarschierten.

Handeln statt reden

Einen Zufluchtsort für seine Exil-Premiere stellte das Stuttgarter Kammertheater also dem 1989 gegründeten Malyi Teatr – dem "Kleinen Theater" – zur Verfügung, und gezeigt wird "Zal’ot", "Fliegen" (ein "Luftfahrtdrama" – im Original "Aviadrama" – nach dem Stück "Onkel Mischa geht vorbei" und im Deutschen missverständlich: mit den Viechern, die einem Drama von Sartre den Namen gaben, hat das nichts zu tun).

zalot3 MalyiTheatrKiew u© Malyi Theatr Kyijw

Autorin ist die in Kasachstan geborene Dramatikerin und Soziologin Luda (Lyudmila) Tymoshenko (die Transkription der Namen aus dem Kyrillischen folgt, wie so oft, den englischen Normen), die in einer bewundernswert schnellen Reaktion zusammen mit ihrer Kollegin Maryna Smilianets als Artist in Residence am Schauspiel Stuttgart und seit März als Stipendiatin an der Akademie Schloss Solitude eingeladen wurde. Handeln statt (nur) reden: im Leben wie im Theater ein empfehlenswerter Grundsatz.

Reale Horrorvision

Auf der Bühne stehen ein Bett ohne Matratze, eine weiße Küchenkredenz, eine schmale Sitzbank. Die Geschichte von Lida, ihrem ein wenig spinnerten Freund Andriy, ihrer Mutter und dem Professor Igor Mikhailovych läuft in kurzen, fragmentarischen Szenen ab. Einfache Lichteffekte dienen als Interpunktion. "Zal’ot" folgt zunächst einer naturalistischen Ästhetik. In Alltagsdialogen ist von Geldsorgen die Rede, von einer überforderten alleinerziehenden Mutter. Gegen Ende schlägt das Stück, nachdem es bereits mit surrealen Details – einem grünen Schleim, der Andriy aus dem Mund quillt, roten Lichtern im Oberteil des Küchenschranks – irritiert hatte, um in eine Horrorvision.

Igor Mikhailovych, der sich als Freund des verstorbenen Onkels ausgibt, große Sprüche klopft, aber Lida nicht wirklich unterstützen kann, vergewaltigt die Hilfesuchende und kleidet sie höhnisch in eine frivole Flugbegleiteruniform mit zu großen Schuhen. Wenn Lida und Andriy einander danach umarmen, sieht es aus wie ein Happy End, an das man nicht so recht glauben mag. Igor Mikhailovych tritt an die Rampe und stellt sich dem Publikum als der neue Lehrer vor.

Standing Ovations

Die Inszenierung belegt, dass Konstantin Stanislavskij jedenfalls im europäischen Teil der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor maßgeblichen Einfluss hat. Die Schauspieler:innen beherrschen die Technik der Einfühlung und der psychologischen Figurengestaltung vorbildlich. Die Gäste sind mit einer Doppelbesetzung für die beiden Frauenrollen angereist. Bei der Premiere spielte Khrystyna Deilyk die Lida. Ihr zuzusehen war ein uneingeschränktes Vergnügen. Dass die Kritiker wohl nicht zur zweiten Vorstellung kommen und die andere Besetzung, Larysa Sheloumova, beurteilen werden, ist unfair. Die Aussage von "Zal’ot" wird auch damit bestätigt: Wir leben in einer ungerechten Welt.

Für die Ukrainer:innen, die unverkennbar den Großteil des Publikums ausmachten, war es ein Fest. In finsteren Zeiten kann Theater, auch pessimistisches Theater, ein Trost sein. Es macht die Welt nicht weniger ungerecht. Aber es hilft dabei, sie wenigstens einen Abend lang zu ertragen. Was, wenn nicht die Standing Ovations, würde das bezeugen?

 

Zal’ot / Fliegen
Luftfahrtdrama nach dem Stück Onkel Mischa geht vorbei
von Luda Tymoshenko
Eine Produktion des Malyi Teatr Kiew
Uraufführung
Regie: Yuri Radionov, Bühne und Kostüm: Yulia Zaulichna, Choreographie: Lydia Soklakova, Licht: Olexander Polonsky. Mit: Larysa Sheloumova, Khrystyna Deilyk, Tetiana Marshtupa, Iryna Nakonechna, Stanislav Veselskyi, Sergiy Radchenko.
Premiere am 5. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause 

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Eine Coming-of-Age-Geschichte der direkten Art, minimalistisch und zugleich zauberisch dargeboten", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (7.6.2022) "Ist ein Stück über Träume im Wildwestkapitalismus und in einem korrupten Patriarchat jetzt wie aus der Zeit gefallen?" fragt die Kritikerin aber auch, um die Frage gleich selbst zu beantworten: "Eigentlich nicht. Es erinnert vielmehr daran, dass die ukrainische Gesellschaft in Bewegung ist, selbstkritisch, reflektiert, lebhaft. Jetzt ist das alles in höchster Gefahr." 

Harry Schmidt vom Reutlinger General-Anzeiger (8.6.2022) schwärmt von Larysa Sheloumova, die in der Vorstellung, die Schmidt besuchte, die Hauptrolle spielte. "Man muss nicht mal Ukrainisch sprechen, um mit ihrer Sprachmelodie ihren Emotionen zu folgen: wie sie schwärmt, kokettiert, aber auch streitet, sich wehrt, angeekelt abwendet." Maßgeblich trage auch die Choreografie von Lydia Soklakova zum gelungenen Gesamteindruck bei. "Eine bis in nahezu jedes Detail stimmige Inszenierung."

"Dass diese Einladung des Malyi Teatrs nach Stuttgart nicht nur eine wohlfeile Geste des Staatstheaters ist, beweist der große Ansturm auf das kleine Kammertheater am Abend, beziehungsweise die Sprache, die man sehr laut hört, nämlich Ukrainisch", schreibt Christiane Lutz von der Süddeutschen Zeitung (7.6.2022). "Trotz des harten Stoffs herrscht eher Partyatmosphäre im Raum, den langen Applaus am Ende begleiten 'Vivat Ukraine'-Rufe."

Kommentare  
Zal'ot, Stuttgart: Doppelte Einfühlung
Der Schluss von Thomas Rothschilds sehr treffender Besprechung erfasst die besondere Stimmung der Premiere. Tatsächlich bewirkte die außergewöhnliche Aufführungssituation wohl eine besondere Sensibilisierung des Publikums für die schönste Qualität guten Kammerschauspiels, nämlich die zeitweise Auflösung auch großer Diskrepanz zwischen realer und dargestellter Situation zugunsten der Imagination und sogar Utopie.
Die Diskrepanz selbst und ihr Bewusstsein wirken nach, auch zurück auf dem Boden der Tatsachen und des realen Grauens, als ganze Kraft der im Theater geteilten Erfahrungen...

- was sich wie gewöhnliche Theaterromantik liest. "Besonders" aber scheint an der Erfahrung dieses Abends die ständige doppelte Einfühlung, mit der wir als Publikum das SpielerInnen zusehen, denen wir zu jedem Zeitpunkt gleichzeitiges Bewusstsein ihres Zuhauses unterstellen, einer Heimat und eines geschlossenen Theaters also.
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