Phädra - Staatstheater Nürnberg
Der Leib brennt und erfriert
von Sabine Leucht
Nürnberg / Online, 23. April 2021. Als Phädra die Nachricht vom Tod ihres Mannes Theseus überbracht wird, steigt Ulrike Arnold langsam aus ihren Schuhen. Sei es aus Angst davor, dass das Schwanken auf hohen Absätzen ihren inneren Aufruhr verraten könnte. Sei es, weil jener Aufruhr nur diese eine legitime Handlungsoption findet. Bald wird Phädra die Schuhe wieder anziehen, denn Theseus kommt bekanntlich doch noch heim. Und das bringt sie dann wirklich zum Schwanken, hat sie doch zwischenzeitlich ihrem Stiefsohn Hippolyt ihre Liebe gestanden – und nun zerfällt ihr alles unter dem Gewicht der Schande und des antizipierten Blicks der anderen auf sie.
Streng interpretiert
Jean Racines "Phädra" wurde 1677 uraufgeführt. Ganze 344 Jahre später nimmt Regisseurin Anne Lenk die nicht eben geschmeidige Schiller-Übersetzung der form- und konventionsstrengen Tragödie und zieht die Not ihrer Figuren behutsam ins Heute. Dabei ist ihre Inszenierung, die das Staatstheater Nürnberg online zur Premiere bringt, alles andere als emotional, sondern eher streng, kühl und fast spröde.
Die Schauspieler scheinen in Judith Oswalds Cinemascope-breitem Bühnenfenster zuweilen fast zu Standbildern erstarrt. Vor allem die Frauen. Eine halbe Ewigkeit rührt sich Llewellyn Reichmans Arikia nicht von der Stelle, bis Hippolyts Liebesgeständnis sie entfrostet und zu ein paar staksigen Schritten animiert. Und Julia Bartolome startet als Phädras vertraute Önone mit in der Luft erstarrten Händen in den Abend, während Phädras Hände pausenlos über ihren Körper streifen, um sich seiner Realität zu vergewissern. Es ist großartig, wie Ulrike Arnold es schafft, ein nude-farbenes, ihr eng auf den Leib geschneidertes und augenscheinlich weiches Kostüm als eine Art Panzer zu tragen, die Oberarme wie am Leib festgetackert, auf dem Kopf einen gegen alle Wetter sturmfest gemachten Perückenaufbau à la Hannelore Kohl. Dabei vibriert in diesem Erscheinungskorsett ein mit Scham belegtes Begehren: "Ich fühlte meinen Leib brennen und erfrieren … O unglückseliges Verhängnis."
In Lenks Ansatz ist die Sprache ein Gefühlscontainer, das Sprechen mehr noch als bei Racine Handlungssubstitut, und Phädras Tragödie die einer zum ersten Mal verliebten älteren Frau, die ihrer eigenen Liebeswürdigkeit nicht mehr traut. Lenks Inszenierung setzt auf eine Mischung aus Spannung und Distanz: Das Ensemble hat sich so weit zu den fremden Blankversen hin gestreckt, dass man ihnen wunderbar folgen kann, ohne dass sich ihre Fremdheit abschleifen würde. Und es sind nicht nur die Corona-Regeln, die die Figuren in den oft schlaglichtkurzen Szenen zueinander auf Abstand halten. Es sind die Verhältnisse.
Im Raum des Mannes
In einem männlich konnotierten, düsteren Raum – Lenk nennt ihn im Programmheft "zigarrenfarben" – zwischen Theseus’ Schreibtisch und dem Sessel, in dem er meditiert, nehmen die Figuren Aufstellung und immer neue Beziehungen zueinander ein. Manchmal entsteht vor der aus drei Lamellenjalousien bestehenden Rückwand ein Triptychon, auf dem die je mittlere Figur auf die ein oder andere Art geopfert wird. Das spärliche, durch die Jalousien einfallende Licht lässt Film Noir-Stimmung aufkommen.
Ab und an schiebt jemand die Jalousien auseinander und sieht durch einen Schlitz nach draußen, dann rückt die Kamera ganz nah an ein Gesicht heran. Man sieht ein Detail wie ein Auge, später Phädras Mund, der Tabletten schluckt. So wie auch der Herausblickende vermutlich nur Details der Außenwelt zu sehen bekommt und wir nur Splitter der wahren Gefühle der Figuren unter oder jenseits ihrer Worte. Zum Beispiel die Sache mit den Schuhen. Oder das Sich-Winden und -Verkrampfen von Maximilian Pulsts Hippolyt, als zu Beginn noch kein Liebesgeständnis (zu Arikia) aus ihm herauswill. In der einzigen gemeinsamen Szene, die Pulst und Arnold hier haben, offenbart Phädra dem Stiefsohn ihre geheime Sehnsucht und beider Körper werden für den Moment ganz weich. Sie sinken auf den hochflorigen Teppich herunter – und jeder für sich leicht eingerollt, bilden sie gemeinsam ein offenes Oval.
Es soll nicht sein
Es ist nicht mehr als eine Möglichkeit, die in diesem abstrakten Bild aufscheint und die Lenk ihrer Phädra schenkt, die in ihrer feministischen Lesart das Recht hat, ihre Sehnsucht zu leben. Wenigstens ein paar Minuten lang, an die sich eine Episode backfischhafter Ausgelassenheit anschließt, in der sich Phädra mit gestrecktem Arm auf den eigenen Hintern klatscht und keckernde Geräusche macht. Aber es soll nicht sein, nicht in diesem nüchternen, kalten Raum – Theseus’ Raum –, durch den die Geister der Konformität und des Patriarchats wehen. Was platt klingt, wenn man es so hinschreibt, spiegelt sich bei Lenk sehr subtil in der Blick- und Körperregie wieder. Ihrem präzisen Schauspielertheater kommt die unaufgeregte Bildregie von Sami Bill freundlich entgegen, die der Skepsis der Regisseurin gegenüber gelenkten Zuschauerblicken folgend viele Totalen und einige fernsehspielartige Close-Ups zeigt. Jedoch: Das erklärte Ziel ist das Liveereignis auf der Bühne und dieser Abend nur eine Etappe auf dem Weg.
Phädra
von Jean Racine
Deutsch von Friedrich Schiller
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Dramaturgie: Andrea Vilter, Musik: Kostia Rapoport, Licht: Tobias Krauß, Bildregie: Sami Bill.
Mit: Ulrike Arnold, Julia Bartolome, Nicolas Frederick Djuren, Michael Hochstrasser, Anna Klimovitskaya, Maximilian Pulst, Llewellyn Reichman.
Online-Premiere am 23. April 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
"Die Szenen werden separiert von Schwarzblenden, es surrt ein wenig Musik, die Sprache ist streng. Und doch erlebt man aufregende eineinhalb Stunden, packend, wahr", schreibt Egbert Tholl im München-Teil der Süddeutschen Zeitung (26.4.2021). Das liege auch am wundervollen Umgang mit der Sprache. Anne Lenk habe die Figurenkonstellationen sorgfältig im Raum komponiert, "alles, was hier entsteht, entsteht durch das Reden. "Im Sprechen erschaffen sich die Figuren", machen sich die Sprache mit jener perfekten Ambivalenz zu eigen, die keineswegs den kunstvollen Bau negiere, aber durchdrungen sei von Menschlichkeit.
"O Himmel, seufzt die Königin. "Und weil Ulrike Arnold eine so hervorragende Schauspielerin ist, wirkt dieses Seufzen der Phädra so doppeldeutig und dramatisch zerrissen wie sie selbst", lobt Wolf Ebersberger in den Nürnberger Nachrichten (26.4.2021). "Finster und in statischen, dem eigenen Los ergebenen Positionen vollzieht sich diese Geschichte unglücklicher Liebe. Sie entwickelt dabei aber durchaus einen leisen Sog, der – wie ein besserer Film von David Lynch – sowohl dämonisch als auch immer wieder komisch sein kann." Ob alle Einfälle dem Stück förderlich sind, sei eine andere Sache. Fazit: "Bei Lenk fühlt man sich mit den tragikomisch agierenden, ihr Leben ungelenk vermurksende Personen eingesperrt, zur Gnade gibt es Galgenhumor. Und eine kluge ruhige Sprachregie, die Racine – in Schillers Übersetzung – gar nicht gestrig klingen lässt.
"Anne Lenk verschiebt die Akzente und verschreibt sich einem der wenigen Tabus, das auch im 21. Jahrhundert nicht ganz selbstverständlich zu brechen ist: das der alternden Frau, die zum ersten Mal wahre Lust und Leidenschaft empfindet – und zwar für einen Mann, der ihr Sohn sein könnte", so Barbara Behrendt im rbb Kultur (24.4.2021). Anne Lenk inszeniert das als düsteres Kammerspiel. Im Stil des Film Noir spiele die Video-Aufzeichnung mit Licht, Schatten und harten Gegenschnitten. "Auch Lenk hat ihre Schwierigkeiten mit Racines sperriger Tragödie, in der so viel gesprochen und so viel herumgestanden wird. Und doch wird in der Starre auch deutlich, wie sehr die Figuren in ihren Körpern gefangen sind – und sich allein in ihre Sprache retten können." Fazit: "Bei aller Treue zur Schillerschen Übersetzung ist es ein erstaunlich erfrischender, ein empathischer Blick, mit dem die Regisseurin die reife, begehrende Frau einen Schritt aus der Selbstkasteiung heraustreten lässt, bevor sie untergeht."
"Anne Lenk, die Regie gern als Arbeit am Text begreift und dadurch geschickt und anspruchsvoll die Intelligenz und das Können ihrer Schauspieler herausfordert, setzt ganz auf die intensiven, erotisch aufgeladenen Binnenenergien", schreibt Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.4.2021). In ihrer so eindrucksvollen wie eleganten Inszenierung führe Lenk das alte Stück einleuchtend in die Gegenwart, sperre die Welt aus und lotse sie damit erst recht wieder zurück. "Überzeugend geht das Distanzgebot des Werks mit seinen herrschaftlichen Hierarchien in den derzeit geltenden Corona-Abstandsregeln auf. Das ausgezeichnete Ensemble bremsen die indes nicht, es spielt souverän und fesselnd über die Entfernungen hinweg."
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Ah, jetzt habe ich's doch gefunden. Man darf nur nicht nach Logik gehen und es übers Menü versuchen. (Was für eine Katastrophe doch diese superinnovativ gestalteten Theater-Websites sind. Ein Desaster!)