Fressen oder gefressen werden

20. September 2024. Der FC Bayern, die Lederhose, das Oktoberfest: Wer sich am bajuwarischen Brauchtum ergötzen will, muss in Marco Layeras und Martín Valdés-Staubers Abend eine weite Reise antreten. Denn es gibt nur noch eine einzige bayerische Siedlung, auf einem fernen Wanderplaneten. Der Tourismus indes boomt – noch.

Von Susanne Greiner

"Mia san Mia. Eine bayerische Space Odyssey" von Marco Layera und Martín Valdés-Stauber in den Münchner Kammerspielen © Matthias Horn

20. September 2024. Als FC-Bayern-Spieler Thomas Müller 2023 gebeten wird, das Vereins-Motto "Mia san Mia" zu erklären, spricht er vom "Selbstverständnis eines Bajuwaren, dass er gewinnen kann" – samt schweißnasser, behaarter Brust. Ein Selbstbild, das manchem so seltsam erscheint wie der Freistaat Bayern an sich. Kein Wunder, dass Marco Layera und Martín Valdés-Stauber für ihre "Space Odyssey" das Klischee des Bayerischen als Inbegriff eines Kreisens um Identität wählen.

Wer "Mia san Mia" sagt, gehört dazu. Zu einer Gruppe, die eine Erzählung teilt: eine gemeinsame Anleitung zum "So lebt man". Für die Bayern im Stück von Layera und Valdés-Stauber gehören dazu Fleisch und Feste. Doch nicht nur das ist auf einer Erde voll Friede und Heiterkeit verboten, auch das Bayerische an sich ist im lieblichen Einheitsbrei versunken: "Sie haben uns alles genommen, damit wir wie alle sind. Aber wir sind doch wer", konstatiert die einzige Frau und 'Ur-Mutter' der Kolonie auf dem Wanderplaneten, auf den ihr Vater barfuß und mit einem Gewehr auswanderte.

Im Zombieland der Düsternis

Die Bedingungen dort: lebensfeindlich. Ewige Dunkelheit, keine Tiere, keine Pflanzen, die Menschen gleichen Zombies, und gegessen wird die eigene Erde in bester Blut-und-Boden-Ideologie. Wer an die Colonia Dignidad im Heimatland des chilenischen Regisseurs Layera denkt – die heute ein Touristen-Hotspot namens Villa Baviera ist –, liegt richtig. Wobei die Auswanderer von der 'wahren Gemeinschaft' der Familie schwärmen. In der das vergessen wird, was nicht verziehen werden kann.

MiaSanMia3 1200 Matthias Horn uÜberzeugend harsch: Wiebke Puls als Zerrbild einer Mutter, hier mit Elias Krischke © Matthias Horn

Aber das Brauchtum steht. Und das will man den Touristen, die die Kolonie besuchen, angemessen präsentieren. Doch die Tradition ist ins Absurde gedrechselt: Der Tanz um den Plastikmaibaum erinnert an Horrorfilme der Stummfilmära, das Oktoberfest eskaliert zur Farce. Selbst der Schlaf hat sich zu einem schauerlichen Schunkeln im Stehen verwandelt.

Doch dann ist da dieses eine Touristenpärchen mit bayerischen Vorfahren, das Interesse am Gegenüber zeigt, ein gemeinsamer Tanz des Touristen mit einem der Söhne, sogar ein Kuss. Aber das Fremde entsetzt. Und so dient der Tourist bei der traditionellen Treibjagd als böser Wolf, freigegeben zum Abschuss für den Gutachter, der über die weitere Existenz der Kolonie entscheidet. Nach seinem tödlichen Schuss lobt er im Blutrausch die Kolonie in den siebten Himmel. Ein Rausch, der die ganze Familie erfasst – und sie den Toten kurzerhand verspeisen lässt. Endlich wieder Fleisch, das neue Energie verschafft. Die Touristin wird assimiliert. Der Frühling ist da. Und am Ende geht die Sonne auf.

Nicht sehen, wer wir wirklich sind 

Layera und Valdés-Stauber setzen Brauchtum als Mauern gegen das Fremde, Identität als Konzept der Abgrenzung. Ein Austausch ist nicht möglich, nur der komplette Sieg und das Einverleiben, fressen oder gefressen werden."Die Menschheit ohne Krieg ist undenkbar", urteilt die Mutter. Layera bezeichnet das "Mia san Mia" als "Identitätsnarrativ, das uns zum Stolz aufstacheln soll und uns nicht sehen lässt, wer wir wirklich sind". Letztendlich verkommt Tradition zur Kulisse. Das spiegelt sich im Bühnenbild von Jana Findeklee und Joki Tewes: Das Haus der Auswanderer besteht aus einer Pappfront, der Maibaum aus Plastik, die Geranien sind aus Stoff. Die Auswanderer tragen eine karikiert bayerische Uniform, die Trachten für Touristen sind aus Papier.

MiaSanMia5 1200 Matthias Horn uBrauchtum als Mauer gegen das Fremde: Carolina de la Maza und Pedro Muñoz in "Mia san Mia" © Matthias Horn

Das siebenköpfige Ensemble glänzt in der martialisch anmutenden Choreographie von Carolina de la Maza mit synchronen Bewegungen, auch die Dialoge bleiben im abgehackten Takt. Überzeugend harsch ist Wiebke Puls als Zerrbild einer Mutter, die nahezu gelenkig und fließend wirkt. Walter Hess als Gründungsvater glänzt mit monarchischer Grandezza. Die von Bernardo Arias Porras und Pedro Muñoz mit humoristischer Note umgesetzte Szene des gemeinsamen Tanzes scheint fast schon romantisch. Bemerkenswert auch Elias Krischkes Monolog, in dem er die Grausamkeiten der Mutter erinnert, sie aber durch das Summen des Volksliedes vom "Sandmännchen" – das Sand in die Augen streut, damit die Kinder schlafen – vergessen will.

Profitabler Austausch

Auch wenn"Mia san Mia" die Aufnahme von Neuem in eine Identität oder Gruppe als Einverleibung darstellt, zeigt gerade dieses "Volkslied", auch als "Die Blümelein, die schlafen" bekannt, wie profitabel Austausch sein kann: Den Schlaflied-Text pfropfte Anton Wilhelm von Zuccalmaglio im 19. Jahrhundert auf das Weihnachtslied "Zu Bethlehem geboren". Das "Sandmännchen" wurde ein Hit und Teil diverser Volksliedsammlungen. Der Text des Weihnachtsliedes wiederum stammt aus dem 17. Jahrhundert, auch damals auf eine bereits bestehende Melodie aufgesetzt. Die Melodie von Schlaf- und Weihnachtslied ist die Basis. Und die stammt von einem frivolen französischen Chanson. Was für eine Vielfalt.

Mia san Mia. Eine bayerische Space Odyssey
von Marco Layera und Martín Valdés-Stauber
Regie: Marco Layera, Bühne & Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes, Musik & Komposition: Andrés Quezada, Choreografie: Carolina de la Maza, Choreografie Stunts: Pedro Muñoz, Lichtdesign: Christian Schweig, Dramaturgie: Martín Valdés-Stauber.
Mit: Bernardo Arias Porras, Walter Hess, Frangiskos Kakoulakis, Elias Krischke, Carolina de la Maza, Pedro Muñoz, Wiebke Puls.
Premiere am 19. September 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Weltraumtouristen seilen sich in eine bayerische Diaspora ab. "In den folgenden 90 Minuten wagen sie die kulturelle Annäherung an das, was 'Mia san Mia' hier bedeutet. Und das ist, man kann es nicht anders sagen, ein absoluter Albtraum", so Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (21.9.2024). Natürlich sei schnell klar, dass der Abend eine kritische Auseinandersetzung mit der Vorstellung von Heimat und Brauchtum sein soll. "Blöd, dass es in der Inszenierung trotz gegenteiligen Ansinnens eben doch genau so aussieht, als wolle der Regisseur im Jahr 2024 in München den Bayern Bayerntümelei vorwerfen." Fraglich sei es, die Idee von Heimat statt irgendwie ernst zu nehmen und zu diskutieren, einfach als Wahnsinn einiger Zombies zu verwerfen. Fazit: "Ein klassischer Fall von: Da war die Idee wohl besser als die Umsetzung."

"Keine Frage: Die Kostüm- und Maskenbildner-Abteilungen der Münchner Kammerspiele haben ganze Arbeit geleistet. Beeindruckend!", sagt Christoph Leibold auf BR24 (20.9.2024). Die Tumbheit des von der eigenen Identität besoffenen Bajuwaren-Völkchens im Stück werde allerdings "mit so brachial-pauschalem Bayern-Bashing vorgeführt, dass man schon nach wenigen Minuten begriffen hat, für wie fragwürdig es die beiden Theatermacher halten, sich mit der Mia-san-Mia-Mentalität zu identifizieren", so Leibold weiter. "Klar, Zerrbilder der Mehrheitsgesellschaft zu zeichnen, ist in der Regel unproblematisch. Jedenfalls in keiner Weise so heikel, wie tendenziell diffamierende Klischees über Minderheit zu verbreiten." Erkenntnisfördernd sei das Breittreten von Stereotypen aber so oder so nur in den seltensten Fällen. "Und die Aufführung – trotz Brimborium und Bombast-Sound – daher dementsprechend öde bis ärgerlich."

"Die rund 90  Minuten gleichen einer Fahrt in der Geisterbahn", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (22.9.2024) "Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Doch einer der Unterschiede zwischen Theater und Volksfest ist, dass Ersteres differenzieren kann, wo Zweiteres der große Gleichmacher ist. „Mia san Mia" gehört dennoch eher zur Kategorie Dosenwerfen." Die Grundidee sei gut, und es sei auch "nichts einzuwenden gegen eine zünftige Bayern-Persiflage", so Schleicher. Das Problem von „Mia san Mia" sei, dass Layera und Valdés-Stauber in ihrem Text sträflich oberflächlich blieben und ausschließlich die durchgenudelten (ober-)bayerischen Klischees verwursteten. "Das aber ist zu wenig." Auch die Verbindung zur Geschichte der Colonia Dignidad falle dem "Geisterbahn"-Charakter des Abends zum Opfer und komme nicht beim Publikum an.

"Der Plot hängt frühzeitig durch wie eine ausgezutzelte Weißwurschthaut", schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (21.9.2024). "Diese 'bayerische Space Odyssey' mit Elementen von Tanzperformance bleibt dramaturgisch auf unsicheren Beinen wie ein Wiesn-Besucher nach fünf Litern Festbier." Zumindest aber sei sie visuell reizvoll. "Nicht zuletzt sind es die Schauspielerinnen und Schauspieler, die dem etwas verhuschten Saisonstart im Schauspielhaus Glanz verleihen: Bernardo Arias Porras und Elias Krischke als von lichtlosem Dunkel und fleischloser Ernährung schwermütig gewordenes Brüderpaar, der wie so oft beeindruckende Walter Hess als greiser Stammvater einer untoten Sippe und die zuverlässig anbetungswürdige Wiebke Puls als empathiefrei zickiges Muttermonster."

 
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