Zeit der Ebbe

23. Juni 2022. Man kann am unglücklichen Lieben auch Gefallen finden: Elsa-Sophie Jach inszeniert Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" als One-Man-Show eines Emo-Helden. Mit Texten von Karoline von Günderrode und mit Johannes Nussbaum als charismatischem Solisten.

Von Sabine Leucht

"Werther. Ein theatralischer Leichtsinn" in der Regie von Elsa-Sophie Jach amResidenztheater München © Katarina Sopcic

München, 22. Juni 2022. Ein knallvolles großes Haus zur Premiere, und auf der Bühne wird praktisch ein Solo gegeben: Das hat man derzeit auch nicht jeden Tag. Nun gut! Die einen kommen vermutlich wegen Goethe ins Residenztheater. Die anderen, darunter mutmaßlich etliche Jüngere, kommen in Erinnerung an Elsa-Sophie Jachs Überraschungserfolg "Die Unerhörten", wo die missbrauchten und zum Schweigen gebrachten Frauen der Antike aufstanden und das Wort ergriffen, und am Ende auch das Publikum aufstand und es – so erzählt man es sich zumindest von der Premiere – einen kleinen Theater-Rave gegeben haben muss.

Wer wegen Johannes Nussbaum kommt, hat die besten Karten. Zwar ist er zu Beginn nicht zu sehen, aber es ist unverkennbar die brüchig-melodische Stimme des jungen Österreichers, die aus dem Off nach einigen historischen Selbstmordfällen aus der Goethezeit greift: Junge Leute, die mit dem "Werther" in der Tasche in den Tod gingen. Eltern, die Goethe dafür verantwortlich machten – und ein Zitat von ihm selbst: "In stiller Trauer einige Tage beschäfftigt um die Scene des Todts, nachher wieder gezwungen zu theatralischem Leichtsinn."

Hunger nach dem großen Gefühl

Der Satz stand Pate für den Abend, der "Werther. Ein theatralischer Leichtsinn" heißt und Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" nicht alleine geradestehen lassen will für den Hunger nach dem großen Gefühl, und koste er das eigene Leben. "Das Leiden der Jungen" steht denn auch sehr allgemein auf dem Vorhang, auf dem zunächst nur blasse Blumen blühen. Sie werden später noch viel bunter. Erst aber verwandelt sich der Schriftzug nochmal und sagt an: "Die Leiden der jungen Günderrode“. Die Dichterin war eine der vielen, die den "Werther" gelesen hatte, unglücklich liebte – und sich das Leben nahm. Zuvor schrieb sie kluge und bittere Sätze, die jetzt diesen Abend rahmen. Und leichtsinnige wie das folgende Credo: "Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben; ich mag's nicht erleben, dass mich die Jugend verlässt".

Werther c Katarina Sopcic 6020Bruder Leichtfuß unter Blumenblüten: Johannes Nussbaum als Werther © Katarina Sopcic

Ein Bruder Leichtfuß ist auch Nussbaums Werther. Blau-weiße Haare, Riesenschleife auf der Brust, Patchwork-Hose mit rutschendem Bund: Ein Emo-Kid, das die Einsamkeit kultiviert ("so allein, so glücklich") und für "die arme Leonore", die ihn liebt, nur ein Lippenkräuseln übrig hat. Gleich nach dem ersten Günderrode-Text ist er auf der Bühne, schäkert mit dem Publikum ("Wie froh bin ich, dass Sie hier sind. Und Sie und Sie…"), in dem er irgendwo links-mittig seinen Freund Wilhelm imaginiert, und flicht Gedichte der "Sappho der Romantik" in Goethes Sätze.

Mit Johannes Nussbaum durch Himmel und Hölle

Nussbaum ist ein charismatischer Akteur. Man begleitet ihn gerne über die nie lang werdenden eineinhalb Stunden in den Himmel und die Hölle, sieht ihn plötzlich sprachlos werden in Erinnerung an den ersten Blick auf seine Lotte und sich vor der Zumutung Albert in die Albert-Karikatur retten, die er in seiner One-Man-Show gleich mit erledigt: Die Hose noch ein wenig höher gezogen und den Spießer-Verlobten ausgepackt!

Er füllt tatsächlich energetisch den ganzen großen Raum, auch wenn ein Großteil der Zeit nur auf der Vorderbühne gespielt wird, wo die Blumen auf dem Gazevorhang immer greller werden. Es ist eine ganz und gar künstliche und künstlich beengte Welt, in die Bühnen- und Kostümbildnerin Aleksandra Pavlović das Stürmen und Drängen verbannt. Die beiden Live-Musikerinnen, die mit Synthesizer, Klavier und Bassklarinette mehr sanft drängende Grundtöne setzen als die Skala der Emotionen breit auszupinseln, tragen Engelslockenperücken. Und die Welt hinter der Gaze endet nicht weit entfernt an einem grünen Lackvorhang, an dem Werther Blumenpflücken simuliert, bevor er einen zerzausten Strauß aus der Ecke holt und am Geländer eines angetäuschten schwarzen Pools zerdrischt.

Werther c Katarina Sopcic 5535Im Paradies der Hippies: Bettina Maier, Johannes Nussbaum und Sarah Mettenleiter auf der Bühne von Aleksandra Pavlović © Katarina Sopcic

Das passt alles schon irgendwie. Zu Werthers wachsender Entfremdung von der Trost spendenden Natur, vielleicht auch zur Club-Atmosphäre, die im Programmheft steht, bestimmt aber zum tauben Wirklichkeitsverlustgefühl der Corona-Jahre, das Günderrodes mehr als 200 Jahre alte Sätze verblüffend exakt treffen: "Dies Zeitalter deucht mir schal und leer. Wir sind jetzt in einer Zeit der Ebbe." Die scharfsinnige, sprachgewaltige und unendlich traurige Zeit- und Selbst-Analyse, mit der der Abend schließt, lässt einen bedauern, nicht mehr von dieser Dichterin gehört zu haben, die im Schatten Werthers kaum Licht abbekommt.

Flapsiger Womanizer

Wie schon bei "Die Unerhörten" bleibt der Text auch hier ein Flickenteppich. Es wird nichts Ganzes daraus. Die künftige (und jüngste) Hausregisseurin des Residenztheaters hatte auch eine Stärkung der Frauenposition im Blick, da die von Lotte im Buch fehlt. Da hatte Cosmea Spelleken in "werther.live" die besseren Ideen. Hier sekundieren die Frauen auf und vor der Bühne – neben den beiden Musikerinnen die Souffleuse – dem sich in seinem Leiden auch gefallenden Mann. Und wie Nussbaum sie bübisch bei ihren Vornamen ruft - "Bettina!", "Sarah!", "Steffi" – da erinnert der Abend nicht zum ersten Mal an die Arbeiten von Leonie Böhm.

Der im Titel behauptete, unkonturiert bleibende Leichtsinn erstreckt sich bis in die Flapsigkeit des Tons, den dieser Werther pflegt. Damit meint der Abend wohl auch die Jungen, die in der Pandemie vergessen wurden und nur die Tapeten anstarrten, als sie eigentlich blühen und brennen sollten. Ihnen gilt der besagte erste Übertitel: "Die Leiden der Jungen“. Oder frei nach Günderrode: "Man spricht viel von den Leiden des jungen Werther, aber andere Leute haben auch ihre Leiden gehabt, sie sind nur nicht gedruckt worden."

 

Werther. Ein theatralischer Leichtsinn
von Johann Wolfgang Goethe mit Texten von Karoline von Günderrode
Regie: Elsa-Sophie Jach, Bühne und Kostüme: Aleksandra Pavlović, Komposition und Musikalische Leitung: Roman Sladek, Max Kühn, Licht: Barbara Westernach, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Johannes Nussbaum, Bettina Maier (Synthesizer und Bassklarinette), Sarah Mettenleiter (Synthesizer und Klavier).
Premiere am 22. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, ohne Pause

www.residenztheater.de

Kritikenrundschau

"Ein reizvoller Ansatz, der sich allerdings in der Inszenierung nicht wirklich erfüllt", dafür werde der Figur Karoline von Günderrode, die Schillers Werther um eine weibliche Perspektive ergänzen soll, zu wenig Raum gegeben, schreibt Anne Fritsch im München-Teil der SZ (23.6.2022). Die angekündigte "Verschwesterung" bleibe so aus. "Immerhin wird das Ungleichgewicht - auch das männlicher und weiblicher Autorenschaft - thematisiert".

Es seien schon viele "mehr oder weniger gelungene Versuche" unternommen worden, Goethes "Werther" für die Gegenwart zu retten, schreibt Robert Braunmüller in der Münchner Abendzeitung (23.6.2022) und findet, Elsa-Sophie Jachs "theatralischer Leichtsinn" gehöre nicht dazu. Weder mache die "an allem desinteressiert wirkende" Inszenierung "mit dem tragischen Ernst von Werthers Gefühlen" ernst noch mit dem "schreienden Unernst seiner müßiggängerischen Existenz", urteilt der Kritiker. So gesehen bete er für Werther, dass ihm – wenn sich nach einer guten Viertelstunde zum ersten Mal die Vergeblichkeit seiner Liebe erweist und er erwägt, die Aufführung abzubrechen – "nicht mal eine Schulklasse ihr donnerndes 'Ja!' entgegensetzt". 

Jach stelle gleich zu Beginn historische Suizide vor, berichtet Michael Schleicher im Münchner Merkur (24.6.2022). Doch dann wechsle die Inszenierung geschickt den Ton: Nicht nur die Intensität des Leidens werde gezeigt, sondern "ein bisschen auch von dessen Lächerlichkeit" erzählt. Damit gelinge Jach etwas, "was leider einigen Inszenierungen unter der Intendanz von Andreas Beck abgeht", so der Kritiker: "ein eigener Zugriff auf den Stoff".

 

Kommentar schreiben