Green Corridors - Münchner Kammerspiele
Mal den Tod an die Wand!
15. April 2023. Jan-Christoph Gockel bringt Natalka Vorozhbyts Stück über die Flucht aus der Ukraine zur Uraufführung. So etwas hat München noch nicht gesehen.
Von Martin Jost
15. April 2023. Als wir unsere Plätze einnehmen, stehen fünf Figuren schon auf der Bühne. Sie haben Koffer dabei, lehnen im Halbdunkel an der tristen Betonwand. Aber ist das wirklich die hintere Wand? Wir hatten die Therese-Giehse-Halle gar nicht so klein in Erinnerung. Das Licht geht aus, Musik hebt an und es passiert etwas Zauberhaftes: Wie mit einem Eiskratzer schabt Sofiia Melnyk Lichtflecken frei, die die Silhouetten der Figuren aufleuchten lassen. Die Zeichnerin sitzt selbst auf der Bühne und arbeitet an einem Tablet. Der ganze Bühnenraum ist Projektionsfläche, auf die Melnyk ihre Animationen zeichnet. Sie färbt die Welt mit breitem Pinsel, dann kritzelt sie abstrakte Möbel und Requisiten. Anfangs beschriftet sie die Figuren mit ihren Rollenbeschreibungen. Alle flüchten aus der Ukraine und haben ganz Unterschiedliches erlebt.
Windeln wechseln an der Grenze
Anton Berman ist meistens damit ausgelastet, die Live-Musik zu spielen, aber jetzt schlüpft er in die Rolle des Grenzbeamten, der die Geflüchteten einzeln zur Passkontrolle bittet. Die Hausfrau aus Charkiw (Maryna Klimova) fragt er nach dem notariell beglaubigten Einverständnis des Vaters, ihre drei Kinder ins Ausland mitzunehmen. Der Vater liegt im Schützengraben, zusammen mit dem Notar. Er habe sie zur Flucht gedrängt, sagt sie. Der Bürokrat bleibt streng. Erst, als die Frau droht, auf seinem Schalter eine Windel zu wechseln, winkt er sie durch nach Europa.
Es ist eine von zahlreichen schwarzhumorigen bis absurden Szenen in Natalka Vorozhbyts Auftragswerk für die Münchner Kammerspiele, in das auch ihre eigenen Fluchterfahrungen eingeflossen sind. Da ist der Ukrainer, der ausreisen darf, weil er auch einen kanadischen Pass besitzt und der Profit aus dem Preisverfall bei Spitzen (den Hunden) aus ukrainischer Zucht schlägt; die Sozialarbeiterin in der Flüchtlingsunterkunft, die sich von Geflüchteten trösten lässt, weil ihr das ganze Leid zu viel wird; oder die Hausfrau, die beim Fernsex über Skype miterleben muss, wie ihr Mann mitten im Orgasmus von einer Rakete getroffen wird.
Hin- und hergerissen
Wir sind andauernd hin- und hergerissen zwischen lautem Lachen und Weinen. Vorozhbyts Text ist an sich schon fabelhaft, aber Jan-Christoph Gockels Inszenierung ruht sich zu keinem Zeitpunkt darauf aus. Es ist erstaunlich, was die Mittel des Theaters aus der kleinen, klaustrophobisch engen Bühne herausholen und was das Ensemble unermüdlich an Präsenz und Emotionen auffährt. "Green Corridors" schildert die Flucht der Figuren und ihre Konflikte zunächst auf Ukrainisch mit deutschen Übertiteln. Nach und nach wird das gesprochene Deutsch mehr, dafür sind dann die Übertitel ukrainisch.
Frei von Pointen ist nur der Höhe- und Wendepunkt des Stücks, wenn die aus Butscha entkommene Nageldesignerin (Tanya Kargaeva) dem österreichischen Witwer mit dem Helfersyndrom (André Benndorff) schildert, wie russische Soldaten sie tagelang vergewaltigten und schließlich ermorden wollten. Eben noch ist sie buchstäblich die Wände hochgegangen, ist gegen den Beton angerannt und hat auf die Mauer eingeschlagen. Jetzt wird sie ganz ruhig. Einmal noch tippt sie die Wand an, bloß mit dem Zeigefinger, da kippt die Wand nach hinten. Das Publikum hält die Luft an in Erwartung eines lauten Knalls, aber die Wand segelt beinahe sanft zu Boden, abgebremst von einem Luftschwall. Der Blick wird frei auf die gesamte Tiefe der Therese-Giehse-Halle. "Ich bin den Europäern, die uns in dieser schwierigen Zeit unterstützen, sehr dankbar", spricht die Nageldesignerin jetzt direkt an uns gerichtet. "Ich bin sehr dankbar, dass sie helfen und dabei Fremde bleiben. Dass sie diesen höflichen, gleichgültigen Blick haben." Und sie verneigt sich vor uns. Oder ist das ein Zusammensacken? Ein Verbeugen?
Herausragend ist auch Svetlana Belesova als geflüchtete Schauspielerin, die nichts Schreckliches erlebt hat, aber "alles spielen kann". Sie ist Vorozhbyts Vehikel, um drei ukrainische historische Figuren in die Erzählung aufzunehmen, und zwar als Rollen, die die Schauspielerin in diversen Biopics spielt. Gemeinsam haben die Dichterin, der Komponist und der Faschist ihren Nationalismus und dass sie als Opfer von politischen Morden enden. Auch als Geflüchtete unter Geflüchteten muss die Schauspielerin viele Tode sterben: Wenn herauskommt, dass sie aus Opportunismus in russischen Fernsehserien mitgespielt hat oder wenn sie die anderen mit ihrem Snobismus nervt, prügeln die sie jedes Mal tot.
Wende in der Erzählung
Wie die Wand sich in die Horizontale gelegt hat, so hat sich auch die Handlung gedreht. Die Frauen haben vom Trauma zur produktiven Wut gefunden. Die zweite Hälfte des Stücks ist ihr Weg zurück ins Leben und – unter Feuerschutz von Milla Jovovich aus "Das fünfte Element" (Svetlana Belesova) – zurück in die Ukraine. Eine selbstgerechte Europäerin (Johanna Eiworth) macht ihnen den Abschied leicht: Sie verkündet stolz, dass sie Karten für ein russisches Theaterstück zurückgegeben hat. Ein Beitrag, für den sie sich verbeugt.
"Green Corridors" erhält am Freitag in München lange Standing Ovations. Gleichgültige Blicke sind keine auszumachen. Ob die Mauer zwischen der Ukraine und Europa auch außerhalb des Theaters gefallen ist, wird sich zeigen. Am 10. Mai feiert Maksym Golenkos parallele Inszenierung von "Green Corridors" Premiere in Kyjiw.
Green Corridors
von Natalka Vorozhbyt in der Übersetzung von Lydia Nagel
Regie: Jan-Christoph Gockel, Musik und Live-Musik: Anton Berman, Live-Zeichnungen: Sofiia Melnyk, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüm: Sophie du Vinage, Kostümbemalung: Sofiia Melnyk, Licht: Christian Schweig, Dramaturgie: Viola Hasselberg.
Mit: Svetlana Belesova, André Benndorff, Johanna Eiworth, Tanya Kargaeva, Maryna Klimova, Julia Slepneva.
Premiere am 14. April 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
https://www.muenchner-kammerspiele.de
Offenlegung: Der Autor ist im Hauptberuf Angestellter der Münchner Volkshochschule GmbH, die mit der Landeshauptstadt München dieselbe Gesellschafterin hat wie die Münchner Kammerspiele.
Kritikenrundschau
"Fabelhaft" findet auch Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (16.4.2023) das Stück, die Inszenierung und die Schauspielerinnen. Natalia Vorozhbyt, "gesegnet mit abgrundtief schwarzem Humor", habe als Hausautorin an den Kammerspielen "eine überbordende, bizarre, schmerzliche, sarkastische und auch an die Nieren gehende Topografie des Krieges" verfasst. Zu deren inhaltlicher wie ästhetischer Wucht passe Jan-Christoph Gockels "überbordender Ansatz" perfekt: "Weil man dieses Stücks sonst kaum Herr werden würde". Svetlana Belesova aus dem Kammerspiele-Ensemble, auf der Krim geboren und seit 2007 in Deutschland, "spielt fabelhaft, ihre drei Kolleginnen aus der Ukraine sind fabelhaft", so Tholl. Herrlich aufgekratzt sei auch André Benndorff als Hunde aufsammelnder Ukrainer; Johanna Eiworth als "Gutmenscheneuropäerin aller Art, immer hysterisch, immer laut" werde von den ukrainischen Kolleginnen an die Wand gespielt. Kurz: "ein Erfolg, der den Kammerspielen in der gegenwärtigen Krisensituation guttut".
Als "Theater der starken Setzungen" lobt Mathias Hejny in der Münchner Abendzeitung (16.4.2023) die Inszenierung. Jan-Christoph Gockel schaffe "das Unglaubliche", die zahllosen Handlungsstränge auf die Bühne zu bringen, ohne unter der Komplexität des Stücks von Natalka Vorozhbyt einzuknicken. "Das Wissen um die Begrenztheit der Kunst, wenn es um Krieg, Folter und Flucht geht, hat er zudem eingepreist", schreibt Hejny. "Furchtlos geht er mit dem oft grotesken Humor der Dialoge und Situationen um."
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Überraschend schlägt Vorozhbyt in ihrem Münchner Auftragswerk einen ganz anderen Ton an: „Green Corridors“ wird zur gallig-schwarzhumorigen, schnell geschnittenen Szenenfolge über die Geschichte der Ukraine als Kette von Leid, Krieg und Gewalt. Als Konstante dieser Szenen, die recht unvermittelt zwischen dem russischen Angriff der Gegenwart und biographischen Skizzen aus dem 20. Jahrhundert wechseln, wird Swetlana Belesowa regelmäßig eingekreist, gegen die Betonwand gedrängt und slapstickhaft ermordet. Für bewusste Irritation sorgen Autorin Vorozhbyt und Regisseur Jan-Christoph Gockel, wenn sie die aktuellen, oft drastischen Beschreibungen der Verbrechen wie z.B. der Vergewaltigungen in Butscha in skurrile, geradezu deplatziert wirkende Pointen münden lassen.
Fragezeichen hinterlässt es auch, wenn die Inszenierung so umstrittene Figuren wie den ukrainischen Nationalistenführer Stepan Bandera, der 1959 im Münchner Exil vom KGB ermordert wurde, als eine weitere Wimmelbild-Figur in die Kriegsgroteske einführt. Einordnungen oder Erklärungen, die für ein westliches Publikum notwendig wären, passen nicht ins Konzept dieser galligen Kriegs-Revue. So taucht Bandera so schnell auf wie er verschwindet, ebenso wie Olena Teliha, eine 1942 von den Nazis ermordete Dichterin, oder der Komponist Mykola Leontowytsch, der 1921 vom Geheimdienst ermordet wurde.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/04/15/green-corridor-muenchner-kammerspiele-kritik/
Meine Kritik im Blog: www.qooz.de
Der souveräne Einsatz der Livezeichnungen im Bühnenbild, die tollen SchauspielerInnen und die sehr gute Musik runden das Gesamtbild ab. Bravo!