Im Reißwolf zweier Diktaturen

21. September 2024. In ihrem Roman folgt Natascha Wodin den Spuren ihrer früh verstorbenen ukrainischen Mutter – und entdeckt eine Geschichte, die viele Osteuropäer*innen teilen. Das Universelle interessierte den ukrainischen Regisseur Stas Zhyrkov, der die Familiengeschichte gleichwohl nicht ganz geglückt auf die Bühne bringt.

Von Sabine Leucht

"Sie kam aus Mariupol" an den Münchner Kammerspielen, nach Natascha Wodins Roman inszeniert von Stas Zhyrkov © Maurice Korbel

21. September 2024. "Wenn ihr gesehen hättet, was ich gesehen habe" und "Das tut nicht weh, das ist schön": Zwei Mantras einer Kindheit. Mit dem ersten öffnete die Mutter ihren beiden Töchtern ein Fenster in ihre Vergangenheit – und schlug es schnell wieder zu. Mit dem zweiten zeigte sie ihnen den Ausweg: "Ich kann nicht mehr. Ich gehe ins Wasser. Kommt ihr mit?" Natascha Wodin war gerade erst zehn, als ihre Mutter sie verließ. Ihr Mantel, das letzte Kleidungsstück, das sie noch aus der Ukraine bei sich hatte, lag säuberlich zusammengelegt am Ufer des Flusses.

Sternstunde autofiktionalen Erzählens

Es ist der Schmerz der ohne Antworten Zurückgelassenen, der Wodin viele Jahre später dazu bringt, den Namen ihrer Mutter ins russische Internet einzugeben. Eine Recherche beginnt, das Ergebnis ist "Sie kam aus Mariupol", ein mehrfach preisgekrönter Roman, in dem nach und nach eine bruchstückhafte Familie plastisch wird und mit ihr die verwickelte Geschichte Osteuropas. Eine Geschichte, die viele Osteuropäer teilen und die auch in ein dunkles, kaum aufgearbeitetes Kapitel der deutschen Geschichte hineinleuchtet: Denn Wodins Eltern waren Zwangsarbeiter in Deutschland, wurden von den Nazis mit haltlosen Versprechen aus ihrer Heimat gelockt, kaserniert, versklavt, misshandelt, gedemütigt und ermordet: "Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe."

"Sie kam aus Mariupol" ist eine Sternstunde autofiktionalen Erzählens: Ein süffiger Pageturner, in dem die Autorin detailfreudig und warm von dem Kind erzählt, das sie war, und zugleich die Vergangenheit ihrer Mutter aufrollt. Zwei ineinander verschachtelte Perspektiven, zwei leicht andere Tonarten, aber immer ist viel Empathie, Lebensklugheit und ein leichtes Augenzwinkern dabei. Ganz gleich, wie schrecklich es gewesen sein muss, als "displaced person" und "Russin" im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen und gemobbt zu werden oder "in den Reißwolf zweier Diktaturen" geraten zu sein: zuerst unter Stalin in der Ukraine, dann unter Hitler in Deutschland. Opfer? Täter? Kollaborateure? Es ist kompliziert.

Tief ins Dickicht eines bewegten Jahrhunderts

Den ukrainischen Regisseur Stas Zhyrkov interessiert Wodins Buch als literarisches Meisterwerk, aber auch dessen osteuropäischer Universalismus. Und er schätzt die Mischung aus Mut und Hoffnung, die die Autorin bewegt hat, sich auf die Suche nach ihrer Vorgeschichte zu machen. Den Abend sehe er auch als "große Therapie", wie er der SZ verriet.

Sie kam aus Mariupol 2 CMauriceKorbel uMutter und Tochter: Michaela Steiger und Annika Neugart in "Sie kam aus Mariupol" © Maurice Korbel

Das sind gute und nachvollziehbare Gründe, den Roman auf die Bühne zu bringen. Vor allem die Hoffnung darauf, dass nach noch so viel Schmerz irgendwann wieder das Glück winken könnte, hat jemand, der in der Ukraine geboren ist und noch Freunde und Familie im Kriegsgebiet hat, bitter nötig. Und sie beruhigt und tröstet auch alle nur mittelbar Betroffenen.

Doch zwischen den drei Haltepunkten rutscht Zhyrkov der Zugriff aus der Hand. Die Achtung vor dem Meisterwerk lässt ihn inhaltlich und erzählerisch zu eng an der Vorlage kleben. Der Wille, eine Familiengeschichte aufzudröseln, in der sich möglichst viele Osteuropäer wiederfinden können, führt tief hinein ins Dickicht eines bewegten Jahrhunderts, in dem sich Stammbäume vielfach verästeln und verzweigen.

Zwischen Humor und Hollywood-Melodram

Bald verliert man die Übersicht darüber, wer nun genau mit wem über welche Ecken verwandt ist. Und im Einzelnen schwindet auch das Interesse. Denn was einen beim Lesen noch mitnahm auf eine quasi-detektivische Entdeckungsreise, rattert Johanna Eiworth herunter, als gelte es, möglichst schnell ans Ziel zu gelangen. Eiworth spielt die erwachsene Natascha und zieht sich als leicht manisch wirkende Haupterzählerin im Verlauf des fast zweistündigen Abends auch weitere Familienmitglieder über. Annika Neugart spielt das Kind und Nataschas Tante Lidia und unterfüttert das große Drama erfreulich oft mit einer soliden Schicht trockenen Humors. Der junge Konstantin Schumann spielt alle Männerrollen und Klavier.

Nur Michaela Steiger ist auf recht starre Weise auf Nataschas Mutter Jewgenia festgelegt und steht über lange Strecken in dem mit Gaze überzogenen Gerüst eines Hauses, das die Schauspielhaus-Bühne der Münchner Kammerspiele dominiert. Versonnen-melancholisch blickt sie gen Himmel oder lehnt malerisch am Geländer einer Treppe wie in einem Hollywood-Melodram.

Zur großen Geste gegriffen

In dem Haus, dem die Bühnenbildner*innen Jan Hendrik Neidert und Lorana Díaz Stephens nur noch einen Schreibtisch beigesellt haben, herrschen sowieso eigenartige Zustände. Wer sich hinter seinen mit Schwarz-Weiß-Fotos und Sofiia Melniks Kreidezeichnungen bedeckten semintransparenten Wänden befindet, erstarrt in Posen oder zerfällt geradezu als Person: Eckige, zerhackte Bewegungen und eine in einzelne Krächzer und Giggler zerlegte Lautsprache dienen Zhyrkov offenbar als Marker einer fragmentarisierten Welterfahrung.

Sie kam aus Mariupol 3 CMauriceKorbel uHaus der Geschichte © Maurice Korbel

Außerhalb des Hauses hingegen spult sich recht konventionelles Erzähltheater ab, in dem viel zu viele Informationen untergebracht werden müssen, als dass die spielerisch nur angetippten Figuren Kontur gewinnen könnten. Bisweilen schleudert der Karren in Richtung Kabarett, Farce oder sogar Boulevard, wenn Nataschas Online-Recherchehelfer aus einer Bodenluke klettert. Und weil Empathie und Hoffnung dabei unter die Räder zu geraten drohen, breitet zwischendurch immer mal wieder jemand einladend die Arme aus.

"Sie kam aus Mariupol" ist ein unbefriedigender Abend geworden, auch, weil er oft so vorschnell wie pauschal zur großen, hohlen Geste greift, während er doch in einigen Momenten selbst aufgezeigt hat, wie es anders gegangen wäre. Zum Beispiel so schlicht und ergreifend wie in der Szene, in der Jewgenia gezeugt wird und Eiworth und Schumann sich nur aneinander lehnen müssen – und so viele an diesem Akt beteiligten Emotionen liegen offen da.

Sie kam aus Mariupol
nach dem Roman von Natascha Wodin in einer Fassung von Pavlo Arie
Regie: Stas Zhyrkov, Bühne und Kostüm: Jan Hendrik Neidert, Lorena Díaz Stephens, Musik Bohdan Lysenko, Dramaturgie: Viola Hasselberg, Licht: Stephan Mariani, Animation: Sofiia Melnyk. 
Mit: Johanna Eiworth, Annika Neugart, Konstantin Schumann, Michaela Steiger.
Uraufführung am 20. September 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de


Kritikenrundschau

"Die Innerlichkeit der Romanvorlage, die neben den Themen Zwangsarbeit und Kriegstrauma die Komplexe Familiengeschichte und Identität, Entwurzelung und Migration, sowjetische Diktatur und politische Verfolgung sowie Trauma und Schweigen verhandelt, übersetzt Stas Zhyrkov in ein markant-reduziertes Bühnensetting. (...) Ein visuell schlüssiges Konzept", schreibt Chris Schinke in der taz (23.9.2024). "Die Unfähigkeit, individuellen Sinn aus der zermalmenden Kraft der Geschichte zu gewinnen", dominiere in Zhyrkovs atmosphärisch dichter Roman-Bearbeitung, "die mitunter penibel nah an der literarischen Vorlage inszeniert ist", so Schinke. "Trotz der schwermütigen, dramatischen Handlung findet Stas Zhyrkov mit seinem Stück auch zu einem Ton der Hoffnung" – zusammen mit Wodins Roman biete die Inszenierung einen Schlüssel für das emotionale Verstehen des Leids der "Ostarbeiterinnen" in Deutschland. 

"Pavlo Arie und das vierköpfige Ensemble haben sich bei ihrer Adaption des Romans eng an die zentralen Handlungsstränge gehalten", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (23.9.2024). Zhyrkovs Inszenierung erzähle klassisch, vertraue auf den Text und die Schauspielerinnen, deren "genaues, empathisches Spiel" das Publikum sicher durch jedes Verwandtschaftsgeflecht navigiere. "Die Unfähigkeit über Erlittenes zu sprechen, unter der Wodin einst litt, wird auf der Bühne zu einem bedrohlichen Raunen, Seufzen, Flüstern der Eltern, an dem jedes Nachfragen zerschellt." Einzig auf die eingespielten Szenen mit animierten Wellen sowie auf manche Untermalung mit Musik hätte Zhyrkov verzichten dürfen, findet der Rezensent: "Dass persönliches Erleben und historische Wahrheiten nicht unbedingt miteinander zu tun haben müssen, wird sehr klar."

Stas Zhyrkov füge dem Roman kein neues, aktuelles Kapitel hinzu, erwähne die Gegenwart nicht einmal, "was erstmal merkwürdig erscheint, vielleicht aber konsequent ist", schreibt Anne Fritsch in der Abendzeitung (23.9.2024). "Die Geschichten von Krieg und Vertreibung wiederholen sich und hinterlassen Narben über Generationen, das wird in Wodins Buch mehr als deutlich." In der Inszenierung nehmen das Bühnenbild lediglich den vorderen Teil der Kammerspiel-Bühne ein. "Alles wirkt ein wenig gedrängt und leider ist deutlich spürbar, dass das nicht aus ästhetischen, sondern aus praktischen Gründen so ist. So ist das Stück schlicht einfacher zwischen aufwendigeren Produktionen im Spielplan zu platzieren", so Fritsch und ist auch sonst nicht zufrieden: Die Inszenierung verheddere sich in all den Handlungssträngen und Figuren. "Es gelingt Zhyrkov nicht, den einzelnen Beteiligten wirklich Persönlichkeit oder ein Profil einzuhauchen." Die "bewegende und wichtige Geschichte" ähnele deshalb hier einem seltsam sachlichen Wikipedia-Eintrag über Ahnenforschung. Immerhin: "Von den beiden jungen Neuzugängen im Ensemble darf man noch einiges sehen, sie haben eindeutig Potenzial."

Die Auseinandersetzung mit der Ukraine sei richtig und wichtig, findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (22.9.2024, €). Aber die Chance, "anhand der Vorlage das unfassbare Los einer Zwangsarbeiterin in der entmenschlichenden Nazi-Rüstungsindustrie, das Los einer verloren im Nachkriegsdeutschland zugrunde gehenden Frau plastisch werden zu lassen", werde hier verpasst. Vieles bleibe nur "angerissen", Regisseur Zhyrkov beschränke sich "ohne Not auf viel zu kurze 110 Minuten Aufführungsdauer", dafür hetze er seine Darsteller "in emotionale Ausbrüche, die nichts mehr erzählen".

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