Flasche leer

11. Februar 2023. Horváths Stück ist ein Klassiker der Jahrmarktsdramatik. Aber taugen der "abgebaute" Kasimir und seine "höher hinauf" wollende Braut Karoline mit ihrem Oktoberfest-Ausflug noch als Gegenwartsspiegel? Reinhardt Frieses Inszenierung beantwortet diese Frage eindeutig mit ja. Gerade, weil sie auf Zeitlosigkeit setzt. 

Von Christian Muggenthaler 

"Kasimir und Karoline" in der Regie von Reinhardt Fries am Theater Hof © H. Dietz Fotografie

11. Februar 2023. Von Jahrmarktsnächten und Festen kennt man diesen wachsenden Kranz, der sich zuletzt aus noch im Weggehen ausgetrunkenen Bierkrügen, Weingläsern und Schnapsflaschen bildet. In der Inszenierung von Reinhardt Friese am Theater Hof ist das auch so. Da steht die ausgezuzelte Alkoholbatterie zuletzt am Bühnenrand herum und ist so leer wie all die Menschen, die allesamt doch nur irgendeinen Inhalt gesucht haben an diesem Oktoberfesttag. Und in ihrem Leben.

Ein bisschen Leergut: Mehr braucht es nicht in diesen strengen, stringenten, intensiven, konzentrierten anderthalb Stunden Ödön von Horváth, um dieses Volksfest zu schildern. Höchstens noch einen roten Herzballon. Und ein Lebkuchenherz – das aber natürlich sofort zerbrochen wird.

Tropfende Sehnsucht

Diese Hofer Inszenierung von "Kasimir und Karoline" unterstreicht mit allen ihren kraftvoll eingesetzten Mitteln, wie zeitlos dieser Text ist und wie heutig die Fragen wirken, die er stellt. Anhand des gerade arbeitslos gewordenen Chauffeurs Kasimir und seiner sozial "höher hinauf" wollenden Braut Karoline wird die Ökonomisierung von Liebe und Sex durchgespielt mitsamt der Frage, ob – und wenn ja, wie – äußere und innere Armut, äußerer und innerer Reichtum miteinander in Beziehung stehen.

Wie hoch der Verlust derjenigen tatsächlich ist, die am Rand der Gesellschaft stehen. Wie Armut einsam macht. Und wie unbeschreiblich groß die Sehnsucht ist, die bleibt. Diese Sehnsucht tropft aus all den Menschen heraus in dieser Hofer Inszenierung – in einem souveränen Nebenbei, ohne auch nur einmal kitschig oder pathetisch zu werden: Horváths Personenkonstellationen reichen vollkommen, wenn man sie nur ernst nimmt und zulässt.

Lava-Grieß und Schmerzblut-Regen

Genau das machen Friese und die Ausstatterin Annette Mahlendorf. Die Bühne ist ausgesprochen puristisch, ganz ohne Volksfest-Folklore. Nur eine Vielzahl roter Lämpchen hängt herab, als hätte sie der zu Beginn erscheinende Zeppelin, dieses anfängliche Sehnsuchtsbild, als verletzenden Lava-Grieß, als Schmerzblut herabregnen lassen. Immer wieder wird durch diese Rotlichtsterne hindurch Personal auf der Drehbühne nach vorn gefahren und später wieder geschluckt, wie Figuren im Wetterhäuschen, die die Hochs und Tiefs ankündigen – nur dass es hier ausschließlich Tiefs gibt.

KasimirKaroline13 1000 H.DietzFotografieIm Schmerzblut-Regen: Das Hofer Ensemble im starken Bühnenbild von Annette Mahlendorf © H. Dietz Fotografie  

Die Räume werden allein durch präzises, scharfkantiges Licht gebaut: weiße Kegel, weiße Flächen, weiße Spots – eine wirklich enorm elegante Lichtregie, scharfkantig wie Horváths Gesellschaftsanalyse. In diesen Lichträumen agieren die Leute in ausgesucht gruseligen 1970er-Jahre-Kleidungsstücken, als wären sie aus einer anderen Zeit in unsere gepurzelt. Eben: zeitlos.

Bei Horváth wird sehr präzise analysiert, was Armut in und mit einer Gesellschaft anrichtet. Und zwar tatsächlich so genau, dass die von ihm bloßgelegten Mechanismen auch heute noch gut erkennbar sind. Dass diese Mechanik in Hof so gut gelingt, liegt – vom Regiekonzept und der Ausstattung abgesehen – auch an der Figurenzeichnung des Ensembles. Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren stark, weil sie das Stückpersonal aus seinen je eigenen Schwächen wachsen lassen.

Die Menschen hinter den Mängeln

Sie machen die Menschen erkennbar hinter deren Dellen, Schrammen und Mängeln. Ein Beispiel ist Dominique Bals, der Kasimirs zwielichtige Oktoberfest-Bekanntschaft Merkl Franz in seiner immer wieder durchdringenden Unfähigkeit zeigt, seine Situation korrekt zu erfassen: Man sieht dauernd, wie es in seinem Denken pumpt und arbeitet, aber er hat nie die richtige Antwort. Er haut dann halt drauf, rhetorisch und körperlich.

Kasimir wird still vertraut mit seinem sozialen Abstieg, Benjamin Muth umgibt ihn Schicht um Schicht mit einer Melancholie, die den Mann immer menschlicher macht. Und Carolin Waltsgott ist als Karoline glatterdings eine Wucht: Sie lässt die Figur durch alle möglichen Statushöhen und -tiefen steigen und fallen. Sie sammelt Karolines dauernde Hoffnungen und Enttäuschungen, Leidenschaften und Sehnsüchte Szene für Szene wie einen gepflückten Strauß der Erfahrungen zusammen, um schließlich bei einer unglücklich lädierten und zugleich einzigartigen Frau anzukommen. Das ist das Tragische hier: Dass alle immer wieder versuchen, das Leben zu fassen zu kriegen, aber nie einen Zugriff bekommen.

Text als Partitur

Diese Tragik transportiert auch der klangliche Rhythmus der Inszenierung, die nicht im Redefluss gefangen bleibt, sondern den Text als Partitur von Sprache und Stille einsetzt, den Figuren immer auch schweigende Denkprozesse gestattet, einen Kampf um Wörter durchleben lässt, um Antworten. Zudem singen und spielen vom Rand aus – eine Art musikalischer Running Gag – Keyboarder Franz Tröger und Sängerin Cornelia Löhr in wachsend betrunkenem Überdruss immer und immer wieder dasselbe Lied: "Sag mir cuando, sag mir wann?".

Tja: wann? Als ob diese Verlustgeschichten je ein Ende nähmen!

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Reinhardt Fries, Bühne und Kostüme: Annette Mahlendorf, Musikalische Leitung: Franz Tröger, Dramaturgie: Philipp Brammer.
Mit: Benjamin Muth, Carolin Waltsgott, Ralf Hocke, Volker Ringe, Oliver Hildebrandt, Dominique Bals, Alrun Herbing, Julia Leinweber, Cornelia Wöß, Jörn Bregenzer, Franz Tröger, Cornelia Löhr.
Premiere am 10. Februar 2023
Dauer: 95 Minuten, keine Pause

www.theater-hof.de

Kritikenrundschau

Die Inszenierung "lässt einen erschrecken", schreibt Harald Werder in der Frankenpost (10.2.2023). Was Horváth vor gut 90 Jahren geschrieben habe, "Das hat es über die Jahrzehnte bis heute verlustlos geschafft. Das habe Reinhard Friese "in einer ordentlich beklatschten Premiere in beklemmender Weise" deutlich gemacht. Denn er zeige eine Sozialstudie, die erschütternd aktuell sei. "Keine gebügelten Sätze, keine schönen Menschen, das Elend ist im Preis drin." 

Die Inszenierung wurde vom Premierenpublikum laut Michael Thumser vom Hochfrankenfeuilleton (14.2.2023) mit beträchtlichem Beifall bedacht. "Man darf Reinhardt Friese nachsagen, einen hochgradig eigenen Ansatz dafür gefunden zu haben, einen sehr zeitgemäßen," so der Kritiker. "Was zwischen den Figuren sich ereignet – und das ist umso mehr –, das findet im Gesprochenen statt und in der Art des Sprechens. Ein Hörspiel wäre leicht daraus zu machen; in Hof ist es das keineswegs. Denn im Ensemble (und es lohnt sich, genau hinzuschauen) drücken sprechend sich die Kleingebärden aus, Mutationen desillusionierter Mimik und Posen der Enttäuschung, zwanghaft lachende Versuche, froh zu sein, und Momente, wo sich Miesepetrigkeit zur realen Pein auswächst. Auf der Drehbühne dreht sich rädernd eine unbewusste körperliche Feinmechanik der Entfremdung."

 

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