Atomare Zettelwirtschaft

22. Mai 2022. Zwischen Wirklichkeit und Traum oszilliert die schräge Zettelwirtschaft von Schriftsteller Nis-Momme Stockmann, der sich selbst als Fukushima-Katastrophen-Tourist in der Uraufführung von Jan Christoph Gockel reflektiert – in fünffacher Ausführung. Ein poetischer Abend zwischen Barock-Dekor und Video-Technik, der nach der Realität von atomarer Energiegewinnung fragt.

Von Wolfgang Reitzammer

"Der unsichtbare Reaktor" am Staatstheater Nürnberg in der Regie von Jan-Christoph Gockel © Konrad Festerer

22. Mai 2022. "Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen" formulierte Matthias Claudius empfindsam und treffend. Postmodern weitergedacht heißt das bei dem Schriftsteller Nis-Momme Stockmann: wenn mich das Goethe-Institut nach Japan einlädt, dann mache ich daraus ein theatralisches Reiseprojekt mit politischem Hintergrund.

Notizblock, Fotoapparat und Videokamera

Es war 2012, ein Jahr nach dem katastrophalen atomaren GAU in Fukushima, als Stockmann sich entschied, in dieser Region mit Notizblock, Fotoapparat und Videokamera zu recherchieren. Es entstanden Interviews mit dort lebenden Menschen, Nachfragen bei Fachleuten und viele Bilder einer zerstörten und verstrahlten Landschaft. 2016 fuhr er noch einmal dorthin, die Sammlung von Notizzetteln und audiovisuellen Dateien schwoll an. 2021 hätte dann die nächste Reise mit einer Gruppe von Schauspieler:innen stattfinden sollen, weil "wahr ist es nur, wenn man da war". Die Pandemie verhinderte diesen Schlussteil des Projekts, und Stockmann kam auf eine einerseits abwegige, andererseits geniale Idee: er mietete sich den Japaner Yuichi Ishi als Stellvertreter. Ishi war Eingeweihten durch "Family Romance LLC" (2019), den Film von Werner Herzog bekannt, in dem der deutsche Regisseur das skurrile Geschäftsmodell des Japaners dokumentierte. Bei der Firma "Family Romance" kann man Stellvertreter für alle Lebenslagen buchen.

DerUnsichtbareReaktor 1 KonradFersterer uLlewellyn Reichman als Teil des reisenden Schriftstellers Nis-Momme Stockmann © Konrad Festerer

Damit war nach zehnjähriger Projekt-Arbeit der Weg frei für die Uraufführung des Stückes am Staatstheater Nürnberg in der Regie von Jan-Christoph Gockel. Wer jetzt freilich ein nüchternes politisches Doku-Drama über den Reaktor-Unfall und seine Folgen erwartet, wird enttäuscht. Dem reisenden Schriftsteller Stockmann geht es vielmehr um eine Selbstreflexion seiner eigenen Rolle als Katastrophen-Tourist und um einen oft sehr emotionalen Drahtseilakt zwischen Wirklichkeit und emotionaler Träumerei.

Multimediale Zettelwirtschaft

Dazu bringt er sich selbst als fünfmal gespaltene Persönlichkeit auf die Bühne, viermal in Gestalt der Schauspieler:innen Julia Bartholome, Llewellyn Reichmann, Moritz Grove und Raphael Rubino, einmal durch seinen medial vermittelten Stellvertreter Ishi. Mit Kostümen in Holzfäller-Karos, Brillen und Plastik-Perücken illustrieren sie die Selbstreflexionen des Autors im Stile eines "Making Of": Wie soll ich anfangen? Ist das Thema nicht schon längst vom Tisch? Je näher man einer Sache kommt, desto unschärfer wird sie! Teilweise fürchtet man, das gewagte multimediale Projekt könnte sich in einer Art "Lost In Translation" verlieren: "Sag was, damit es weitergeht!", "Ich bin ratlos", "An dieser Sache bin ich gescheitert".

DerUnsichtbareReaktor 4 KonradFersterer uIm Video Yuichi Ishii, auf der Bühne Julia Bartolome und Moritz Grove in der fragilen Bühnenwirklichkeit von Jan-Christoph Gockel © Konrad Festerer

Doch am Ende ist es ein Fundstück am Strand von Fukushima, eine auf einer Schutthalde liegende Tee-Tasse, die als geisterhaftes Sinnbild des ausgelöschten Lebens in den Vordergrund rückt. Oder ist es doch nur ein banaler Glühwein-Becher vom Nürnberger Christkindlesmarkt? Die Wahrheit ist fragil.

Verstörende Dialektik und putzige Tsunami-Wellen

Regisseur Gockel hat zusammen mit Julia Kurzweg (Bühne und Kostüme) die schräge Stockmannsche Zettelwirtschaft geradezu poetisch in Szene gesetzt. Mit einer verstörenden Dialektik aus schwülstigem Barock-Dekor und moderner Video-Technik wird die Doppeldeutigkeit des Stückes unterstrichen. Auf der großen Leinwand sieht man die Video-Passagen aus Fukushima, auf der Bühne tanzen die Akteure mit fluoreszierenden Umhängen im Schwarzlicht. Zahnräder aus den Anfängen der industriellen Revolution befördern ein Stockmann-Alter-Ego mit einem Wolken-Ballon wie Deus ex machina aus dem Schnürboden, putzige Tsunami-Wellen schieben sich als Laubsäge-Arbeiten über die Bühne, dazu mutiert als Soundkulisse der Song "La mer" zu einem pumpenden Techno-Beat.

Warum in Deutschland am 30. Juni 2011 der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde, warum in Frankreich – und auch in Japan! – unverbrüchlich an der Atomenergie festgehalten wird, das kann und will dieses Theaterstück nicht erklären. Wie aber mit der Realität von (unsichtbaren) Katastrophen umgegangen werden kann, ohne in eine resignative Paranoia zu verfallen, das haben Stockmann und Gockel kongenial ausgebrütet.

 

Der unsichtbare Reaktor
Projekt von Nis-Momme Stockmann und Jan-Christoph Gockel
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne und Kostüme: Julia Kurzweg, Dramaturgie: Brigitte Ostermann, Tatsuki Hayashi, Musik: Arne Zank, Kamera und Video: Lion Bischof, Mario Hirasaki, Licht: Tobias Krauß, Künstlerische Produktionsleitung: Greta Călinescu, Ayumi Seki, Hiroko Tanabe, Dolmetscherin: Jasmin Dose.
Mit: Julia Bartolome, Llewellyn Reichmann, Moritz Grove, Raphael Rubino und Yuichi Ishii.
Premiere: 21. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

Das Stück sei ein komisch selbstreflexives Künstlerdrama, so Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (24.5.2022). Bei aller Katastrophen-Fakten-Kontamination sei es ironisch gebrochen und verschachtelt komplex und habe "in der Regie des mit großer szenischer Fantasie begabten Jan-Christoph Gockel" einen theatersinnlichen Schau-, Denk- und Mehrwert. Und weiter: Das Konzept überzeuge total, sei als Vexierspiel und Befragung von Wahrnehmung und Repräsentation klug gedacht und gemacht. "Nicht zuletzt steht das ganze Stück stellvertretend für den Versuch, eine Katastrophe zu fassen, sei es eine atomare Verseuchung oder eine Seuche. In der Ausführung krankt es dann aber doch am übergroß zur Schau gestellten Ego des Autors."

Wolf Ebersberger von den Nürnberger Nachrichten (23.02.2022) sah "(e)in einziges Kabinett der Spiegel und Spiegelungen, immer neuer Facetten und komischer Brechungen", bei dem man sich jedoch mitunter frage, "worum es eigentlich geht und inwiefern das Thema selbst – wie in Japan auch – nicht völlig peripher zu werden droht“. "Der Kritiker schließt: Zwanzig Minuten und ein Diskurs weniger, und dieser Abend wäre kurzweilig gewesen …"

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