Stücke im Stahlbad

von Janis El-Bira

Berlin, 22. Juni 2018. Heute Abend trage ich zwei Gesichter, sagt die großartige Burg-Schauspielerin Dorothee Hartinger ziemlich genau zur Mitte dieser langen Theaternacht: Vorne die Idee und hinten die Realität. Der Satz, eigentlich über die europäische Gegenwart gesprochen, passt gut auf diesen ganzen Theaterereignis: Zur Idee gehört zum Beispiel, dass Uraufführungen neuer Stücke, wie sie bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin traditionell am vorletzten Festivaltag im Paket angeboten werden, in erster Linie dem vorliegenden Text verpflichtet sind. Zur Realität hingegen, dass das nicht immer so hinhaut. Und so stand das Kritikerkollegium schon am frühen Freitagabend auf dem Theatervorplatz, winkte mit einem kleinen Einlegezettel und rief mit leuchtenden Augen: "Es gibt einen Skandal!" Doch dazu später.

Simone Kuchers "Eine Version der Geschichte"

Aus den ersten zwei Akten dieses Uraufführungsmarathons ist zunächst völlig skandalfrei zu berichten, dass die Sache mit Europa vertrackt bleibt, ihre theatrale Grablegung allerdings mal mehr und mal weniger lustig ausfällt. Gar nicht komisch jedenfalls ist Simone Kuchers Schwermutsanfall "Eine Version der Geschichte", mit dem die Autorin vor zwei Jahren auch bereits zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen war. Darin entdeckt eine amerikanische Musikerin den blinden Fleck ihrer Familiengeschichte. Sie lernt, dass ihr Großvater als Kind womöglich nur knapp dem Völkermord an den Armeniern entkommen sein muss, dass es womöglich ausgerechnet eine türkische Familie war, die ihn rettete, und dass diese Umstände womöglich deshalb unter dem Mantel des Schweigens blieben, weil sich mit Herkunft und Identitätszuschreibungen bis in die Gegenwart Politik machen lässt.

LangeNachtATT eine version 560 RaphaelHadadSchauspielhausZuerich xArmenische Geschichte und ein Hauch von W.G. Sebald in Simone Kuchers "Eine Version der Geschichte" © Raphael Hadad / Schauspielhaus Zürich

Womöglich, denn das Grauen des massenhaften Mordens hinterlässt neben den Toten auch unter den Überlebenden vor allem erinnerungstechnisch Schwerversehrte. Die Fäden in die Vergangenheit verlieren sich, weil über das Unsagbare nur auf Umwegen gesprochen werden kann: "Wann werden Geschichten zu Geschichte?", fragt der Text einmal. Was bleibt, sind die Artefakte, Fotos, Tonaufnahmen und Alltagsgegenstände, die ihre eigenen Spuren legen. Wer ihnen folgt, mag bald glauben, dass die Welt doch im Innersten zusammenhängt, alles mit allem verbunden ist. Darin und im melancholisch-hohen Ton erinnert Kuchers Stück verblüffend stark an die Texte von W.G. Sebald – freilich ohne die Tiefe seiner (un)kulturhistorischen Reflexionen zu erreichen.

Überhaupt strebt "Eine Version der Geschichte" merklich zum Roman und vielleicht liegt es auch daran, dass sich Regisseur Marco Milling mit seinem Zürcher Ensemble so schwer damit tut, lebendiges Theater zu machen. Gespielt wird sehr säuberlich in einem verglasten Schaukasten, auf dessen Rückwand eine Mindmap der historischen Orte und Ereignisse entsteht. Über Kopfhörer sprechen die Toten zu den Lebenden, über Surround-Lautsprecher zum Publikum. Immer wieder erklären Text und Inszenierung ihre eigenen narratologischen Voraussetzungen. Theater wie ein übermotivierter Archivbesuch, bei dem am Ende doch wieder nur die feinverschnörkelten Handschriften vergangener Zeiten im Gedächtnis bleiben: Sehr traurig, weil lang' schon tot.

Miroslava Svolikovas "europa flieht nach europa"

Solche Probleme hat das Primetime-Stück dieser Nacht nicht. Miroslava Svolikovas "europa flieht nach europa" ist weder Drama, noch Roman, sondern "dramatisches Gedicht" und muss sich deshalb mit lästigen Figuren- und Dramaturgiefragen schon rein gattungstechnisch weniger herumschlagen. Das koproduzierende Wiener Burgtheater nimmt das unter der Regie von Franz-Xaver Mayr als dankbare Vorlage, den mitunter heftig mahnenden Text über den stationsweisen Verfall der europäischen Friedensidee in eine ziemlich rotzgarstige Revue zu übersetzen. Als Mutter der Nationen ist die fantastische Dorothee Hartinger bemüht, ihre verzogenen Kinder unter einem k.u.k.-Reifrock zu halten, der beim Lüpfen eine Unzahl milchgebender Zitzen offenbart (nicht das einzige staunenswerte Kostüm von Korbinian Schmidt).

LangeNachtATT europa flieht nach europa 560 ReinhardWernerBurgtheater uMutter Europa (rechts in Schwarz: Dorothee Hartinger) und ihre Kinder: in Miroslava Svolikovas "europa flieht nach europa" © Reinhard Werner / Burgtheater Wien

Im Ensemble klirren die Satzstummel wie schönste Screwball-Einzeiler, beim "Karneval der Wirklichkeit" hängen blutsaugende Konquistadoren ein "Willkommen"-Schild an den bühnenfüllenden antiken Tempelbau und wenn am Ende über der Leiche Europas auch noch Britney Spears' "Baby One More Time" gesungen wird, schwimmt man längst in einem Stahlbad aus Ironie – was hier entschieden mehr Spaß macht, als es eigentlich darf. Die Autorin wirkt beim Schlussapplaus sehr einverstanden mit der ganzen Angelegenheit. Kein Wunder, wenn sich der eigene Text als theatral derart belastbar erwiesen hat.

Sebastian Hartmann baut Björn SC Deigners "In Stanniolpapier" um

Bleibt also noch der Skandal. Dieser bestand darin, dass der Autor Björn SC Deigner ein Björn-SC-Deigner-Stück geschrieben hat, aus dem der Regisseur Sebastian Hartmann einen Sebastian-Hartmann-Theaterabend gemacht hat. Soweit, so erwartbar, doch bei Uraufführungen offenbar ein Grund für massiven Ärger. Derart hoch schaukelten sich die Differenzen, dass sich die Jury, stellvertreten durch den Theaterkritiker Bernd Noack, bemüßigt sah, sich in aller Form von "der Fassung" (ja, mit Anführungszeichen) Sebastian Hartmanns zu distanzieren und diese auf einem sehr eifrig verteilten Einleger als "sinnverdrehend" zu geißeln. Im Programmheft wurde das Wort "Uraufführung" im Einvernehmen mit dem Regieteam durchgestrichen. Ein bemerkenswerter Vorgang.

LangeNachtATT in stanniolpapier 560 ArnoDeclair uDer lauteste Schrei seit Vinge/Müller: Linda Pöppel spielt "In Stanniolpapier" von Sebastian Hartmann nach Björn SC Deigner © Arno Declair

Tatsächlich hat Hartmanns Version von Deigners "In Stanniolpapier" herzlich wenig mit der Vorlage zu tun – und ist dennoch (oder gerade deshalb?) ein ziemliches Ereignis. Eine krassere, zugleich produktivere Zumutung dürfte jedenfalls auf Berliner Bühnen seit dem Reinickendorf-Ausflug von Vegard Vinge und Ida Müller nicht zu sehen gewesen sein. "In Stanniolpapier" erzählt die Geschichte der Prostituierten Maria, von den sieben Migränejahren als Jugendliche mit "dreihundert tabletten im monat" bis zum Leben auf dem Straßenstrich. Nüchtern und unsentimental. Bei Hartmann bleiben von den 16 engbedruckten Textseiten noch gefühlt 150 unverbundene Schlagwörter übrig, die von Linda Pöppel in den Raum geschrien werden, während Frank Büttner und Manuel Harder ihren vollständig nackten Körper betatschen, besteigen, zertrümmern, in Zucker begraben und über den Boden schleifen. Hundert Minuten lang.

Hartmann kehrt die Sachlichkeit der Vorlage radikal um, weil sich für ihn diese Dinge nicht anders beschreiben lassen als im Sinne einer Gesamtvernichtung von Körper und Geist, bis die äußeren Misshandlungen geradezu in die Aphasie führen. Alptraumbilder im Hartmann-typischen Industrial-Look aus Rot und Schwarz, Haut und Beton. Dafür baut er eine unentrinnbare Performance-Folterkammer mit doppelter Leinwand auf, die in ihrer Transmedialität aus Theater, Installation, Musik, Animations- und Spielfilm schwer erträglich, mitunter peinlich, aber zu jedem Zeitpunkt faszinierend konsequent ist. Nicht zuletzt deshalb, weil sie in ihrem selbstbewusst provozierten Clash mit der Vorlage am Ende dieser Nacht einige Grundsatzfragen aufwirft: Wem gehören und warum und zu welchem Zweck schreibt man Theatertexte?

 

Eine Version der Geschichte
von Simone Kucher
Uraufführung
Regie: Marco Milling, Bühne: Simon Sramek, Kostüme: Liv Senn, Licht: Daniel Leuenberger, Soundtrack: Léo Collin, Dramaturgie: Benjamin Große. 
Mit: Lisa-Katrina Mayer, Isabelle Menke, Christian Baumbach, Ludwig Boettger, Matthias Neukirch.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

europa flieht nach europa
von Miroslava Svolikova
Uraufführung
Regie: Franz-Xaver Mayr, Bühne: Michela Flück, Kostüme: Korbinian Schmidt, Musik: Levent Pinarci, Licht: Norbert Gottwald, Dramaturgie: Florian Hirsch.
Mit: Sven Dolinski, Alina Fritsch, Dorothee Hartinger, Marta Kizyma, Valentin Postlmayr, Marie-Luise Stockinger.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

In Stanniolpapier
von Björn SC Deigner
nach einer Idee von Anna Berndt
in einer Fassung von Sebastian Hartmann
Keine Uraufführung
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Linda Pöppel, Frank Büttner, Manuel Harder.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr zu In Stanniolpapier: Mit der Schauspielerin Linda Pöppel sprach Esther Slevogt.

 

Kritikenrundschau

"Einiges schiefgegangen" sei bei dieser Ausgabe der Langen Nacht der Autoren, sagt Barbara Behrendt bei Deutschlandfunk Kultur (22.6.2018), die Jury, der Autor und der Verlag hätten sich "völlig zu Recht distanziert" von Sebastian Hartmanns Aufführung. Hartmann verkehre das Stück in sein Gegenteil: In Björn SC Deigners dokumentarischem Text weigere sich die Prostituierte, sich als Opfer zu definieren und begegne ihren Freiern mit Menschlichkeit – "vollkommen unverständlich" sei, dass das Deutsche Theater ausgerechnet einen "eigenmächtigen Regisseur" wie Hartmann beauftragt habe. Neue Stücke müsse man mit großer Behutsamkeit präsentieren, so Behrendt, man könne sie kritisch hinterfragen, aber nicht "komplett demontieren". Hartmann reduziere Linda Pöppel zum Sex-Objekt, sein "In Stanniolpapier" sei ein "endloser, penetranter, auch brutaler Porno", der Text verschwinde komplett. "Für ein Uraufführungsfestival ist das wirklich ein Desaster", meint Behrendt, es zeige einmal mehr, wie wenig die Autoren im Theaterbetrieb gälten, und werfe "ein ganz schlechtes Licht" auf die DT-Dramaturgie. Insgesamt sei das "in keinem Punkt eine gelungene Lange Nacht" gewesen.

"Zwei Uraufführungen und einen Hartmann" hat Fabian Wallmeier vom rbb-Sender Radio Eins (23.6.2018) gesehen. Miroslava Svolikovskas dramatischem Gedicht "europa flieht nach europa", das stilistisch "in den typisch mäandernden Elfriede-Jelinek-Ton" verfalle, gehe "recht schnell die Luft aus"; Regisseur Franz-Xaver Mayr konzentriere sich auf die witzigen Elemente des Textes und übertreibe dabei maßlos, bis hin zur Textparodie, so Wallmeier. "Schultheaterhaft didaktisch" sei Simone Kuchers Text über den Völkermord an den Armeniern; Regisseur Marco Milling wirke mit den vielen Zeit- und Szenensprüngen überfordert. Sebastian Hartmanns "Fassung" von Björn SC Deigners "In Stanniolpapier" sei von anderem Kaliber: "Mit dem Missbrauchs- und Prostitutionsdrama geht er immer wieder an die Grenzen des Ertragbaren – den Vorwurf, 'torture porn' zu betreiben wird er sich gefallen lassen müssen", so Wallmeier. "Das ist eindringlich, geht an die Nieren – und lässt beim Gedanken an das transportierte Frauenbild doch einen sehr schalen Nachgeschmack zurück."

Von Missbrauch des Missbrauchs und einer "Ästhetisierung der Gewalt" spricht Anke Dürr auf Spiegel-Online (23.6.2018). Das Geschehen auf der Bühne hat sie so empört, dass sie nie wieder eine Inszenierung von Sebastian Hartmann besuchen möchte. "Die Arroganz und das Versagen des Regisseurs gegenüber dem Text" zeigen sich für sie vor allem darin, dass der verdichtete Bericht einer Frau, die nach Jahren Worte für das Märtyrium ihres Missbrauchs gefunden habe, kaum mehr vorhanden sei. "Ausgerechnet dieser Frau" also nehme Hartmann in seiner übersexualisierten Inszenierung nun wieder die Stimme. "Das ist pervers im ursprünglichen Sinn des Wortes: Es verdreht das Eigentliche in sein Gegenteil, es macht die Frau, die mit dem Text die Hoheit über ihr Leben verteidigt, wieder zum Objekt." Die "verstörenden Bilder" der Inszenierung dienen aus Sicht der Kritikerin "nur dem Voyeurismus".

Von einem "belangvollen Theaterereignis" für die Stadt berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (25.6.2018) und meint "In Stanniolpapier“ von Hartmann/Deigner. Regiewerk wie Autortext können sich in ihren Augen in ihrem "je eigenen, radikalen Zugriff auf den Maria-Stoff behaupten". Hartmanns "quälend durchrhythmisierte, spielstarke 90-minütige Gewaltorgie im Bungalow macht aus der optimistischen, gesellschaftskompatiblen Erzählung der glücklichen Prostituierten einen einzigen Alptraum“. Hartmann schildere die Prostituierte als "monströses Opfer männlicher und gesellschaftlicher Gewalt, was durch videotechnische Verzerrungen faszinierend Bild wird. Er misstraut jedem ihrer Worte, die Deigner aber gerade unkommentiert für sich sprechen lassen will. Ein szenischer Kontrapunkt, der zur Textlektüre sicher mehr animiert als lauwarme Illustrationen." Solche lauwarmen Illustrationen liegen für die Kritikerin in den beiden anderen Inszenierungen der Langen Nacht vor.

"Nacht lang, Theater mau“, konstatiert Patrick Wildermann im Tagesspiegel (24.6.2018). Hartmann lege mit "In Stanniolpapier" eine Deutung vor, "die eine radikale Maria-Innenschau in Gestalt einer Porno-Passions-Choreografie betreiben will. Das wird auf eine Weise peinigend und peinlich, die man fast gesehen haben muss". Über "Eine Version der Geschichte" heißt es: Jeder "einzelne Satz ächzt unter extrem spielfeindlichem, bleiernem Bedeutungsgewicht. Entsprechend hilflos inszeniert Marco Milling das Stück in einem Tonstudio hinter Glas, wo die sterile Künstlichkeit auf die Spitze getrieben wird". Svolikovas "europa flieht nach europa" wirft bei dem Kritiker die Frage auf: "Woran nur liegt es, dass man trotzdem unentwegt das Gefühl hat, hier sei eine triste Nachrichtenwirklichkeit in travestierter Form auf die Bühne gelangt?"

Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.6.2018) erkennt in Marco Millings Umsetzung von "Eine Version der Geschichte" eine "kluge, bei allem Ernst des Themas leicht und geschmeidig ausbalancierte Aufführung". Svolikovas "europa flieht nach europa" jongliere "quirlig-fidel mit den Epo­chen und Legenden"; manchmal "verliert sie sich ein wenig zu sehr in Assoziationsströmen und Sprachspielen à la Elfriede Jelinek oder im semantischen Geschwurbel zwischen Ironie, Theorie und Phantasie, aber insgesamt sind die dicht gewobenen, komplex komponierten Metaphernbilder eine anregende und gescheite Herausforderung für das Publikum und den Regisseur". Bei der Version von "In Stanniolpapier" sieht Bazinger "Hartmanns Spielvogtfaustkeil" am Werk, der die Geschichte der Maria "auf die Opferperspektive reduziert". Für die Kritikern "eine pornographische Bums­fallera-Performance mit Live-Video in fettem rotem Licht (…)".

Ein "Skandal mit Ansage" sei die Hartmann-Inszenierung bei der Langen Nacht gewesen, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (25.6.2018). Den Text von Björn SC Deigner, der über weite Strecken "angenehm pathosfrei und nüchtern", wenn auch nicht ganz ohne Milieukitsch erzählt sei, verkehre Hartmann ins Gegenteil und mache daraus "einen schwer erträglichen Opferporno". Das Gezeigte sei "erst beklemmend, dann peinlich, dann unfreiwillig komisch", das Frauenbild zweifelhaft – "gedemütigt werden und dabei gut aussehen". Warum hat hier niemand eingegriffen?, fragt Meiborg. Zu den beiden Uraufführungen ("In Stanniolpapier" firmiert in der Bildunterschrift als "Unaufführung") bemerkt die Kritikerin: Marco Milling mache aus Simone Kuchers "Eine Version der Geschichte" "ein ereignisarmes, aber konzentriertes Sprechstück". Bei "europa flieht nach europa" sei immerhin die schauspielerische Action unterhaltsam. Unbefriedigt und ratlos stellt Meiborg die Frage: "Sind das wirklich die besten, noch nicht uraufgeführten Theatertexte im deutschsprachigen Raum? … Oder schicken manche Autoren ihre Stücke nicht mehr hin? Man könnte es ihnen nicht verübeln."

 

 

Kommentare  
Lange Autoren-Nacht, Berlin: Kritik zu Kucher
Zu Eine Version der Geschichte:

Alles wird ausgesprochen und erklärt, statt der welterschütternden Erkenntnis von Lebenslügen, statt der Öffnung der Welt durch das Erzählen, von welcher der alte Mann einmal spricht, statt der reinigen Kraft und tödlichen Bedrohung durch die Wahrheit serviert die Autorin Diskurshäppchen, die alles fein säuberlich darlegen, statt der Betrachtung direkter Erfahrung schlägt sie ein erläuterndes Büchlein zur Textbeschreibung auf. Das beginnt schon auf der familiären ebene, die Kucher und Milling vollkommen misslingt. Die „Figuren“ bleiben Pappkameraden, uninteressante Stereotype und Abziehbilder bestimmter Positionen.

Millings behäbige Regie macht das nicht besser. Bis zur Ermüdung presst er Black-Phasen mit ermüdenden Stimmenkakophonien – die Stimmen der Toten und des Verdrängten – zwischen die betont fragmentarisch gehaltenen Szenen, inszeniert die nichtlineare Chronologieverweigerung und die Einbrüche verschiedener Realitäten als aseptische Nummernrevue in einer – vielleicht plattestes Bild eines an diesen nicht armen Abends – Tonaufnahmekabine (Bühne Simon Sramek), die den Vorteil hat, dass die Protagonistin, wenn sie nicht zuhören will, einfach ihre Kopfhörer aufsetzt, die dann ein undefinierbares Rauschen – weiteres Leitmotiv – hörbarmachen, die unkenntliche Verzerrung der Wahrheit durch das Verdrängen. Der Abend – und das gilt für Stück, Inszenierung und zum teil leider auch die darstellerische Ebene – hat den nicht vorhandenen Charme einer Mischung aus Re-Enactment auf Volkshochschulniveau („Eine Einführung in den Genozid an den Armeniern in einfachen Bildern – Für Anfänger) und plakativ postmoderner gebrochener Erzählung, die natürlich die Unterbrechung von Überlieferung und die Unfähigkeit, die eigene Geschichte mit der großen in Übereinstimmung zu bringen bedeutet. Warum das so ist, welche Faktoren dazu beitragen und wie sich der Fluch brechen ließe, das versuchen Text und Inszenierung gar nicht auszuloten, sondern darüber sprechen sie nur wie ein halbinformierter VHS-Dozent in einer Ansammlung von Gemeinplätzen. „Eine Version der Geschichte“ bekommen wir nicht zu hören, nur das Scheitern des Versuchs, eine solche zu (er)finden.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/23/ende-der-geschichten/
Lange Autoren-Nacht, Berlin: Textfläche?
Ich habe dieses Skandal-Stück leider nicht gelesen, in der Kritik aber steht etwas von sechzehn eng bedruckten Seiten, das scheint dann ja auch kein klassisches Stück zu sein, sondern eine Fläche, mit der dann halt gearbeitet wird, oder nicht?
Lange Autoren-Nacht, Berlin: Alles wie gehabt
Also alles wie gehabt. Ein stilles Stück aus der Schweiz, ein hysterisches Stück aus Österreich und Beton und nackte Haut aus Berlin. Außerdem diskutieren Theatermenschen wieder einmal was ein Text und was ein Autor ist. Und wo ist jetzt der Skandal?
Lange Autoren-Nacht, Berlin: Kritik zu Svolikova
Zu europa flieht vor europa:

Miroslava Svolikovas Stück ist eine wortmächtige Flut von Assoziationen und Wortspielen, die zuweilen etwas unangenehm an Elfriede Jelinek erinnert, auch weil ihr Kalauerniveau nicht immer mit dem der Literaturnobelpreisträgerin mithält. Gleichzeitig gelingen ihr jedoch scharfe satirische Beobachtungen, die sie in einem salbungsvollen Ton serviert, für den sie so ungehemmt sich bei der antiken Tragödie bedient wie ein Schlussverkauf-Publikum bei der Ladenöffnung. Dabei schießt sie auch mal übers assoziative Ziel hinaus und unternimmt abstrahierend verwirrende Exkurse über das Leben als solche, die in ihrer gewollten Sperrigkeit wie ein Baiser aus Wortmeldungen eines Philosophie-Grundkurses zusammenfallen und über deren Streichung künftige Regisseure zumindest nachdenken sollten. Dabei muss fairerweise auch gesagt werden, dass bei aller Sprachwucht und Virtuosität die Diagnose, die Svolikova zu Europa erstellt, alles andere als originell und auch nicht besonders komplex ist. Die Heuchelei einer europäischen Idee, die Machtinstrument ist und glaubt sich abschotten zu dürfen, die auf Gewalt gebaut ist und ihr noch immer nicht vollständig abgeschworen hat, ist nicht unbekannt und schnell auserzählt. Viel vermag die Autorin ihr auch nicht hinzufügen.

Regisseuren bietet der Text in seinen „Tableaux“ jedoch reichlich Konfrontations- und Distanzierungsoptionen, die Mayr genüsslich ausnutzt. Er gibt dem Satireaffen ordentlich Farcen-Zucker, dreht die Ideenfiguren und Figurenideen durch den Slapstickfleischwolf und zelebriert die grellbunte Untergangsvision als fröhlich morbides Leichenfest, das sich am Wahnwitz der Hybris berauscht, die wir so gern die „europäische Idee“ nennen. Und das sie noch wahnwitziger feiert. Wenn etwa ein leibhaftiges Regenbogen-Zottelmoster auftaucht, dann ist das Utopie und Ernüchterung zugleich: Es propagiert, jeden an seine Goldtöpfe zu lassen, sagt aber auch: Mehr als sechs Farben sind nicht drin“. Setze man ihn zu stark unter Drück, würde er schnell braun. Mayr nimmt die Tableaux-Idee des Textes wörtlich und gruppiert die Spieler*innen und ihre europäischen Abziehbilder immer wieder zu grotesk idealisierten Gruppen, die beim ersten Realitätsanwurf in sich zusammenfallen. So entsteht ein vielfach verschachteltes Bild eines zwischen Selbstbild und Wirklichkeit sich zerreibenden Europas, mit dem die mangelnde Komplexität der Textvorlage zwar nicht Schritt hält, das aber in seiner überbordenden Metaphernverliebtheit etwas von der lustvollen Hybris spiegelt, die das Konstrukt Europa überhaupt erst entstehen ließ und von der „wir“ vielleicht hin und wieder eine Dosis bräuchten. Vielleicht gibt es demnächst ja irgendwo einen Schlussverkauf?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/23/europa-im-schlussverkauf/
Lange Autoren-Nacht, Berlin: Wahnwitz?
@Sascha Krieger: Was ist jetzt nochmal der Wahnwitz an der europäischen Idee?: "Wir versuchen halbwegs so gerecht miteinander klarzukommen, dass wir nicht wie früher nach Amerika auswandern müssen und uns lieber der gewiss humaneren Idee der einst gewiss humaner (sich) Vereinigten Staaten von Amerika annehmen?" Oder: "Besser ein vereinigtes Europa als eine neue Sowjet-Union als Bollwerk gegen die neue chinesische Übermacht?" - Ich würde mich freuen, Ihre Interpretation von Wahnwitz in dieser Sache erörtert zu bekommen. Ein Stück jedenfalls kann die nicht liefern. Auch Theater nicht. Is auch nicht Aufgabe von Theater. Vielleicht muss es deshalb heuer immer so wahnsinnig überdreht lustig und revueartig sein? Dabei sind doch für die durchgehende Witzischkeit das Kabarett und für die Revue der Friedrichsstadtpalast und die Musical-Theater zuständig - Gut, ich leb da hinterm Mond und versteh von diesem Theater auch nur so viel wie vom Fußball: das Runde muss ins Eckige und Lachen ist gesund fürs Gemüt- deshalb interessiert mich ja auch so ernsthaft Ihre Ansicht zum Wahnwitz der europäischen Idee, die aber in Wirklichkeit Ihrer Ansicht nach deren Hybris ist, weshalb sie zweifelsfrei Wahnwitz sein MUSS? ...
Lange Autoren-Nacht, Berlin: Abrechnung
https://www.kulturradio.de/programm/schema/sendungen/kulturradio_am_morgen/archiv/20180623_0605/fruehkritik_0745.html

Eine Abrechnung mit der Dramaturgie des DT
Lange Autoren-Nacht, Berlin: neue DT-Ästhetik?
Zum Auftakt erstickte das Geschichts-Aufarbeitungs-Stück „Ihre Version der Geschichte“ in melancholischer Schwere hinter der Glaswand der DT-Box. Simone Kuchers Stück wird in Marco Millings Regie (Assistent am Schauspielhaus Zürich), zu einem Geschichts-Frontal-Unterricht fürs Publikum. Die Figuren bleiben klischeehaft, am schlimmsten ist das bei der wortkargen Mutter, die sich hinter ihrem Schweigen verschanzt. Das 90minütige Stück ist mit Loops und Stroboskop-Gewittern überfrachtet und ächzt unter der bleiernen Schwere des viel zu statischen Zugriffs.

Die Farce „europa flieht nach europa“ von Miroslava Svolikova steuerte das Wiener Burgtheater bei. Die Autorin berauscht sich streckenweise etwas zu sehr an Sprachspielereien und Assoziationskaskaden im Jelinek-Stil, so dass ihre Tableus zur Krise Europas nicht immer klar genug fokussiert sind. Regisseur Franz-Xaver Mayr, der im vergangenen Jahr mit der galligen Groteske „Kartonage“ noch mehr überzeugte, konnte bei der Uraufführung auf das gewohnt starke Burgtheater-Ensemble bauen, aus dem vor allem Dorothee Hartinger in der Rolle der Europa herausragt. Dem Diskurs über den Zustand Europas fügt diese Berliner/Wiener-Koproduktions-Uraufführung am Wochenende vor dem EU-Sondergipfel, bei dem sich Merkel und Kurz als Antipoden gegenüber stehen, wenig Neues und Tiefschürfendes hinzu.

Für den Paukenschlag zum Schluss sorgte Sebastian Hartmann. Er bedient sich bei der Vorlage als Steinbruch für Wortfetzen, die Linda Pöppel furios als wuchtige Live-Video-Performance aus ihrem von Manuel Harder und Frank Büttner geschundenen Körper herauspresst und dem Publikum entgegenschleudert.Bemerkenswert ist dieses Stück, das auch ins Repertoire des DT übernommen wird, vor allem, weil es in seiner brachial gegen die Wand rennenden Ästhetik Mut und Experimentierfreude beweist und vor wenigen Jahren auf dem Spielplan des DT Berlin nicht vorstellbar gewesen wäre. Es ist ein spannender Prozess mit offenem Ausgang, wie Intendant Ulrich Khuon und sein neuer Chefdramaturg Claus Caesaer unterschiedliche Facetten der wesentlich exzentrischeren Volksbühnen-Ästhetik (mit der Verpflichtung von Jürgen Kuttner, René Pollesch, Sophie Rois und dieser bisher radikalsten Arbeit von Sebastian Hartmann am Haus) in den Spielplan und die gediegene, wohlsituierte Atmosphäre des Deutschen Theaters Berlin einspeisen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/06/23/lange-nacht-der-autoren-2018-deutsches-theater-berlin-kritik/
Lange Autoren-Nacht, Berlin: entlarvend
Stanniolpapier: Eine magere, nackte Frau, die nicht aufrecht gehen darf, um sie herum drei angezogene Männer, einer mit Kamera, einer mit Mikrofon und einer mit Soufflierbuch. Für diese Demütigung der Schauspielerin, der Prostituierten, deren Leben die Vorlage für das Stück war, des Autor*innenduos und der Zuschauerinnen steht der alte weiße Regisseur und grinst in den spärlichen Schlussapplaus. Wie entlarvend, dass der männliche Kritiker-Blick so etwas faszinierend findet!
Lange Autoren-Nacht: bedenkenswert
«Es ist der verdichtete Bericht einer Frau, die nach Jahren Worte gefunden hat für ihr Martyrium, die erstaunlich nüchtern Einblick gibt in ihre Biografie. Und ausgerechnet dieser Frau nimmt Hartmann nun wieder die Stimme. Das ist pervers im ursprünglichen Sinn des Wortes: Es verdreht das Eigentliche in sein Gegenteil, es macht die Frau, die mit dem Text die Hoheit über ihr Leben verteidigt, wieder zum Objekt.» - Bedenkenswerte Wortmeldung zu diesem Abend im Spiegel:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/frauenbild-im-theater-der-missbrauch-des-missbrauchs-a-1214593.html
Lange Autoren-Nacht: Luxus-Befriedigung
Wäre es denkbar, dass Sebastian Hartmann mit seiner Inszenierung des Text-Ausgangsmaterials die Schreibhaltung und –Form eines Autors kritisiert, der ausdrücklich dokumentarartig die Aussagen einer Prostituierten zusammengefasst und einem Verlag als eigenen Text angeboten hat?

Der wiederum den Text als Literatur dieses Autors dem Theater zur Inszenierung angeboten hat?

Dass Hartmann so den Text via Bühne als einen Text zeigt, dessen Autor sich an dem Selbst-Bericht einer Frau, die keine Autorin ist, und die berichtend ihre eigene Lebenserfahrung vor offenbar einer Bekannten von ihm reflektiert, und der damit also an ihr als Mensch sich missbräuchlich bedient? Der Geld damit verdient, dass der Verlag ihm das als Literatur abkauft, ohne nach der Frau und ihrem Recht, ihre ureigenste Lebenserfahrung selbst zu verkaufen oder nicht, zu fragen?

Oder hat er sie gefragt, ob er die Interviews verarbeiten darf?

Dass Hartmann möglicherweise via Bühne kritisiert, dass das Theater dem Verlag das als Literatur für die Bühne abkauft, ohne nach der Textentstehung und der Relevanz der Arbeitshaltung, die dahinter steht, und also nach dem Leben und dem Charakter dieser offenbar konkreten Frau, zu fragen?

Die der Autor da lediglich vorführt und deren Erfahrung und Lebensbewältigungsstrategien er gegen Bezahlung anbietet?
Was offenbar seine Umgangsform mit ihren Verhältnissen ist, die er als Unverhältnismäßigkeiten empfindet... Obwohl die doch offensichtlich gut für sich selbst sprechen kann und offenbar nicht mit einem Verlag, sondern mit einem Menschen über ihr Leben und ihre Ansichten dazu sprechen wollte?

Wäre das also denkbar, dass Hartmann das als kulturbetrieblichen Beispiel-Vorgang empfunden und inszeniert hat? In den Glaskasten auf den Guckkasten gesetzt hat? … In dem Fall läge der Skandal ja beim Theaterverlag und beim Theater und seinen Text-Auswahlprozedere – und beim Autor selbst – man muss das nicht einem Verlag anders als biografische Prosa anbieten und zur Inszenierung für Theater freigeben…

Vielleicht hat der Autor die Frau ja auch gefragt, ob er Kunst aus ihr und ihrem Vertrauen in seine Bekannte machen darf? – Andernfalls würde ich der zur Maria gemachten Prostituierten raten, dem Autor und auch seinem (Fischer)Verlag eine saftige Rechnung aufzumachen für eine durch sie geleistete moralisch einwandfreier Luxus-Befriedigung allererster Güte. Wer sie persönlich kennt, möge es ihr bitte von mir ausrichten. Mit schwesterlichen Grüßen.
Lange Autoren-Nacht: 0:3
Entlarvend ist doch bitte an der Arbeit der Dramaturgie vor allen Dingen die Regiequote in dieser langen Nacht. 0:3. Sagt doch bitte alles. Bei dem Verhältnis wundert einen doch Hartmanns Zugriff gar nicht. Und der Kritikerkollege hier sieht natürlich wieder das Genie und die produktive Zumutung und versteht die Problematik gar nicht. Tatsächlich: so weit, so erwartbar...
Lange Autoren-Nacht: Kunstmäntelchen
Es ist wirklich beschämend, das herabwürdigende Zurschaustellen einer Frau mit einem Kunstmäntelchen umgeben zu feiern.
Das erhellt deutlich warum es an Deutschlands Theatern niemals eine metoo Debatte geben wird. Die Patriarchen haben die Macht doch noch sehr fest in der Hand ...
Lange Autoren-Nacht: Frage
Der Autor sagt, 50 Prozent des Textes sei gestrichen worden, 50 Prozent neu geschrieben - da hätte ICH mich aber mehr aufgeregt! Und das soll ein Fest für Uraufführungen sein?

https://www.deutschlandfunk.de/berliner-autorentheatertage-alle-macht-dem-regie-zampano.691.de.html?dram:article_id=421123
Lange Nacht, Berlin: schade
(...)

(Anm. Redaktion. Dieser Kommentar enthielt ad personam-Unterstellungen, die nachträglich gelöscht wurden. Um die Zählung eines unten folgenden Kommentars beizubehalten, bleibt der leere Platzhalter stehen.)
Lange Autoren-Nacht: Wahnwitz
Lieber D. Rust, ich bin sicher, dass Ihnen die Grundzüge der europäischen Geschichte der letzten, sagen wir, gut 2000 Jahre bekannt sind? Da kann die Idee eines fairen, freien, harmonischen Miteinanders doch nur als Wahnwitz, als irrsinnige Utopie, als von jeder Realität entkoppelt erscheinen? Das ist nicht wertend gemeint, sondern eben in der Abspaltung von der über die Jahrhunderte etablierten Norm. Und genau darin liegt ja das Revolutionäre dieser Idee – aber auch die Gefahr, der sie sich immer ausgesetzt sieht. Es ist ein Wahnwitz, den die Autorin, so zumindest meine Interpretation durchaus verteidigt. Und da bin ich – mit vielleicht einem Tick mehr Optimismus – auch bei ihr.
Lange Autoren-Nacht: umwerfende Schauspielerin
Ist es nicht eher entlarvend, wie hier in dieser Diskussion eine Frau von außen Opfer gemacht wird?
Hat sich irgendjemand mal gefragt, ob sich Frau Pöppel in den Dienst einer Sache, nämlich der Kunst gestellt hat?
Ich habe DREI UMWERFENDE SCHAUSPIELER auf der Bühne gesehen, allen voran eben Linda Pöppel, die meines Erachtens nach sehr bewusst und intelligent diese Maria zeigt.
Man kann sicherlich darüber streiten, ob es bei den Autorentheatertagen einzig und allein um den Text gehen sollte, aber Inhalt kann auch durch Bilder transportiert werden. Dieser Abend rüttelt an ziemlich universellen Themen und zwar in aller Konsequenz.
Das tut weh- Ja!
Aber soll bzw. muss Kunst das nicht auch?

Nein, liebe Menschen, so einfach ist das nicht, wie ihr euch das hier macht.
Bisschen mehr Weitsicht.
Lange Autoren-Nacht: fahrlässig
Die Kritik von Janis El-Bira zu "In Stanniolpapier" ist in ihrer Blindheit grob fahrlässig: Ein Inszenierungsresultat als "faszinierend konsequent" zu beschreiben, in dem der Körper einer weitgehend nackten junge Frau gewaltpornographisch ausgestellt wird, während sie lose, auswechselbare Worthülsen aus Deigners Text stöht, verkennt das Politikum dieser Darstellung in diesem Kontext an diesem Ort. Hier wird, wie ja glücklicherweise auch andere Kritiken beschreiben, der weibliche Körper unhinterfragt zum Gewalt- und Lustobjekt degradiert, als hätte es die MeToo-Debatte nie gegeben. Da diese Handlungen von Rotlicht, Nebel und hämmernden Beats begleitet werden, kann man auch keineswegs von einer künstlerisch produktiven Auseinandersetzung mit diesem Topos reden; hier findet weitestgehende Affirmation dessen statt. Dafür wird eine Textvorlage verwendet, die all dies nicht anbietet. Im Kontext der Autorentheatertage werden die Qualitäten des Texts von Björn SC Deigner seitens der Regie grob übergangen, statt sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ein wirklich grobes Versagen der Dramaturgie, dies in diesem Rahmen zu ermöglichen. Und dass beides - die gewaltpornographischen Darstellungen des weiblichen Körpers und die Ignoranz gegenüber der Textvorlage - von der Intendanz abgenommen werden, die zugleich vorgeblich mit den Missionen des Ensemble-Netzwerks sympathisiert, bietet eine Steilvorlage für eine tiefgreifende Debatte mit gewissen Konsequenzen, die sich bei weitem nicht nur mit der Frage beschäftigen sollte, 'wem Theatertexte gehören und warum und zu welchem Zweck man diese schreibt'.
Lange Autoren-Nacht: Kunstfreiheit
erstaunlich finde ich, dass im
kontext des theatertreffens im vergangenen jahr in einer eindeutig politisch konnotierten inszenierung, das n-wort nicht ausgesprochen werden durfte und die kunstfreiheit damit beschnitten wurde und nun im zuge von hartmanns inszenierung, sowohl der sinn des auftrags - eine uraufführung - wegfallen darf, als auch im falsch verstandendsten und missbräuchlichsten sinn der kunstfreiheit kitschige pornofantasien an die stelle eines textes über missbrauch rücken. ein mann darf das?
Lange Nacht der Autoren, Berlin: nichts hinzuzufügen
den #s 8,9,11,,12,13,14,17,,18,19 ist nichts hinzuzufügen, sie enthalten alles, was mir gestern durch den kopf ging,als ich das da gesehen habe. bitte nicht mehr die ständige ikonisierung solcher bilder in der kunst !
Lange Nacht der Autoren, Berlin: Unterdrückung?
Und die ganze Schlaumeierei macht jetzt die Frau/Schauspielerin das dritte mal zum Objekt? Unter der Prämisse, dass es sich hier um eine freiwillige künstlerische Aktion und nicht um eine alte weiße Pornophantasie handelt, klingt die Umkehrung des Textes in Bildliche (vielleicht gegenteilige) doch erstmal reizvoll. Text ist nicht nur zum Sagen da. Was aber wirklich klein ist, ist die Annahme, ein solcher Abend könne nur durch Unterdrückung entstehen.
Lange Nacht der Autoren, Berlin: Romantisierung wäre suspekt
Ich könnte mir vorstellen, dass der Abend wirklich radikal und verstörend wirken könnte, wenn er nur mit Männern besetzt wäre - also eine Art V-Effekt hätte. Am liebsten würde ich Hartmann in der Rolle Linda Pöppels sehen, um den Kotzreiz mit Mitleid zu ersticken. Wie schon in seinem "Trinker" ist Hartmann jede Romantisierung des Millieus einfach suspekt - was ihn sehr sympathisch macht. Schade, dass er Pöppel nicht den Raum gegeben hat die Vergewaltigungungsprozesse im Text, mit denen die die Zuschauer empfinden (sollen), zu vergleichen - früher hat er sowas klüger zu Ende gedacht.
Lange Nacht der Autoren, Berlin: Radikal und bedenklich
Zu In Stanniolpapier:

(...)Pöppels Maria mutiert dabei zunehmend vom vermeintlich gleichberechtigten Partner zum Opfer zum Objekt, während Hartmann sie in die Fremdbestimmungs- und Gewalthölle zerrt. Er verfremdet – etwa mit illsusionär erscheinenden Schattentänzen hinter semitransparenter Wand, als zynisch verklärend intendierten Schwarz-Weiß-Passagen und entmenschlichenden Animationssequenzen – und ästhetisiert die Gewalt damit auch. Der voyeuristische Blick wird thematisiert – mehrfach geht die Kamera ins Publikum – aber auch reproduziert, die sexualisierte Gewalt zur Inszenierung. Mit zunehmender Dauer wird das immer unerträglicher, löst sich die Hauptfigur auf und gerät zum passiven Objekt. Die wird in Zucker begraben, faselt erschöpft im starken Männerarm, kriecht auf allen Vieren. Hartmanns Erzählweise ist überaus stringent und ästhetisch zwingend: Die Gewalterfahrung wird zum Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt, der weibliche Körper zur Verfügungsmasse, der männliche zum austauschbaren Machtinstrument. Eine Unbedingtheit, die in der ästhetischen Kompromisslosigkeit seiner Beobachtung einer Objektifizierung des menschlichen – des weiblichen! – Körpers überzeugt und erschüttert, in seiner rausschaften Sogwirkung aber auch fasziniert.

Und so ist irgendwann nur noch schwer zu erkennen, wo die Entlarvung aufhört und die Kumpanei anfängt, wo der Abend auf die Seite der Gewalt kippt – aber eben auch die der männlichen Deutungshoheit über weibliche emanzipatorische Narrative. Denn die Selbstbestimmtheit des weiblichen Blicks und der eigenen Stimme nimmt der Abend seiner Protagonistin wie der textlichen Vorlage. Nicht nur wiederholt und verfestigt er damit das Opfernarrativ und verweigert die Zulässigkeit einer Gegenerzählung – er weidet die pornografische Gewaltästhetik so lange und so stark aus, das es am Ende schwerfällt, seine Perspektive – und damit die des Regisseurs – als vollkommen ablehnen gegenüber selbiger zu interpretieren. Radikal ist diese Sicht auf den zu Grunde liegenden Text – aber auch in höchstem Maße bedenklich.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/28/die-geraubte-stimme/
Europa flieht, Berlin: eurozentrisch
Gerade habe ich "Europa flieht ..." gelesen. Dass im 21. Jh. dieser Mythos so unreflektiert und eurozentrisch reproduziert wird! Vielleicht liegt es daran, dass ich in Frankreich aufgewachsen bin und in Deutschland (und Österreich) ein anderes Europa-Verständnis herrscht, aber herrscht.
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