Der Augsburger Kreidekreis - Daselbst aufgeführt im Rahmen des Brecht Festivals 2012
Die Klügere gibt nach
von Willibald Spatz
Augsburg, 12. Februar 2012. Wir befinden uns in der dritten Runde des zweiten Anlaufs. Vor sechs Jahren sah man sich in der Stadt Augsburg veranlasst, Bertolt Brecht, der hier geboren wurde, in Form eines Festivals zu ehren. Man holte den Schriftsteller Albert Ostermaier als Festtivalleiter. Er lud Gäste von weither ein, die er diskutieren, musizieren und auch performen ließ. Es entstand das abc-Festival, wobei "abc" für "Augsburg Brecht Connected" stand. Drei Jahre lief das, und die meisten waren schwer beeindruckt, weil Augsburg ein wenig Metropolen-Flair erhielt. Die Stadt bekam eine neue Regierung, die schaffte erst mal das Festival ab, da es angeblich zu teuer war.
Viele meinten gleich, Augsburg verwandle sich wieder in düsterste Provinz; ein dreijähriger Traum schien zu Ende zu sein. Doch es gab ein neues Festival unter der Leitung von Joachim Lang, der beim SWR in Stuttgart Abteilungsleiter für Sonderprojekte Musik und Theater ist. Anfangs war man skeptisch, doch nach drei Jahren muss man sagen, dass es gelungen ist, einerseits viel Publikum zu den Veranstaltungen zu locken, andrerseits auch ein passende Mischung aus hiesigen und importierten Künstlern zusammenzustellen. Es gab ein Konzert von der Ton Steine Scherben Family, und Meret Becker sang Brecht-Lieder. Es wurde aber auch ein Stück von Sebastian Seidel uraufgeführt, der mit dem Sensemble Theater die wichtigste Augsburger nichtstädtische Bühne leitet.
Am Originalschauplatz
Brecht selbst hatte ja ein Problem mit seiner Heimatstadt. Die Augsburger haben ihm das lange nicht verziehen – inzwischen freuen sie sich, dass er einer von ihnen war. Jedes Festival hatte bisher ein Motto. Nach der Musik und dem Film hieß es diesmal "Brecht und die Politik". Man durfte, um dem Motto voll gerecht zu werden, ins Rathaus, ja sogar in den Goldenen Saal, wo normalerweise der Stadtrat tagt. Einiges fand hier statt in den vergangenen Tagen, darunter auch die Uraufführung des "Augsburger Kreidekreises". Dabei handelt es sich eigentlich um eine Erzählung, die Brecht 1940 geschrieben hat. Er befand sich zu der Zeit bereits im schwedischen Exil.
Die Geschichte endet tatsächlich im Goldenen Saal, und hier wurde sie nun auch in der Einrichtung von David Benjamin Brückel gezeigt, wodurch das Unternehmen beinahe historische Dimensionen bekam. Inhaltlich ist der Augsburger nah am Kaukasischen Kreidekreis, dem berühmten Stück, das allerdings erst vier Jahre später im amerikanischen Exil entstand. Eine Magd nimmt beim Einfall der feindlichen Truppen im Dreißigjährigen Krieg das Kind ihrer Herrin an. Sie zieht es auf bei ihrem Bruder, heiratet sogar einen Mann, den sich nicht will, um einen Vater vorweisen zu können. Irgendwann holt sich die wahre Mutter das Kind zurück. Es kommt zum Prozess, beide behaupten die echte Mutter zu sein. Ein Richter entscheidet den Streit, indem er ganz in der Tradition des weisen Salomon die zwei Frauen an dem Kind ziehen lässt. Die, die es gleich loslässt, die Magd, gewinnt.
Live-Hörspiel
Hier auf der Bühne inmitten des großen Saals wird nicht an einem Kind gezogen, sondern an einer Ziehharmonika. Und auch sonst wird in besten Brechtschem Sinne verfremdet. Die fünf Schauspieler tragen Mikroports, durch die die Schmatzgeräusche besonders markant verstärkt werden, wenn beim gemeinsamen Mahl Fetzen aus einem Brotlaib gerissen und verzehrt werden. Vom Rand spricht einer den Text in die Mitte, die anderen spielen in wechselnden Rollen. Der Musiker Daniel Kahn untermalt das Geschehen. Anfangs hat man das Gefühl, mehr einem Live-Hörspiel beizuwohnen, die Bebilderung ist äußerst sparsam, dafür aber effektvoll. Bei der Erwähnung eines brennenden Hauses werden an Fenstern rote Strahler angemacht – so hat man diesen Saal noch nie erlebt. Als die von Sascha Özlem Soydan dargestellte Magd Anna aufs Land kommt, wird mehr gespielt. Malina Ebert und Matthias Buss führen einen Bauerntanz auf, Mathias Bleier hackt Holz auf der Bühne.
Der Prozess selbst ist beinahe so zu sehen, wie er gewesen sein könnte, am Originalschauplatz. Mathias Buss ist ein schnoddriger Richter, ein Original. Er kennt sein Publikum und kann nicht ohne den Beifall. Der Applaus kommt auch reichlich für das Ensemble. David Benjamin Brückel und seine Gruppe haben diese Erzählung ganz werkgetreu auf diese Bühne gebracht. Niemand hier wurde vor den Kopf gestoßen oder gar verstört. Die bestellte Ware wurde einwandfrei geliefert. Der Brecht wird in diesem Fall ohne Makel gefeiert, er ist der Größte hier und wahrscheinlich überall. Wer daran auch nur den geringsten Zweifel hat, der soll gleich daheim bleiben, wenn das Festival in die nächste Runde geht.
Der Augsburger Kreidekreis
Regie: David Benjamin Brückel, Musik: Daniel Kahn.
Mit: Anya Fischer, Sascha Özlem Soydan, Mathias Bleier, Matthias Buss und Daniel Kahn.
www.brechtfestival.de
Diese Aufführung fördere "einen Text von Brecht zutage, der in keiner Weise provokant ist", schreibt Richard Mayr von der Augsburger Allgemeinen Zeitung (14.2.2012) in seinem Festivalbericht. Brückels Inszenierung habe sich "eng an den Text geschmiegt" und "Werktreue" bewiesen. Die "Ecken und Kanten des Schriftstellers" Brecht seien eher in den elf Festivaltagen zuvor mit der Aufführung der "Maßnahme" und in Diskussionsrunden kenntlich geworden.
Von starkem "Applaus für eine fast zu sinnlich-gefühlvolle, aber mit einfachen Mitteln relativ viel erreichende Inszenierung" berichtet Frank Heindl in der Internetzeitung DAZ – Die Augsburger Zeitung (16.2.2012). Brückel habe den Spielort "sinnig in seine Konzept einbezogen, nutzt vor allem gekonnt die Lichtverhältnisse im anfangs fast völlig dunklen Saal". Für die Rolle des Kindes ein Akkordeon einzusetzen sei "ein Brechtscher Verfremdungseffekt" und auch, dass "die Personen von sich selbst meist in der dritten Person reden" sei "eine Methode aus Brechts Werkzeugkoffer".
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