Asche, Schweiß, gefrorenes Blut

von Janis El-Bira

Berlin, 13. August 2021. Wahrscheinlich ließe sich anhand der Berliner Produktionen der "Dreigroschenoper" immer auch etwas über den aktuellen Gemütszustand der großen Stadt ablesen. Schließlich attestierte schon Elias Canetti der Uraufführung 1928 am Schiffbauerdamm, Bertolt Brecht und Kurt Weill hätten mit ihr den "genauesten Ausdruck dieses Berlin" gefunden.

Traumhochzeit 2021

Achtzig Jahre später – um nur die greifbarere Vergangenheit anzurufen – da zeugten die Inszenierungen von Klaus Maria Brandauer (mit Tote Hosen-Campino im Admiralspalast) und Robert Wilson (sehr Wilson-haft am Berliner Ensemble) von Markenbildung und Widersinn einer selbsterklärten Weltmetropole. Immer ging es dabei um die Frage: Wen lässt man los auf dieses Stück, das im Ruf steht, nicht so wahnsinnig gut gealtert zu sein? Wen betrauen mit dieser notorischen Disparität von Text und Musik, mit jener Ironie, der es so bitterernst um die Sache ist? 

Dreigroschenoper 4 cJR BerlinerEnsemble uFamilie Peachum: Polly (Cyntia Micas), Frau Peachum (Constanze Becker) und ihr Mann, der Bettlerkönig und Elendsunternehmer (Tilo Nest) © JR / Berliner Ensemble

Am Ort der Uraufführung wurde so gesehen jetzt zur Traumhochzeit geladen. Wer anders nämlich als Barrie Kosky, Intendant und Neuerfinder der Berliner Komischen Oper, Operettenexperte und leidenschaftlicher Schatzheber aus dem musikalischen Fundus der 1920er- und 1930er-Jahre, wer anders könnte besser für diese Neuinszenierung qualifiziert sein? Aber dann gehört zum Berliner Selbstverständnis des Jahres 2021 ja auch, dass man nichts Cooleres machen kann, als alle Erwartungen mit großer Geste zu unterlaufen. Und Kosky ist natürlich extrem cool.

Als gelte es, den passenden Ton erst einmal zu ertasten, lässt er Josefin Platt das Gesicht durch den Glitzervorhang stecken und sich wie ein angezählter Boxer in die ersten Takte der Moritat von Mackie Messer schleppen. Auch die Bühne von Rebecca Ringst, ein Klettergerüst als V-effektvolle Andeutung des städtischen Straßen- und Raumgeflechts, und die zunächst ganz in Schwarzweißgrau gehaltenen Kostüme von Dinah Ehm – all das will vor allem eines: kein Spektakel machen.

Aus Wohlfühlsphären stürzen

Wer Zwanzigerjahre-Glitzer sucht, wird ihn an diesem Abend nicht finden. Kein Babylon ist Koskys Bühnen-London, sondern ein zu Beginn kühles, später immer stärker belastetes Netzwerk, das seine Protagonisten in Glück und Elend aufeinander verweist. Der erste echte Schaueffekt der Inszenierung lässt dann auch prompt das Blut in den Adern gefrieren: Gerade noch hatte die Band unter Leitung von Adam Benzwi ihren vollumfänglich spelunkentauglichen, nur um wenige Fettpölsterchen aufromantisierten Weill-Sound ausgestellt, da entreißt Nico Holonics' Mackie dem Dirigenten die Partitur – und zündet sie an. Fünf Jahre nach der Uraufführung der "Dreigroschenoper" verbrannten die Nazis auch die Werke Brechts. Das lässt sofort aus allen Wohlfühlsphären stürzen, fällt aber klugerweise selbst nicht aus der Handlung.

Dreigroschenoper 6 cJoergBrueggemann uDieser Mackie hat ein Messer: Nico Holonics © Jörg Brüggemann

Mit ihrem zündelnden Mackie haben Kosky und Holonics überhaupt eine Interpretation dieser Figur vorgelegt, wie sie kaum Vorgänger haben dürfte. Ein Nachtschattengewächs mit schwarzumrandeten Augen und dicken Ringen an den Fingern, offenkundig dauerdruff in dürftiger Zeit. Holonics spielt ihn als Alphatier, zerstörerisch und charmierend, irre und witzig, speichelnd und schwitzend. Wäre er ein Artist, würde dieser Mackie sich vor dem Drahtseilakt noch die Füße mit Speck einreiben, so fürchterlich und schön ist er. Man wird Nico Holonics künftig mit dieser Rolle in Verbindung bringen, wie er sich verausgabt, ob physisch auf dem "Kanonenboot" mit Tiger-Brown (Kathrin Wehlisch) oder sich in höchster Erklärungsnot windend gegenüber "seinen" Frauen. Das funktioniert, weil Kosky diesen Mackie als Zentrum in ein Ensemble setzt, das den psychologisch einfühlenden Zugang mitträgt.

Die Figuren in den Songs ausmalen

Das geht zwar mit einiger Lust gegen Brecht und kommt gerade in der zweiten Hälfte an seine klamaukigen Grenzen, wenn die intrinsischen Motivationen der Figuren gegenüber deren lehrstückhaften Funktionen im Stück zunehmend weniger plausibel erscheinen. Dafür aber menschelt es hier so gewaltig, dass Brechts Figuren plötzlich wie aller ironischen Distanz entkleidet dastehen.

Dreigroschenoper 1 cJoergBrueggemann uSiehst Du den Mond über Soho? Cynthia Micas (Polly) und Nico Holonics (Macheath) © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Man erlebt eine moralisch hochflexible Polly Peachum (Cynthia Micas), die ins Zaudern kommt, bevor sie in ihrer Ballade die todbringenden Piratenschiffe losschickt, und in Lucy (Laura Balzer) eine ebenbürtige Feind-Freundin findet. Entdeckt in Mackie und Jenny (Bettina Hoppe mit anrührender Zartheit) ein Ex-Liebespaar, das sich biegt vor Traurigkeit in der gemeinsamen Erinnerung an das kleine Glück. Und man leidet mit den Peachums, die Tilo Nest und Constanze Becker als erotisch blockierte Spießer-Gangster anlegen, bei denen vor wie hinter der Haustür in erster Linie die Peitsche regiert. Kosky lässt sein Ensemble die Figuren in den Songs ausmalen, die gestaltet und erzählt, fast nie von der Rampe weggesungen werden. Er liebt Weills Musik sicherlich mehr als Brechts Texte, trotz aller Lebendigkeit, die er in jenen findet

So tickt die Uhr der Inszenierung nicht nach dem Schlag der Zwanzigerjahre, weder dieser noch der letzten, sondern will eindeutig in Richtung Zeitlosigkeit. Das Politische steckt in dieser "Dreigroschenoper" fest in den Köpfen, Knochen und zwischen den Schenkeln. Doch Schweiß, Lachen und Tränen allein bilden eben keine politische Idee aus. Hier und heute mag das manchen zu heiß gefühlt und zu wenig kühl gedacht erscheinen. Ein paar Buhs für den Regisseur im überwiegend großen Jubel deuteten das an. Aber das Berliner Ensemble hat wieder eine "Dreigroschenoper", in der von denen im Dunkeln, ihrem Sein und Bewusstsein, eine ganze Menge zu sehen ist.

Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt Weill
Regie: Barrie Kosky, Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Dinah Ehm, Licht: Ulrich Eh, Tongestaltung: Holger Schwank, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Tilo Nest, Constanze Becker, Cynthia Micas, Nico Holonics, Kathrin Wehlisch, Laura Balzer, Bettina Hoppe, Josefin Platt, Heidrun Schug, Julia Berger, Nico Went, Julie Wolff, Nicky Wuchinger / Tobias Bieri, Dennis Jankowiak, Denis Riffel, Teresa Scherhar. Orchester: Adam Benzwi / Levi Hammer, James Scannell, Doris Decker, Vít Polák, Otwin Zipp, Stephan Genze, Ralf Templin.
Premiere am 13. August 2021
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Nicht ohne weiteres beantworten" lasse sich nach dieser hocherwarteten Premiere "die nicht unwesentliche Frage, was jetzt diese im sozialen Milieu von Verbrechen und Prostitution spielende und dabei für das Publikum so herrlich anschlussfähige, kleinbürgerliche Drama mit der Gegenwart zu tun haben könnte", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online am 14.8.2021). Mit dem nackten Bühnenbild von Rebecca Ringst trage die Inszenierung ihren Willen zu zeitloser Modernität vor sich her. "Das Hauptinteresse scheint bei dem Opernregisseur weniger im Schauspielerischen als im Musikalischen gelegen zu haben." Das siebenköpfige Orchester im Graben verbreitete viel gute Laune und scheine sich zwischenzeitlich mindestens zu verdoppeln. "Aber vielleicht liegt es an den Mikroports, dass gesanglich wenig Vielfalt, dafür aber eine durchgehende Verhaltenheit zu vernehmen ist."

Auf eine junge Truppe setze Regisseur Barrie Kosky bei dieser Inszenierung, schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (14.8.2021). Auch findet der Rezensent, dass Kosky "Tempo mache", den Klassiker "ironisiere" und eine Inszenierung der starken Frauen zeige. Doch trotz Lob für eine kreative, körperlich herausfordernde Bühne und die Kostüme ("großstädtisch" sei ihre Wirkung) ist der Rezensent final nicht ganz zufrieden mit dieser Dreigroschenoper: "Man sehnt sich dann doch nach Klarheit und Schärfe", meint er schlusssendlich und sieht eine Arbeit, in der das parodistische Element der Textvorlage für bare Münze genommen werde.

"Kein Glotzen, keene Romantik. Dafür wird gegendert", fasst Manuel Brug in der WELT (14.8.2021) den Abend zusammen. Die "längst schale" Brechtsche Moral werde mitunter "an der Rampe" ausgestellt, findet der wenig begeisterte Rezensent, dessen Schlussurteil dann auch eher lakonisch ausfällt: "Von wenig prominenten Darstellern professionell und botschaftslos musicalisiert. Das wird laufen."

"Zwischen Operette und Musical bewegt sich denn auch der Abend am BE, die Schauspieler sprechen und singen abwechselnd - solo, im Duett, im Chor und nehmen dabei auch mal den manierierten Gesang der klassischen Oper augenzwinkernd auf die Schippe", berichtet Rezensentin Cora Knoblauch im rbb (14.8.2021) erfreut. Koskys Inszenierung sei "beinahe selbstironisch". Das Premierenpublikum habe für die Regie einige Buhrufe übrig, dies sei allerdings ganz anders bei Band und Schauspieler:innen-Ensemble. Ein Eindruck, den die Rezensentin teilt. Sie schließt mit einer Prognose: "Die Kosky'sche Neuauflage der Dreigroschenoper wird dem BE, genau wie damals Ende der 1920er-Jahre, einen neuen Kassenschlager bescheren."

Mehr Posie aus der Musik und den Texten herauszuholen, das sei Barrie Kosky "gelungen", sagt André Mumot im Deutschlandfunk Kultur (13.8.2021). Es sei "vor allen Dingen ein musikalischer Abend", aber das Stück "vermittelt seine Botschaften ziemlich deutlich – auch in dieser Inszenierung". Dennoch sei das ein Abend, der sich "ganz als Komödie" definiere, "unterhalten" wolle und die "große Show" anstrebe – was er auch erreiche. Zu sehen sei ein "unglaublich interessantes, starkes Ensemble", das den traditionellen Brecht-Ton bewusst unterlaufe, findet der Kritiker – und prognostiziert der Inszenierung, ein "ziemlicher Hit" zu werden.

Eine "bunte Revue", allerdings "etwas spröder als von Kosky gewohnt", schreibt Helmut Mauró in der Süddeutschen Zeitung (15.8.2021). Die Inszenierung lebe "von den hervorragenden Darstellern", dem "virtuosen" Nico Holonics, "dämmere" aber "streckenweise inmitten bunter Lichter und perfekter Kostüme vor sich hin". Es entstehe der Eindruck, Kosky wolle "anlässlich des Jubiläums der Uraufführung vor 100 Jahren [sic] das Werk noch einmal ganz ernst nehmen und das Schwere leicht machen". Der Regisseur suche "muntere Unterhaltung um beinahe jeden Preis". Es sei aber eine "kaum zu unterschätzende Gefahr", dass "auch umgekehrt das Leichte schwer werden kann".

"Wie im Höhenflug" vergehen diese drei Stunden, ist Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.8.2021) begeistert. Kosky und das "phänomenale Schauspielensemble" schenkten "der Theaterhauptstadt einen neuen, rasanten Renner". Brechts Parabeln hätten an diesem Abend "nichts Verstaubtes, nichts Volkspädagogisches an sich, sondern gewinnen eine neue Verführungskraft, die sich ganz aus der Großzügigkeit ihrer Gestaltung ergibt". Zu sehen sei eine "ausgelassene Feier des Lebensspiels", eine "Rückeroberung des Bühnenraums", auf die "zu Recht so lange gewartet" werden musste.

"Das ist populäres Theater im allerbesten Sinn, drei Stunden lang Kurzweil und Wiedererkennen eines lieben Klassikers", schreibt Thomas E. Schmidt von der Zeit (18.08.2021). "Der Ausdruck ist einfach und sinnfällig, die Regie arte povera, wenn man so will." Viel werde an der Rampe gesprochen und gesungen, die ganz große Schauspielkunst finde also nicht statt. Den Hauptdarsteller hebt Schmidt dennoch hervor: "Nico Holonics ist ein Riesen-Unterhaltungstalent, ein natürlicher Performer, er ist ein energetischer, hasenzähniger Wirbelwird, komisch und dämonisch zugleich."

Kommentare  
Dreigroschenoper, Berlin: grandios
Wir sind immer noch berauscht von gestern. Die Schauspieler und vor allem die Musik waren grandios.
Dreigroschenoper, Berlin: farblos und routiniert
Sobald Barrie Kosky die Bühne mit seinem Team betrat, mischten sich unter den Applaus für Orchester und Ensemble deutliche Buhs. Waren das alles nur enttäuschte Traditionalisten, wie erste Stimmen vermuteten? Es lag vermutlich auch daran, dass Kosky diesmal alles vermissen ließ, was seine Inszenierungen an der Komischen Oper auszeichnet. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich eine Kosky-Inszenierung jemals so matt fand. Mit angezogener Handbremse arbeitet er sich durch den Abend.

Musikalisch ist die „Dreigroschenoper“ natürlich makellos, dafür sorgt schon Adam Benzwi als langjähriger Bühnen-Partner von Kosky. Auch die schauspielerischen Leistungen haben jeden Applaus verdient. Der Abend ist eine solide, spannungsarme Inszenierung eines oft gesehenen Klassikers. Bei jeder anderen Regisseurin oder jedem anderen Regisseur könnte man schnell einen Haken dahinter machen und es als routinierte Arbeit in das Repertoire einsortieren. Aber da mit Kosky schon ein Star-Regisseur für die Spielzeit-Eröffnung eingekauft wurde, muss man schon fragen, wo der Esprit und der Ideenreichtum waren, die Koskys Inszenierungen auszeichnen.

Kosky ist auch dafür bekannt, den queeren Aspekt in seinen Inszenierungen zu betonen, bis auf eine Cross-Gender-Besetzung von Kathrin Wehlisch als korrupter Polizeichef Tiger-Brown und den Lidschatten und Kajal-Strich von Nico Holonics, der als Mackie Messer vor allem auf der Zielgeraden in Gefahr gerät, die „Dreigroschenoper“ zur Solo-Show zu machen, ist davon wenig zu spüren und zu sehen.

Bis auf ein Solo von Constanze Becker mit der „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ als Mrs Peachum hat diese „Dreigroschenoper“-Inszenierung wenig Denk- und Erinnerungswürdiges. Die Operetten-Maschinerie schnurrt reibungslos, aber der Funke springt nicht über. Zu farblos und routiniert bleibt diese Kosky-Inszenierung. Hatte er zu viel Respekt vor dem traditionsreichen Ort oder Angst vor den Brecht-Erben, die schon mehrfach einen Rechtsstreit anzettelten, wenn ihnen ein Regie-Ansatz missfiel?

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/14/die-dreigroschenoper-barrie-kosky-berliner-ensemble-kritik/
Dreigroschenoper, Berlin: Gegenwart
Die tiefsinnige und so unerwartet originelle Erwägung von Ulrich Seidler hat mich nachdenklich gemacht und vor die Frage gestellt, was die Fußball-EM, der Urlaub am Mittelmeer und der unverzichtbare Besuch im Berliner Szenelokal mit der Gegenwart zu tun haben könnten. Neulich wurde danach gefragt, was Hofmannsthals "Bergwerk zu Falun" mit der Gegenwart zu tun habe. Mit gutem Grund. Aber was hatte es eigentlich mit der Gegenwart seiner Entstehung zu tun? Was hat, genau besehen, die Gegenwart mit der Gegenwart zu tun? Ich schlage vor: in Staub mit allem, was ohne Laschet, Scholz und Baerbock auskommt. Gebt uns auf der Bühne die Fortsetzung der Tagesschau. Oder wenigstens die Überschreibung durch ein mediokres Talent. Alles andere ist Luxus. Wahrscheinlich sogar neoliberal.
Dreigroschenoper, Berlin: Wir kennens ja
"Eine neue Dreigroschenoper für Berlin"

Die Dreigroschenoper muss anscheindend "delivert" werden. Lange Akzentuierungspausen vor den ausgemachten Pointen, betont einsames Klatschen für die überschwänglicheren Reden der Figuren. Zwischen der Seeräuber Jenny und dem "ich mag das garnicht bei dir, diese Verstellerei" muss ersteinmal in einem langen Schweigen der frenetische Applaus des Publikums, das die Urauffführung selbstwirksam nachevented, verdaut werden. Münz Matthias und Co sitzen im Orchstergraben, sagen aber nichts. Billy Logan singen sie dann aber doch als vier gestapelte weiß geschminkte Revueköpfe - verschwinden aber Gott sei Dank wieder. Die meisten Zwischenspiele sind auf 10% gekürzt, an diesem abend geht es um die Musik.

Der Running-Gag des Abends ist: Wir kennens ja. Haha, hier ist die Betonung anders, wo früher gesungen wird wird jetzt manchmal gesprochen. Wo gekrächzt wurde, wird jetzt geflötet. Zwangsläufig komisch antiklimaktisch und insgesamt ohne Höhepunkte. Die Choräle lipsyncht Mackie, ja i know, auch ihr kennt alles schon. Alles ist irgendwie witzig, wo man sich früher einen Reim auf den Kitsch machen musste, wird bei Kosky nicht mehr aufrichtig gekitscht sondern persifliert. Aber was heißt das eigentlich? Das Stück stellt wichtige Fragen an den Zuschauer: Ist die Dreigroschenoper einfach nur funny?
Obwohl, wenn ich mich richtig erinnere, kein Babylon Berlin 2 und keine Revueshow geplant war verlässt sich die Inszenierung auf deren Effekte. Es wird spannungsfördernd gehi-hated und auch das berühmt berüchtigte Kanonenlied zur angedeuteten Hintergrundatmosphäre.
Mit Revue zurück zur Delivery: Wo der hohe Opernton alleine nicht klarmachen kann, das es in der Dreigroschenoper mitunter (ACHTUNG) ironisch zugeht, geht dieser selbst in ein "Wir-setzen-noch-was-drauf" Tiegerbrüllen der Tiger Brown Tochter Lucy über, die finde ich sehr schön spielt. Im Gegensatz zu Peachum und Polly, die irgendwie über weite teile hibbelig realistisch spielen. Alles locker rausgeschüttelt aber trotzdem ergriffen vom eigenen Text (-> Beine und Arme viel bewegen).
Peachum mitunter auch als Zirkusdirektor mit Peitsche, Zylinder und Akzent(?). Irgendwo im Bild stehen ab und zu die Polizisten/ Callboys/ Bandenmitglieder, dürfen was aufheben oder etwas synchron amchen. Die Sprechrollen waren schon vergeben - Sorry 8a.

Auf die vollen geht beim Singen keiner, die Effekte sind zu geplant. Haha, hier war schon wieder etwas anders. Oh, ein Tremolo (Kitsch & Lachsignal).
Die Übergänge können nicht wirklich klappen, weil die meisten "Stichworte" und Handlungszusammenhänge rausgekürzt sind. Behelfs- und Bühnenshowmäßig geben die Figuren Einsätze per Fingerzeig: "Kick it, Adam!" (BE Seite: "Dirigat". Wird auch Operhaft beklatscht beim Graben betreten (Obwohl Renteranteil wie üblich!?)) Die Chöre werden im Gleichschritt vorgetragen, die Polizisten sind dystopisch gepanzert. Aber dankbarerweise ohne tieferen Sinn.
Endet ein Lied auf T, wiederholen wir das T, mehrmals - und dann Bitte nießen. Ab und zu über die Kette stolpern. Der Chefregisseur der komischen Oper erlaubt sich seine Freiheiten.
Dreigroschenoper, Berlin: Oper und Schauspiel
Ich habe die „Dreigroschenoper“ nicht gesehen, leider, kann dazu also nichts sagen. Aber dieser Hinweis von Seidler auf den „Opernregisseur“, der mehr an der Musik interessiert ist als am Schauspiel, ist so voller eigenartiger Scheuklappen, dass es ärgerlich ist. Kosky hat in Australien Schauspieltruppen geleitet, von „Dybbuk“ bis zu „King Lear“ wichtige Werke inszeniert, in Wien das Schauspielhaus geleitet, „Medea“ ebenso inszeniert wie die Oper „Poppea“ - und gerade im Opernbereich so inszeniert, dass der Schauspielhintergrund seine Arbeiten gerade auszeichnet. Selten in der Oper so genaue Darstellerinnenarbeit gesehen wie in „Eugen Onegin“, um nur ein Beispiel zu nennen. Gerade daran zeigt sich der Ansatz Koskys: Oper mit der Genauigkeit der Text- und Schauspielarbeit, Schauspiel mit der Musikalität des Opernbereichs (Wenn ich an seinen eher missverstandenen Strindberg im Berghain denke). Eine Einheit von Text- und Musiktheater, wie es von den Griechen bis zum jüdischen Melodram lange üblich war. Warum der Hinweis auf den „Opernregisseur“, den das Schauspielerische nicht so interessiert? Weil man nur die Opernabenden der letzten Jahre kennt? Das ist schade - und verstellt den genauen Blick. Und dann bleiben nur so Schubladen …
Dreigroschenoper. Berlin: Hit it, Adam!
@4: Er sagt "Hit it, Adam!" Und das ist nicht das Einzige, was Sie falsch verstanden haben...
Dreigroschenoper, Berlin: Interessant
Interessant, dass im Gegensatz zu allen anderen Kritiken die Nachtkritik fast ausnahmslos positiv ausfällt. Das wundert den Feuilleton-Leser dann schon!
Dreigroschenoper, Berlin: Verzaubert
Trotz und wider aller Kritik. Ich stimme die Publikum zu. Standing Ovation! Es war ein sowohl schauspielerisch, als auch musikalisch großartiger Abend. Ich werde diese Inszenierung bestimmt das eine oder andere Mal sehen, weil mich die Spieler*innen verzaubern... Constanze Becker, Cynthia Micas, Bettina Hoppe, Tilo Nest und großartig Nico Holonics. Kosky und Benzwi holen alles raus. Danke für einen wunderbaren, erstaunlichen Abend nach Corona. Man spürt den Spaß, die Freude der Spieler*innen und Kosky wusste das empathisch zu lenken. Alle Kritiker mögen sich ihre wenig kreativen Schreibtischarbeiten anschauen. Sie haben versagt, weil ihnen jegliche Empathie fehlt. Da sollte sie einfach einmal schweigen. Oder noch besser, nicht ins Theater gehen. Ein paar mehr freie Plätze zwischen den Zuschauern täten uns gut, vor allem dann, wenn sie übellaunig besetzt sind.
Dreigroschenoper, Berlin: Paradiesvogel
... als hätte die vergilbte Partitur von Brecht und Weill der Flügel eines Paradiesvogels gestreift..... schreibt heute die FAZ.
Dreigroschenoper, Berlin: Musicalisiert
Ich finde es ja immer erbärmlich, wenn von Kritikern das Wort "musicalisiert" als Abwertung benutzt wird - als wäre Weill mit Werken wie "Lady in the Dark" nicht einer der Urväter des amerikanischen Musicals, wie man es heute kennt, und als lägen nicht in Werken wie der "Dreigroschenoper" die Wurzeln. Musicalisiert da also jemand ein Prämusical eines späteren Musicalkomponisten oder was soll dieses unsinnige Wort?!
Dreigroschenoper, Berlin: Keine Wahrheit
Lieber pseudonymer Kritiker! Was ist daran "interessant"? Bedenklich fände ich es, wenn alle Kritiker zu gleichen Wertungen kämen. Dann bräuchten wir nicht mehr als eine einzige Kritik. Gut steht es um die Theaterkritik und um die Pressevielfalt, so lange verschiedene Kritiker mit verschiedenen Gesichtspunkten und Argumenten zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Die eine Wahrheit gibt es nicht, auch wenn Sektierer sie gerne zu besitzen behaupten. Mich erschreckt, ehrlich gesagt, schon die Sehnsucht nach ihr. Sie ist - nun ja: interessant.
Dreigroschenoper, Berlin: Schön verrechnet
Da hat sich die SZ ja mal ganz schön verrechnet, wenn sie die Inszenierung >anlässlich des Jubiläums der Uraufführung vor 100 Jahren< einordnet. Die Uraufführung war 1928.
Dreigroschenoper, Berlin: prominent
Habe ich mich da eben verlesen, oder schreibt Manuel Brug in der Welt tatsächlich von "wenig prominenten Darstellern"? Hat dieser wenig prominente Schauspielkritiker, dieser Opernschreiberling, überhaupt schon jemals ein Sprechtheater betreten, um Schauspielprominenz beurteilen zu können? Tilo Nest, Constanze Becker, Nico Holonics, Kathrin Wehlisch, Laura Balzer, Bettina Hoppe - wenig prominent? Was erlaube Brug? Sechs, setzen!
Dreigroschenoper, Berlin: Radio-Hinweis
Weiß nicht, ob dies hier schon veröffentlich worden ist. Ganz interessanter Einblick:

https://www.rbb-online.de/rbbkultur-magazin/reportagen/honey-and-nuts-wie-barrie-kosky-die-dreigroschenoper-inszeniert.html
Dreigroschenoper, Berlin: musikalisch herausragend
Es ist schade, dass in vielen Rezensionen die Musik nicht entsprechend gewürdigt wird. Es war am Sonntag musikalisch ein herausragender Abend und gerade die gesanglichen Leistungen dieses Schauspielsensembles, das dafür ja keineswegs ausgebildet ist, suchen ihresgleichen.
Dreigroschenoper, Berlin: Kritiken
Die Welt und die New York Times haben auch große Kritiken dazu veröffentlicht.
Dreigroschenoper, Berlin: enttäuscht gegangen
Ich fand die Oper überhaupt nicht gut inszeniert und bin noch vor der Pause gegangen. Total enttäuschend.
Dreigroschenoper, Berlin: Weltklasse
Dank hervorragender SchauspielerInnen...und super Musiker...einer grandiosen Musikalischen Leitung...hat Kosky der Stadt ein Feuerwerk geschenkt, dass hoffentlich noch lange zu erleben ist...Hingehen...begeiszert sein...weiter sagen...das ist Theater auf höchsten Niveau...Oliver Reese hat ein großes Ensemble: Gratulation...Tilo Nest, Constanze Becker tolle Peaxhums...Cynthia Micas spiel Polly so, dass es ein Vergnügen ist...Nico Holonics...ein super Mackie...Alle: Weltklasse
Dreigroschenoper, Berlin: Was begeisterte?
Begeisterung für Theater ist eine schöne Sache - lässt sich auch beschreiben, warum man begeistert ist oder wovon genau? Oder ist danach zu fragen "unanständig"?
Ich ginge gern hin, wenn ich wüsste, worauf die Begeisterung gründet.
Und woran misst man "Weltklasse"?
(Orthografie ist auch eine schöne Sache.)
Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Dreigroschenoper, Berlin: Standing ovation
Sorry about my mistakes, ladies and gentlemen: I come from New York
Für mich heißt Weltklasse, dass das Stück wirklich berührt, so wie es gespielt wird. Es gab standing ovations. Das ganze Ensemble und alle Musiker haben uns mitgerissen und nachdenklich gemacht. Ich bin beruflich weltweit unterwegs und gehe, wo es geht, ins Theater. Koskys Dreigroschenoper wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Also warum in Pankow bleiben, oder wo auch immer? Ticket kaufen und auf ins Berliner Ensemble.
Dreigroschenoper, Berlin: Glücksfall
Endlich eine Inszenierung, in der die Musik Weills, die eine ganz eigene Geschichte erzählt, mit Nuanciertheit und Farbigkeit daherkommt und ihr der Stellenwert eingeräumt wird, der ihr gebührt! Nur allzu oft musste sie als uninspiriert blass-grau betupfte Leinwand für das herhalten, was Regisseure als "wahre" Interpretation des Brechtschen epischen Theaters vorstellten. Dass Kosky für diese Wohltat Schauspieler*innen auf der Bühne versammelt, die nicht nur ihr Kerngeschäft grandios meistern sondern auch im Hinblick auf die gesungenen Parts stimmlich - je eigen - durchweg überzeugen, ist ein Glücksfall für Berlin. Hingehen!

(Anmerkung der Redaktion: dieser Kommentar stammt von der selben IP-Adresse wie der vorangegangene. Auch der nächste "Fan" Kommentar hat diese IP-Adresse.)
Dreigroschenoper, Berlin: was berührt?
Sehr geehrter Fan!
Ich danke Ihnen für die Antwort. Eine Antwort ist heutzutage eine Kostbarkeit. Ich kann Ihnen nicht auf englisch antworten, da ich die englische Sprache nicht beherrsche.
Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man weltweit unterwegs ist, ich bin aber durchaus Ihrer Meinung: Man sollte nicht in Pankow (oder wo auch immer) hängen bleiben mit seinen Kunsterfahrungen. Also halte ich dagegen:
Ich kenne beispielsweise die Inszenierung der "Dreigroschenoper" am Berliner Ensemble von 1960 (unter Erich Engel), und ich kenne mehrere Inszenierungen von Herrn Kosky. Und die Meinungen über die neue "Dreigroschenoper" gehen - wie man auch oben lesen kann - sehr auseinander.
Ich nehme Ihren Anstoß beim Worte und werde mich um Karten bemühen.
Gestatten Sie trotzdem die Frage: Können Sie noch genauer sagen, was sie und warum berührt hat und worüber Sie nachdenklich geworden sind?
(Ich kann standing ovations nicht für ein Kriterium halten.)
(Und noch: Ich habe selbst viele Jahre am Theater gearbeitet und interessiere mich sehr für die Meinung der Zuschauerinnen und Zuschauer,
und leider ist es nicht üblich die Platznachbarin oder den Platznachbarn
nach einer Vorstellung zu befragen.)
Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Dreigroschenoper, Berlin: gutes Team
Herr Ibrik, nun tun sie das doch in Zukunft, suchen Sie das Gespräch mit ihren Nachbarn oder in der Pause. Das ist nicht typisch deutsch doch passt es zur Berliner Direktheit.
Ich hatte zum Beispiel eine österreichische Deutschlehrerin neben mir sitzen, die noch nie eine Dreigroschenoper zuvor inszeniert gesehen hatte, aber mit vielen Klassen Brecht gelesen hatte. Sie wird beim nächsten Berlinbesuch sicher wieder das BE aufsuchen.
1960 war ich noch nicht geboren.
Mich berührt autentisches, leises und lautes Spiel. Gesang der unter die Haut geht. Pointen, die unter die sitzen, angedeutetes und ausgespieltes Szenisches. Lachen das im Hals stecken bleibt. Tilo Nest mit Texten, die wohl bekannt sind und Nachdenklich machen...Constanze Becker wie immer stark, Cynthia Micas, schon aufgefallen im Gorki, dann in München, Zürich, sie besticht mit Schönheit, Talent und Handwerk, eine seltene Kombination und dann noch Mut sich auch hässlich zu zeigen. Hervorragend, diese Polly: modern interpretiert und Zeichen setzend.
Nico Holonics hervorragend als Mackie Messer, wie es ihn so noch nicht gab. Genauso wie Kathrin Wehlisch, Brown spielt. Möchte sagen Charlie Chaplin hätte Vergnügen empfunden wie sie die Zwischentöne trifft sie ist eine Freude und auch das Unaussprechbare wird fühlbar, bitte fragen sie jetzt nicht warum:)
Laura Balzer lässt kurz aufatmen mit weniger ernst nehmbaren und doch ja immer noch existierenden Eifersuchtsduel mit Polly, beide auch im Zusammenspiel mitreißend. Amüsant.
Bettina Hoppe ist wie immer grandios und lässt die Spelunkenjenny vielschichtig fühlbar werden. Der Mond über Soho scheint durch Josefine Platt, durch das gesammte Ensemble und durch das Orchester hell und klar, warum? Ja weil es ein fantastisches, spürbares Miteinander gibt Dank Allen...Kosky und Benswi haben einen super Job gemacht und Oliver Reese hat ein gutes Team zusammen getrommelt.
Thank you all...
Dreigroschenoper, Berlin: noch eine Kritik
Anbei noch eine Kritik aus der Zeit für Ihre Rundschau: https://www.zeit.de/2021/34/dreigroschenoper-berliner-ensemble-barrie-kosky
Dreigroschenoper, Berlin: grandios
Was für eine beschwingte und swingende Aufführung ! Barry Kosky ist einfach der Meister dieses Genres und hat das auch mit der Be Truppe grandios auf die Bühne gestellt. Das war übrigens auch mein erster Vor-Ort-Kulturgenuss seit eineinhalb Jahren. So darf es gerne weiter gehen.
Dreigroschenoper, Berlin: der wahre Lockdown
Zu #24: In der von Ihnen verlinkten ZEIT-Rezension von Herrn Schmidt findet sich der schöne Satz: "Nach 93 Jahren rückt die Sozialkritik weit in den Hintergrund, stattdessen gerät das Muster der Gefühle in den Blick...". Dem Satz ist ein unausgesprochenes "Gottseidank!" eingeschrieben, das geht aus dem Tonfall der Rezension klar hervor. So weit sind wir also: Ein überaus ehrgeiziger Schauspieler singt vor besetztem Saal in einem der reichsten und gesellschaftlich zerrissensten Länder der Welt, nämlich dem unseren, den Satz NUR WER IM WOHLSTAND LEBT, LEBT ANGENEHM - es ließen sich zahllose weitere derartige Sätze zitieren -, ein Satz, dem "die Sozialkritik" heutzutage (z. B. des unermeßlich gesteigerten Reichtums weniger wegen) greller aus den Reptilienaugen leuchtet als vor 93 Jahren - und dieser Satz geht im "Muster der Gefühle" zur Freude des Rezensenten (und des Publikums) unter. Die seit der Uraufführung verstrichenen 93 Jahre (gefüllt mit Dreigroschenopern wie die Weihnachtsgans mit Äpfeln), die hier für diesen Effekt verantwortlich gemacht werden - der buchstäbliche Zahn der Zeit hat die soziale Schärfe des Satzes schlicht (und dauerhaft) abgenagt - sind, vemutlich, nicht die Schuldigen an diesem beklagenswerten Zustand. Wer oder was aber dann? Theater wird unter diesen Umständen jedenfalls sinnlos. Die Suche nach einer oder mehreren Ursachen für seine erfolgreiche Sinnentleerung beginnt zwangsläufig bei einer Inszenierung, die es offensichtlich nicht mehr vermag oder für nötig hält, gehörig Salz in die Suppe zu geben (und statt dessen schelmisch mit Glitzerkonfetti würzt) - und endet beim spiegelbildlichen Desinteresse des Publikums an seinen eigenen realen politischen und sozialen Verhältnissen, "die nicht so sind" oder zu sein scheinen, daß sie noch länger als änderbar angesehen würden - eine Voraussetzung, die für Brechts Theater als unabdingbar betrachtet werden darf. Dieses Desinteresse aber ist der wahre "Lockdown" - er schließt die Theater auch dann, wenn sie offen sind: indem er die Köpfe vernagelt, Julian Assange und andere ohne Asyl dem Verbrechen ausliefert und den kriminellen Wohlstand allenthalben "sein Ding" machen läßt.
Dreigroschenoper, Berlin: Büchner spricht
Georg Büchner: Dantons Tod.2.Akt,3.Szene (1835)
"...
CAMILLE. Ich sage euch, wenn sie nicht alles in hölzernen Kopien bekommen, verzettelt in Theatern, Konzerten und Kunstausstellungen, so haben sie weder Augen noch Ohren dafür. Schnitzt einer eine Marionette, wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt wird und deren Gelenke bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen – welch ein Charakter, welche Konsequenz! Nimmt einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff, und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich drei Akte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder sich totschießt – ein Ideal! Fiedelt einer eine Oper, welche das Schweben und Senken im menschlichen Gemüt wiedergibt wie eine Tonpfeife mit Wasser die Nachtigall – ach, die Kunst!

Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: die erbärmliche Wirklichkeit! – Sie vergessen ihren Herrgott über seinen schlechten Kopisten. Von der Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie nichts. Sie gehen ins Theater, lesen Gedichte und Romane, schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen zu Gottes Geschöpfen: wie gewöhnlich! – Die Griechen wußten, was sie sagten, wenn sie erzählten, Pygmalions Statue sei wohl lebendig geworden, habe aber keine Kinder bekommen.

DANTON. Und die Künstler gehn mit der Natur um wie David, der im September die Gemordeten, wie sie aus der Force auf die Gasse geworfen wurden, kaltblütig zeichnete und sagte: ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens in diesen Bösewichtern.
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Dreigroschenoper, Berlin: Nicht nur Glitzer
@Frank-Patrick Steckel: Die aus dem Kommentar sprechende Haltung zu Brecht ist jene, die mich immer von den Werken auf den Bühnen ferngehalten hat. Die "aus den Reptilienaugen leuchtende Sozialkritik" ist ja in vielen Werken so banal, dass man innerlich nur abnickt. Natürlich macht das die Kritik nicht weniger richtig, aber die Wirkung der Werke konnte für mich noch keine Inszenierung belegen, die versuchte, "Salz in die Suppe zu geben" - und versucht haben es ja unzählige Theatermacher*innen. Stattdessen saß ich in ich weiß nicht wie vielen Brecht-Inszenierungen und wurde vor lauter Nicken ganz müde. Denn wirkliche wirtschaftspolitische oder sozial- oder gesellschftspolitische Geistesblitze sind ja - über das obligatorische "no na" hinaus - nicht zu finden. Da können es noch so viele "kritische" Theatermacher noch so oft versuchen. Die "Dreigroschenoper" in Berlin habe ich nicht gesehen, aber ein anderes Beispiel. "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" - wie oft habe ich das Werk gesehen, als Kapitalismuskritik durch jeden Fleischwolf gedreht. Immer war es zeigefingrig, langweilig. Und dann Kosky in Essen - und auf einmal war das Werk angebunden an das Alte Testament, an jüdische Geshcichten aus der Würste - und ich habe viel mehr kapiert, als in jeder tagesaktuellen kapitalismuskritischen Inszenierung davor und danach. Da verstellt dann auch Glitzer nicht den Blick.
Dreigroschenoper, Berlin: Zeigefinger
Zu #28: Gemessen an dem Umstand, daß Ihnen das Essen in den Lokalen der Brecht-Kette im allgemeinen nicht schmeckt, scheinen Sie aber doch recht viele dieser Gaststätten besucht zu haben.Lese ich eine der alten Speisekarten eines Restaurants, in dem es Ihnen besser erging, lese ich: (Zitat)„Mahagonny“ ist die Entzauberung der kapitalistischen Ordnung als das was sie ist: Plutokratie – Herrschaft des Reichtums. Rastlose Vermehrung des Wertes. Wenig davon bei Barrie Kosky! Das knallhart Gesellschaftliche interessiert ihn nicht und kommt wenn überhaupt nur am Rande vor. Stattdessen geht es ihm um eine „biblische Burleske“, wie Kosky seinen knappen Programmaufsatz überschreibt. Mahagonny als „jüdische Volksoper“, als Stück über Menschen, die ihre Träume realisieren wollen." (Zitatende - aus einer online-Kritik von 2008.) Sie kommen mir vor wie ein Restauranttester, der immerfort Brecht bestellt, und, wird das Bestellte serviert, in 99% aller Fälle flucht: "Verdammt! Schon wieder gebratene Zeigefinger!"
Dreigroschenoper, Berlin: "Erlaubt ist, was gefällt"
Seit es Kunst gibt, befindet die sich in einem Spannungsverhältnis zur Gesellschaft.

Johann Wolfgang von Goethe(1749-1832),der als eine Art hybrider Kulturminister(Adieu Frau Grütters!) am Weimarer Hof involviert war, schrieb sein 1790 uraufgeführtes Schauspiel Torquato Tasso auf der Basis eigener Erfahrungen: Die Unvereinbarkeit von Kunst und Macht behandelt er so, dass unter verschiedenen politischen Systemen, jede Zeit sich darin wieder erkennen könnte. Dem Anspruch des Künstlers „Erlaubt ist, was gefällt“ wird der Widerspruch „Erlaubt ist, was sich ziemt“ entgegengesetzt.

Was ziemt sich, wenn alles erlaubt wäre?
Dreigroschenoper, Berlin: mehr als das Klischee
Ja was denn nun, soll man nicht kennen, was man kritisiert? Ja, ich bestelle auf der Speisekarte Brecht - warum denn auch nicht? Um in Ihrer Sprache zu bleiben: Einen guten Kaiserschmarrn bekommt man selten, aber wenn er gut ist, ist er eben richtig gut. Und ich bin überzeugt, dass Brecht mehr ist, als das deutsche Klischee - und mehr, als die abgestandenen Gesellschaftskritik (denn dass das Ziel der Kritik immer noch kritikwürdig ist, macht die Art und Weise der Kritik ja nicht spannender). Und ja, die biblische Burleske hat mehr über Brecht erzählt - und mehr über den Versuch von Utopien und deren Kippen ins Gegenteil, damit über den Umweg auch mehr über Gesellschaft, als viele andere Mahagonny Inszenierungen (ja, ich hab Mahagonny ein paar mal bestellt). Dass das in Kritiken abgewatscht wird, weil es das doch sehr eingeübte 08/15 Brecht-Bild schief rückt und über Kurt Weill auch viel vom zutiefst jüdischen Erbe zurückholt, who cares?!
Dreigroschenoper, Berlin: Freude
Wie froh ich jedes Mal bin ... wenn in dieser elenden Rubrik gelegentlich FPS klärende Gedanken beisteuert.
Dreigroschenoper, Berlin: klärend?
Dieses uralte, kulturpessimistische: „Ich erkläre, was der Tod des Theaters ist! Und nur ich alleine“ ist ein klärender Gedanke? Oh je …
Dreigroschenoper, Berlin: gebratene Zeigefinger
Das ist zwar jetzt weitab von der Sache, aber die Formulierung "Verdammt! Schon wieder gebratene Zeigefinger!" von Steckel finde ich so großartig, dass ich sie demnächst für irgendeine Kritik stehlen werde - die Gelegenheit wird sich sicher bald ergeben.(und dann werde ich die Quelle natürlich nicht nennen... aber hier im Vorfeld kündige ich es schon mal an, um nicht gänzlich als blasser Schurke dazustehn).
Dreigroschenoper, Berlin: Brechtische fehlt
Habe die Inszenierung 2 X gesehen, in Berlin und bei den Ruhrfestspielen. Bin letztlich nicht so glücklich damit geworden: Mir fehlte das "Brechtische": also die böse Gesellschaftskritik, mir grenzte die Aufführung an manchen Stellen doch zu sehr an Klamauk; die vom Schauspielerischen her sehr guten Darsteller wurden zu Selbstdarstellern, die sich ausleben konnten aber mitnichten mehr dem Brecht'schen "Epischen Theater" mit der Absicht, den Zuschauer im weitesten Sinne nachdenklich zu machen, entsprachen. Die Aufführung ist sicher bestes "Schau-Spiel" und als solches sehenswert und unterhaltsam, aber keine substanzielle Neu-Interpretation.
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