Lotterie des Lebens

22. November 2021. Übers Erben wird in Deutschland nicht gerne gesprochen. Es schmeckt nach geschenktem Wohlstand. In Nora Abdel-Maksouds neuer Komödie "Jeeps" wird nun nicht nur Klartext geredet, sondern direkt gnadenlos umverteilt. Per Losentscheid. Ein Irrwitz, dem sich die Münchner Uraufführung in der Eigenregie der Autorin gerne verschreibt.

Von Anna Landefeld

Krawall mit Föhnfrisur: Eva Bay, Gro Swantje Kohlhof in "Jeeps" © Armin Smailovic

22. November 2021. Tatort: Jobcenter. Da stehen sie sich also gegenüber: Sie, im Amtsstubensprech "Kundin", hat die Waffe auf ihn gerichtet und fordert das, was ihr ihrer Meinung nach zusteht. Er, der doch nur Dienst nach Vorschrift macht und nicht weiß, was daran das Problem ist, und wie ihm geschieht. Wenn Gro Swantje Kohlhof hysterisch und ungelenk mit der Waffe fuchtelt und Vincent Redetzki dabei sachbearbeiter-nüchtern bleibt, sein Kollege Stefan Merki vor Schreck die eintopffarbenen Wände hochspringt, ist das auf blitzschnelle Pointe geschriebene Komödie.

Krawall mit Föhnfrisur

Doch eigentlich ist es ein Horrorszenario, das nicht etwa kühnster Autor:innen-Fantasie entspringt, sondern immer wieder brutale Realität ist, wenn mit Schusswaffen, Äxten oder abgebrochenen Glasflaschen randaliert wird, und Mitarbeiter:innen bedroht werden in Deutschlands Jobcentern, nicht umsonst patrouilliert hier seit der Einführung von Hartz IV der Sicherheitsdienst. Nur ist es mal keine Entrechtete, die hier krawallt – ganz im Gegenteil – sondern eine Privilegierte mit Sonnenbrille und Föhnfrisur. Autorin und zugleich Regisseurin Nora Abdel-Maksoud dreht in ihrer Realsatire "Jeeps" den Spieß um. Warum eigentlich "Jeeps"? Vielleicht weil Geländewagen in einer Großstadt wie München und in klimakatastrophalen Zeiten die sinnlosesten aller dekadenten Statussymbole des Spätkapitalismus sind.

JeepsEine Komödie in 3 AktenUraufführungText & Regie: Nora Abdel-MaksoudBühne & Kostüme: Katharina FaltnerMusik: EnikDramaturgie: Olivia Ebert, Nora HaakhMit: Eva Bay, Gro Swantje Kohlhof, Stefan Merki, Vincent Redetzki©Armin Smailovic / Agentur FocusIn der eintopffarbenen Jobcenter-Welt: Bühne und Kostüme von Katharina Faltner © Armin Smailovic

"Jeeps", das ist sie also, die vorerst letzte Premiere an den Münchner Kammerspielen. Die letzte zumindest mit vollbesetzten Reihen. Ab Mittwoch, 25. November, greifen Bayerns neue Corona-Regeln: Für die Kultur heißt das, dass nur noch mit 25 Prozent Auslastung gespielt werden darf – wenn überhaupt. Steigt die Inzidenz (am Wochenende lag sie in München bei etwa 730) auf über 1000, ist ganz Schluss. Die Bayerische Staatsoper hat den Spielbetrieb bis Mitte Dezember schon komplett eingestellt – ein ungutes Vorzeichen.

Für Intendantin Barbara Mundel und die Kammerspiele wird die nächste Woche ein schmerzhaftes Ringen, Bangen und Hoffen. Zynisch könnte man das als "Umverteilungs-Story" bezeichnen, so wie auch "Jeeps" von Nora Abdel-Maksoud eine schwarzhumorige Umverteilungs-Story ist. Eine Utopie? Eine Dystopie? – jedenfalls mindestens eine Neiddebatte auf ein Thema, das ein dringliches ist, das wie ein schwelender Brand immer wieder medial auflodert, beispielsweise wenn 36 Millionenerb:innen wie Marlene Engelhorn "Tax me now" fordern, oder der SPD-Politiker Yannick Haan für ein "Gesellschaftserbe" plädiert, 20 000 Euro für jede:n 21-Jährige:n.

Erben als Klassenfrage

"400 Milliarden Euro pro Jahr werden vererbt, jedes fünfte Kind ist arm", lässt uns Stefan Merki gleich zu Beginn wissen. Achja, und "bloß keine Zartgefühle", schließlich könne man ja nichts dafür. Schnell noch ein old school "Louis-de-Funès-Nein-Doch-Oh"-Witzelchen hinterhergeschoben und durch eine der beiden Drehtüren rein- und rausverschwunden. Lacher im Saal. Funktioniert immer wieder. Über Armut und Geld zu sprechen ist ja auch irgendwie, wenn nicht lustig, dann doch schambehaftet.

Auch bei Nora Abdel-Maksoud ist Erben eine Klassenfrage. Ihre Idee in "Jeeps" ist radikal wie klug: Wer erbt, das soll das Los entscheiden. Besser gesagt das Jobcenter, jenem mitmenschlichkeitsabsorbierenden Symbolort der Hartz-IV-Reformen, der auch in "Jeeps" natürlich eine Rolle spielt, wenn beispielsweise die langzeitarbeitslose Schriftstellerin Maude (Würde wahrend und elegant: Eva Bay) acht Euro mehr im Monat bewilligt haben möchte, weil für 4,86 Euro nur die Gut-und-günstig-Aufbackbrötchen drin sind und die 1,12 Euro Bildungssatz im Monat (!) hinten und vorne nicht reichen. Wieder Lacher im Saal.

JeepsEine Komödie in 3 AktenUraufführungText & Regie: Nora Abdel-MaksoudBühne & Kostüme: Katharina FaltnerMusik: EnikDramaturgie: Olivia Ebert, Nora HaakhMit: Eva Bay, Gro Swantje Kohlhof, Stefan Merki, Vincent Redetzki©Armin Smailovic / Agentur FocusZieht die Lose, die die Welt bedeuten: Stefan Merki als Amtsmitarbeiter © Armin Smailovic

Über Geld reden ist schon irgendwie peinlich. Wie also lösen? In "Jeeps" ist alles ganz einfach: Erbe wird nach dem Tod konfisziert. Wer etwas haben will, muss eine Nummer ziehen, sich in den Wartesaal hocken und darauf hoffen, dass er:sie das Los mit den Wohnungen und dem sechsstellige Vermögen zieht und nicht die Schulden. Der Zufall also, wie auch der Zufall der Geburt meistens über Wohlstand, Bildung und Vorankommen in unserer Gesellschaft entscheidet. Ist das gerecht? Nora Abdel-Maksoud denkt gar nicht erst in solchen moralischen Kategorien. Sie macht das dialektisch durch die Figuren, die sie auf der zu einer schmalen Vorbühne zusammengeschrumpften leeren Spielfläche aufeinanderprallen lässt. Ein Klassen-Clash mit dem Hassobjekt Mittelschicht. Da trifft die Hartz-IV'lerin auf den pragmatischen Jobcenter-Mann Gabor, trifft er auf die Münchner Start-Upperin Silke ("Laptops in Lederhosen"), die nicht müde wird zu erzählen, dass auch sie sich ihre Rucksackreisen durch Kambodscha und Laos mit Kellnern, Aktensortieren und Callcen-…. Schnips.

Schnips, Freeze, Licht aus

Niemand will das hören. Abdel-Maksoud schreitet ein: Licht aus. Spot auf den Mann aus dem Jobcenter (Vincent Redetzki) und sein Kollege Armin (Stefan Merki) erzählt: "Gabor begriff aber früh, dass man es sich leisten können muss, so zu tun, als sei man arm." Immer wieder macht das Abdel-Maksoud, friert das aberwitzige Treiben ein, bevor es für irgendjemanden Partei ergreifen könnte. Schnips. Freeze. Licht aus. Spot an. Eine Nebenhandlung, eine Background-Story, eine Anekdote erzählt, eine Rückblende re-enactet, ein Lied wird gesungen. Schnips. Weiter geht die wilde Drehtüren-Fahrt zwischen Witz und Ernst und selten auch weniger geschickt zwischen Witz und Klamauk (Klein-Penis-Witze über Männer und ihre zu großen "Jeeps").

Dass das funktioniert, liegt nicht an aufwendigen Effekten und Kulissen, sondern am perfekt getakteten, vierköpfigen Kammerspiele-Ensemble, das sich Abdel-Maksouds scharf ziselierte Sätze entgegenschleudert, auffängt und wieder zurückschleudert. Und so wird in diesem Kammerspiel alles ohne Effekt, ohne Amtsstuben-Requisite ganz plastisch, baut sich alles vor dem inneren Auge auf, allein durch Sprache und Schauspiel. Ernste Debatte wird zur kurzweiligen Unterhaltung, die den Widerspruch zwischen altruistischer Umverteilungs-Debatte und egoistischem Handeln des:der Einzelnen mit Humor behandelt. Bei Geld, nein, hört der Spaß nicht auf, sondern geht er bei Nora Abdel-Maksoud erst bitterböse los.

Jeeps 
von Nora Abdel-Maksoud
Uraufführung
Text und Regie: Nora Abdel-Maksoud, Bühne und Kostüm: Katharina Faltner, Künstlerische Mitarbeit Bühne und Kostüm: Janina Sieber, Musik: Enik, Dramaturgie: Olivia Ebert, Nora Haakh.
Mit: Eva Bay, Gro Swantje Kohlhof, Stefan Merki, Vincent Redetzki.
Premiere am 21. November 2021 im Schauspielhaus
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschauen

"Die gesellschaftliche Verteilungsdebatte, festgemacht an einer deutschen Behörde und aufgezwirbelt als rasante Komödie: Was die Münchner Autorin Nora Abdel-Maksoud in und mit ihrem Stück 'Jeeps' bewerkstelligt, hat echte Traute und sehr viel Schmiss", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (23.11.2021). Auf der Bühne gehe „derart die Amtspost ab, dass man richtig gut hinhören und mitdenken musste, um auch wirklich alles zu verstehen, all die Witze, Anspielungen, Kalauer und Pointen, die da in einem Irrsinnstempo rausgehauen wurden“.

"'Jeeps' sei eine im wahrsten Sinne des Wortes durchgeknallte Komödie, "dargeboten von einem Ensemble, das sich mit sichtlichem Spaß dem Aberwitz hingibt, ohne je ins Schmierenkomödiantentum abzugleiten", so Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (22.11.2021). "Aber natürlich ist die Komik kein reiner Selbstzweck. Nora Abdel-Maksoud betreibt Überzeichnung hin zur Kenntlichkeit." Und doch sei 'Jeeps' vielleicht zu komisch geraten. "Der Abend ist ein so großartiges Vergnügen, dass man, was an Gesellschaftskritik in ihm steckt, allzu leicht weglachen kann."

Gelegentlich nah am Rand zum Kabarett verhandele das Stück heutige Fragestellungen. "Die Dialoge sind gepfeffert, mit einem Fingerschnipsen wird der Spot angemacht und ein vierstimmiges Pointenfeuerwerk gezündet", schreibt Hannes Hintermeier in der FAZ (23.11.2021). "'Jeeps‘ ist tempohart, peitscht in neunzig Minuten durch ein Zeitgeist-Minenfeld. Das Ensemble spielt wie aus einem Guss und ist dabei wild entschlossen, sein Publikum zum Lachen zu bringen. Das gelingt eindrucksvoll, trotz Maskenpflicht."

"Um zu solchen bitteren Pointen zu kommen, muss Nora Abdel-Maksoud etwas bemüht einige Fäden verwickeln. Und die absurde Prämisse muss man auch erstmal schlucken, um Spaß zu haben. Den hat man dann aber auch", schreibt Michael Stadler von der Abendzeitung (23.11.2021). "Rasant und mit viel Spielwitz prescht das Quartett durch den Komödien-Parcours, nutzt die beiden in der grünfilzigen Wand eingelassenen Schwingtüren für gelungene Slapstick-Einlagen, wechselt mit gutem Timing zwischen verschiedenen Zeitebenen, zwischen Spiel und frontalem Vortrag."

Abdel-Maksoud fahre als Regisseurin keine große Illustrationsmaschinerie auf. "Sie verlässt sich weitgehend auf ihren bösen, klugen und mit all seinen Rückblenden ohnehin schon komplexen Text – und auf die immense Schlagabtauschfähigkeit ihrer vier Akteur*innen", schreibt Sabine Leucht von der taz (23.11.2021). "Von Nora Abdel-Maksouds wortgewaltigen, knallharten und sich im Pingpong der Positionen abstrus zuspitzenden Analysen dürfte sich kaum jemand nicht wenigstens ein bisschen entlarvt fühlen."

Kommentare  
Jeeps, München: Drastisch
Jeeps ist ein typischer Text von Nora Abdel-Maksoud: hochtourig, mit schnell abgefeuerten Pointen, der sich schmerzfrei auch in die tieferen Regionen der Kalauer und Zoten hinabbegibt.

Am interessantesten ist die neue Groteske von Abdel-Maksoud, wenn sie sich - drastisch und zugespitzt wie gewohnt - mit gesellschaftlichen Missständen befasst: mit den Schikanen der Jobcenter und mit der Schere zwischen Arm und Reich, die durch die Generation der Erben noch größer wird.

Die Idee, das Erbrecht durch eine Lotterie zu ersetzen, gibt der Satire Drive. Der Text wäre aber noch stärker, wenn er diese zentrale Idee noch mehr ausbauen und sich weniger in Nebensträngen verlieren würde.

(Tischprobe als Live-Stream der Münchner Kammerspiele im Januar 2021)
Jeeps, München: Perfekte Sozialkomödie
Es ist unendlich schade, dass die Theater nun wieder in einen Teil-Lockdown müssen, zumal in den Öffnungen "dazwischen" Wunderbares zu sehen ist. Abdel-Maksoud und die Schauspieler*innen präsentieren eine so treffende, wie intelligente und durchgehend vergnügliche Sozialkomödie, die insbesondere das Bildungsbürgertum im Zuschauer*innenraum betrifft und trifft. Das wird verstanden, was das Ziel der bösen Komik aber eben erst recht nicht aus den Augen verlieren lässt.
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