Seifenoper mit Lerneffekt

von Maximilian Sippenauer

München, 26. September 2021. Von allen erzählerischen Mitteln das stärkste ist die Zeit. Es ist die Zeit, die vergeht, die Judith Herzbergs Trilogie "Die Träume der Abwesenden" die Wucht eines großen Gesellschaftsportraits entfalten lässt. Dreißig Jahre Familiengeschichte werden hier verhandelt: Coming of Age – and Leaving. Erzählt konzentriert über drei Familientreffen: Hochzeit, Hochzeitstag, Totenwache. Regisseur Stephan Kimmig bringt alle drei Stücke, nebst einem kleinen Monolog, als fünfstündige Mammutinszenierung im Münchner Residenztheater auf die Bühne. Hier altert der Zuschauer mit. Der Rücken schmerzt. Die Luft unter den obligatorischen Masken wird schal. Vor allem aber setzt geistiger Fettbrand ein, der einem das Schicksal einer jüdischen Biografie in Europa klarer sehen lässt als jeder gut gemeinte Debattenbeitrag.

Ein ganzes Küchenland von Konfliktherden

Herzbergs Saga beginnt im Jahr 1972. "Leas Hochzeit" heißt der erste Teil, den die niederländische Autorin 1982 verfasst hatte. Tatsächlich erzählt er aber bereits von Leas dritter Hochzeit, womit allein schon Bindungs- und Fliehkräfte innerhalb der Seelenchemie dieser Familie begreiflich werden. Lea ist die Tochter von Simon und Ada, beide KZ-Überlebende. Er ein Verdrängungskünstler und sanfter Patriarch. Sie eine Sphinx, die im Verdacht steht, wahnsinnig zu werden über das Unaussprechliche, worüber diese alte Generation so mannigfaltig zu schweigen weiß. Lea heiratet Nico, ambitionierter Medizinier, dessen jüdische Mutter und Bruder vergast worden sind. Nicos Verhältnis zu seinem nichtjüdischen Vater und dessen Zweitfrau ist kalt. Auch da sind Dory, Nicos Ex-Geliebte, und Alexander, der erste Ehemann Leas und Adas Lieblingsschwiegersohn. Und natürlich "Arschloch-Hans", der zuerst die liebe Prien und im Verlauf der weiteren Stückes noch zwei weitere Frauen heiraten wird. Nicht zu vergessen Riet, die alleinstehende Kriegsmutter Leas, die selbige als kleines Mädchen während der Nazi-Besatzung versteckt hatte.

Traeume der Abwesenden 3 SandraThen uBarbara Horvath und Max Rothbart im Bühnenbild von Katja Haß © Sandra Then

Diese Ausgangssituation scheint verwirrend. Doppelte Geliebte, doppelte Mütter. Ständig wechselnde Liaisons und Techtelmechtel, eine ganzes Küchenland von Konfliktherden. Ist sie aber, und darin liegt das Brillante der Texte, nicht. Das liegt an Blick und Erzählweise der Autorin. Judith Herzberg, die dieses Jahr 87 Jahre alt wird, entkam selbst den NS-Schergen in den Niederlanden nur knapp – versteckt auf dem Land. Ihre Eltern wurden deportiert, überlebten das Konzentrationslager. Die Texte basieren auf ihren eigenen Erlebnissen und denen von Juden aus Amsterdam, deren Erinnerungen Herzberg in den Siebzigern sammelte und literarisch verdichtete. Kein gravitätisches Drama, sondern hunderte, kurzer, präzise beobachteter Szenen und Dialoge, die fließend ineinandergreifen wie eine Screwball-Comedy von Ernst Lubitsch oder Peter Bogdanovic.

Eine Tragödie in Form einer Komödie

Alle hier haben Vorzüge und Macken. Kriegsmutter Riet etwa könnte sehr gut mit dem Tod von Ada leben, da Simon dann endlich für sie frei würde. Der dagegen zeugt, während seine Frau im Sanatorium auf Hilfe hofft, ein Kind mit Dory, der Ex seines Schwiegersohns und dessen späterer Wieder-Geliebter. Lea, die selbst abgetrieben hat, verteufelt das ungeborene Kind ihres Vaters als Bastard und avanciert doch mit der Zeit zu dessen Ersatzmutter.

Dreißig Jahre familiärer Verwicklungen werden verhandelt, bis Vater Simon 1998 stirbt. Die Familie komplett am Totenbett: trauernd, streitend, verhasst und doch aneinandergebunden. Nicht nur durch Verwandtschaft, sondern vor allem durch jene dunkle Materie einer kollektiven, direkten und indirekten Holocausterfahrung, die für jede Generation neu wirkt. Für die, die durch unbegreiflichen Zufall überlebten, gilt ein trotzender Energieerhaltungsimperativ: Es muss weitergelebt werden, damit dieses Sterben nicht umsonst war.

Trotz der Länge trägt das 15-köpfige Ensemble des Residenztheaters diesen Abend dank einer enormen Spielfreude. Allesamt schlüpfen sie mit Lust und naturalistischer Präzision in die verschiedenen Altersstufen und Seelenzustände ihrer Figuren. Die dutzenden Auf- und Abgänge, oft nur halbsatzlangen Dialoge geben der Inszenierung enormes Tempo und Witz. Auch weil Stephan Kimmig den Schauspieler*innen den Raum lässt. Das Bühnenbild selbst ist reduziert. Ein Tortenbüffet untermalt die Hochzeit im ersten Teil, Malerfolie reicht als Auskleidung für den zweiten, und ein paar Hocker genügen für die Familienrunde am Schluss.

Historisierender Ansatz

Ansonsten lebt die Inszenierung vor allem vom Spiel mit der Beleuchtung. Kaltes Neonlicht weicht zu Ende einem gewaltigen, dank dutzender Birnen orange glühendem Leuchter. Das metallene Skelett eines Globus, das sich drehende Modell eines Atoms, darin wie in dieser Familie um einen dunklen Kern die Teilchen kreisen. Daneben führt Max Rothbart, als stete dunkle Präsenz und Mahnung, akustisch durch die Zeit und das Stück. Mit gurgelnden Synthesizern, Tonmaschinen, die Gesagtes rückwärts sprechen, und einem Mikrofon, mit dem er das Innere der Gesellschaft abhorcht wie mit einem Stethoskop.

Traeume der Abwesenden 1 SandraThen uMax Rothbart, Steffen Höld, Barbara Horvath und Kronleuchter © Sandra Then

Natürlich wirkt die inszenatorische Zurückhaltung über die gesamten fünf Stunden auch ermüdend. Etwas mehr Fantasie hätte sicherlich nicht geschadet. Auch inhaltlich bleibt das Stück brav am Text. Keine Bezüge zum gegenwärtigen Aufflammen des Antisemitismus, kein Weiterdenken der Konfliktlinien in eine vierte Generation. Anlässe hätte es nicht zuletzt aufgrund der jüngsten innerjüdischen Feuilleton-Twitter-Wars zwischen Maxim Biller und Max Czollek zur Genüge gegeben. Auch wenn der Abend also ab und zu etwas konventionell daherkommt, macht genau der Fokus auf die inhärente Qualität des Textes die Stärke der Inszenierung aus. Und es ist, andersherum gesagt, geradezu erfrischend, in der Ubiquität des postdramatischen Diskurstheaters einmal nicht bis zur Besinnungslosigkeit zudeklamiert zu werden. "Die Träume der Abwesenden" ist ein Hybrid aus morbider Seifenoper und einem tiefsinnig konzertierten Familienepos, darin ein*e jede*r bei genauem Hinhören und Zusehen enorm viel zu entdecken und lernen vermag.

Die Träume der Abwesenden
Eine Trilogie ("Leas Hochzeit" – "Heftgarn" – "Simon") von Judith Herzberg
Inszenierung: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Choreografie: Bahar Meriç, Musik: Nils Strunk, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Michael Billenkamp, Almut Wagner.
Mit: Steffen Höld, Barbara Horvath, Liliane Amuat, Hanna Scheibe, Robert Dölle, Katja Jung, Thomas Lettow, Carolin Conrad, Max Rothbart, Lukas Rüppel, Lisa Stiegler, Christoph Franken, Linda Blümchen, Niklas Mitteregger, Delschad Numan Khorschid.
Premiere am 26. September 2021
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Fast ist es als würde sich der sonst gerade auch im psychologischen Feingefühl so sichere Regisseur nicht an die souverän verspielte Leichtigkeit trauen, mit der Judith Herzberg in der Lage ist, auf der Klaviatur ihrer wahrlich schweren Thematik zu spielen", findet Sven Ricklefs im Bayerischen Rundfunk (27.9.2021). Das "beherzte" und "spielbereite" Ensemble komme nicht wirklich in Gang, der "abgründige Humor" Herzbergs werde nur gestreift. Und so standen für den Kritiker an diesem Abend weder Regisseur, noch Regieteam noch Ensemble im Mittelpunkt, sondern schlussendlich "die inzwischen 87jährige Judith Herzberg, die die Ovationen des Münchner Publikums sichtlich bewegt entgegen nahm."

"Grandios" sei diese Inszenierung, findet Rezensent Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2021). Im Gedächtnis bleibe ein "feiner, genauer Abend, der sorgsam Herzbergs Chronologie folgt." Im Einsatz der Bühnenmittel sei Kimmig "nicht immer subtil", das Gefühl des Publikums werde "auch mal mit dem langsamen Satz aus Schuberts Streichquintett gesteuert". Viel entscheidender sei das 15-köpfige Ensemble, das "großartig" spiele, "horizontal in den Begegnungen der Figuren zueinander, vertikal im Altern, in der Veränderung der eigenen Physis und der Emotionalität". Herzbergs Stücke, hebt der bewegte Kritiker am Schluss seines Textes hervor, müsse man in Deutschland "wieder und wieder spielen".

Mathias Hejny von der Abendzeitung (28.9.2021) bescheinigt den Dialogen "raffinierte Leichtigkeit". Der kryptische Titel verspreche hingegen Geheimnisvolles, was der Text nicht halten könne und auch nie gewollt habe. Der leuchtende Riesenglobus verströme überwältigend Sakrales, "aber das Überwältigendste ist, wie triumphal das Ensemble gegen diese Atmosphäre anspielt“. Der Applaus gelte der Autorin, die "kein Pathos braucht, um ein jenseits jeder Vorstellung liegendes Ereignis wie den Holocaust im Alltag der Zeit danach spiegeln zu können".

"(W)erden hier Träume oder Traumata verhandelt? Beides liegt in den über hundert kurzen Szenen, die tieftraurige menschliche Komödien im Spiel mit der Zeit widerspiegeln und dennoch an Humor, Lakonie, Ironie, ja auch an Kritik an aller Ich-Bezogenheit nicht sparen, untrennbar nah beieinander", schreibt Teresa Grenzmann von der FAZ (30.9.2021). "Zart und kraftvoll – im eindringlichen Ensemblespiel – tragen alle fünfzehn Figuren beide Seiten in sich. Mutig beginnt der fünfstündige Theaterabend mit einem Vorgriff auf den Schluss, präsentiert im eskalierenden Familienstreit alle Charaktere in ihren verstrickten Beziehungen. Stellt Müdigkeit gegen Lebendigkeit, franst aus und schießt Pointen ins Leere, vermeidet zunächst auch jenes Pathos der großen symbolischen Effekte, das gegen Ende hin doch Überhand gewinnen wird."

 

 

 

 

 

 

 

Kommentare  
Träume der Abwesenden, München: vertieft
Hat Kimmig das nicht schonmal am DT in Berlin gemacht?Unter dem Titel "LEBEN"? War toll damals. Einer der Theaterabende, die, wenn man sie erlebt hat, einen für immer vertieft auf jüdischen Nachkriegsleben blicken lässt.
Träume der Abwesenden, München: Erinnerungskultur
Was Egbert Tholl da schreibt, macht Kimmig. Es wieder und wieder spielen zu lassen. Diese Herzberg-Trilogie wurde unter dem Titel "ÜberLeben" von ihm schon am Staatsschauspiel Stuttgart vor vielen Jahren inszeniert. Es gibt Stoffe, Stücke, die lassen einen nicht mehr los.

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Lieber nordkettenhund,
Sie haben recht, allerdings kam die Produktion "Über Leben" 2011 am Deutschen Theater Berlin heraus. Hier die Nachtkritik: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=5490:ueber-leben-stephan-kimmig-stemmt-judith-herzbergs-holocaust-grundierte-familientrilogie-&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40
Viele Grüße aus der Redaktion!
Träume der Abwesenden, München: Lebensthemen
ÜBER LEBEN, Premiere 15.12.2000 im Kleinen Haus des Stuttgarter Staatstheaters, Stück bestehend aus "Leas Hochzeit" und "Heftgarn". Auch da war die Autorin bei der Premiere anwesend.

(Ob die Autorin bei der Premiere anwesend war, wissen wir nicht. Aber es stimmt, dass es 2000 in Stuttgart die genannte Aufführung gab. Beste Grüße aus der Redaktion: jeb)
Träume der Abwesenden, München: Erinnerung
Doch das stimmt, Judith Herzberg kam beim Schlussapplaus der Stuttgarter Premiere auf die Bühne, ich erinnere mich daran!
Träume der Abwesenden, München: 2012?
Unter dem Titel „Über Leben (Leas Hochzeit. Heftgarn. Simon.)" war die Triologie als Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin im Juni 2012 an den Münchner Kammerspielen in der Intendanz von Johan Simon zu sehen. Auch hier führte Stephan Kimmig bereits die Regie. Ich meine auch hier trat Judith Herzberg bei Schlussapplaus auf die Bühne.
Träume der Abwesenden, München: Ratlos
Nach dem zweiten Bild verließen wir ratlos die Aufführung. Vielleicht sollte der Regisseur auch mal in das Münchner Metropol-Theater gehen.
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