Autor:innentheatertage 2021 - Deutsches Theater Berlin
Hand in Hand im Hafermilchland
von Stephanie Drees
Berlin, 4. September 2021. Zeit für das "Geteilte", das "Wir". Zumindest eine Form des "Wir". Zeit im künstlerischen Möglichkeitsraum, in dem vermeintliche Gewissheiten und Besserwissereien von der Kraft des Konjunktivs übertrumpft werden. All das kann Theater sein, wenn man dem Schriftsteller, Dramatiker, Regisseur und Dramaturgen Lukas Bärfuss glaubt. Und klar: Man möchte ihm glauben, nicht nur aufgrund der Emphase in Schweizer Singsang, mit der er seine Eröffnungsrede der Langen Nacht der Autor:innen am Deutschen Theater ausstattet, sondern auch, weil das Dramatiker:innen-Festival wacker durchgehalten hat. Selbst letztes Jahr gab es eine Ausgabe der "Autor:innentheatertage", leicht verwundet von der Pandemie (eine Uraufführung musste kurzfristig abgesagt werden), aber eben keine Absage.
Fragen an die Welt
Dieses Jahr scheint nun also das Motto zu sein, wieder aus dem Vollen zu schöpfen. Gleich zwei Festivalausgaben in einer Spielzeit kündigt das DT an, ein neues Residenzprogramm mit fünf Hausautor:innen startet diesen Monat. Dramatiker:innenförderung satt, darauf ist das Haus sichtlich stolz. 212 Stücke wurden eingesandt bei dem Wettbewerb, der traditionell an einem Herzschlagabend zeigen soll, wie es grade um die Tendenzen in der deutschsprachigen Nachwuchsdramatik steht. Promis Lukas Bärfuss, Fritzi Haberlandt und Schorsch Kamerun in der Jury, und, so versichert Bärfuss (ihr Vorsitzender), ein Festival mit Wettbewerbseinsendungen, die allesamt "ernst gemeint" waren, eine "Frage an die Welt hatten".
Zwei Uraufführungen sind an diesem Abend zu sehen und eine Produktion, die bereits im Juni Open-Air-Licht erblicken durfte. Fragen an die Welt – ja, das löst sich ein, vor allem aber Kommentare zu einer Lebenswelt, in deren Mittelpunkt oft mediale Erfahrungen stehen. Besonders augenfällig ist das in der Uraufführung von "Ich, Wunderwerk und how much I love Disturbing Content" der jungen Dramatikerin Amanda Lasker-Berlin, die als Koproduktion mit dem Schauspielhaus Graz entstand.
Bilder, die um die Welt gingen
Drei Figuren in Power-Ranger-Kostümen stehen da auf der Bühne. Und eine müde, blond gelockte Frau in orangefarbenen Leggins und Blouson-Jacke, ein Wesen aus den 80ern, bewaffnet mit Knarren, im Angesicht des comichaften Geschehens auf der Bühne döst sie immer wieder weg. Nur das Wort "Gladbeck" weckt sie kurz auf und versetzt in Schussbereitschaft. Mit den Power Rangern sind wir in einem steril-weißen Fotostudio. Wie lebendige Kameras erzählen sie minutiös Szenen der Gegenwart: "Der, der brennt, rennt", heißt es da lakonisch und gemeint ist die Handykamera-Aufnahme einer Szene in Mexiko, wo bei Protesten gegen Polizeigewalt ein Polizist von einem Demonstranten angezündet wurde.
Detaillierte Beschreibungen von Bewegtbildern, die um die Welt gingen: Der Tod von George Floyd 2020, die Festnahme des Afroamerikaners Derrick Scott 2019, dessen Fall eine bedrückende Nähe zu dem von Floyd aufweist. Der im Video ebenfalls "ich kann nicht atmen" sagt, der später im Krankenhaus an einem Lungenkollaps sterben soll. Und das sogenannte "Geiseldrama" in Gladbeck 1988, bei dem der Bankraub zweier Männer zu einer buchstäblichen, medial begleiteten Irrfahrt wurde.
Wohin die Erzählungen tragen
Dann das Hinein- und Herauszoomen in Szenen, die aus dem Privaten kommen, Videos der weihnachtlichen Idylle, "ich, Weihnachten 1996" ist die Einleitung, die die Figuren immer wieder sprechen, Bilder beschreiben, die nicht weniger als ein Familiengeheimnis offenlegen sollen. Verschneidungen also, wohin das Auge sieht – oder, nein, wohin die Erzählungen vor dem geistigen Auge tragen. Es ist eine kluge erzählerische Konstruktion, die Amanda Lasker-Berlin in ihrem Stück bietet und die in der Inszenierung von Claudia Bossard über weite Strecken ihre Kraft entfaltet. Es geht um (Zeit-)Zeugenschaft und die Macht der Bilder, die Flut der Dokumentation, die tagtäglich über uns hereinbricht. Darum, was Erinnerung genau bedeutet, wenn sie medial geteilt in das kollektive Gedächtnis bricht, wenn die blond gelockte Frau im 80er-Jahre-Outfit, eine Bewohnerin von Gladbeck, ihr Bedauern darüber ausdrückt, dass die Reporter:innen nicht auch sie befragt haben, nicht auch ihr eine Bedeutung verliehen haben im Bilderstrom.
Zwischen Bubble Tea und Ditsch-Pizza
Dieses Grundnarrativ ist stark, es macht der Inszenierung hier und da aber auch Schwierigkeiten. Viele verschiedene Perspektiven zu verschneiden und aus der Beschreibung von Videobildern Erzähltheater zu machen, bedeutet, gegen das Zerfasern, gegen den Verlust der Spannung auf der Bühne anzuarbeiten. Nicht immer gelingt das – was aber auch daran liegt, dass das Stück mit der interessantesten erzählerischen Position an diesem Abend neben zwei weiteren steht, deren Inszenierung immens stark ist.
"When There's Nothing Left To Burn You Have To Set Yourself On Fire" von Chris Michalski kam bereits im Juni 2021 Open Air am DT zur Premiere. Es ist eine dieser Traumpaarungen, die das Theater manchmal zu bieten hat: In der Regie von Tom Kühnel ist hier eine Art bittere Schwarzhumor-Satire über mediale (Selbst-)Inszenierung entstanden, die so komplexe Phänomene wie Verdrängungs- und Livebilderkultur leichthändig verheiratet. Dabei scheint doch alles wie eine Boulevard-Komödie für das Influencer-Zeitalter zu beginnen: Anstatt Auf- und Abtritt der Stellvertreter-Figuren auf der Bühne also das Einblenden der Bilder aus Petras Video-Blog. Eine Youtuberin, deren äußeres wie inneres Koordinatensystem durch die Standorte von Konsumketten-Filialen im "Paunsdorf"-Einkaufszentrum bestimmt werden.
Abrechnungen mit der Jetztzeit
Ausgerechnet dort, mitten im Markenhimmel von P-Dorf, zwischen Bubble Tea und Ditsch-Pizza, hat sich ihr alter Schulfreund Jan L. selbst in Brand gesetzt. Einst war er Soldat im Auslandseinsatz, sein Trauma entlud sich in dieser Katastrophe. Petra wäre nicht Petra, wenn sie dem Ganzen nicht in einer absurden Video-Reihe auf den Grund gehen würde. Es sind einzigartige Rollen für die DT-Schauspieler:innen, allen voran Katrin Wichmann (Petra) und Anja Schneider. Schneider übernimmt gleich mehrere davon. Mit komödiantischem Können bringt sie zum Beispiel als Soldaten-Witwe mit viel Trauer und ebenso viel Freude an Mätzchen vor der Facetime-Kamera den Kern dieser bitterbösen Jetztzeit-Abrechnung zum Leuchten, belebt die Referenzen um Insta-Gebaren und True-Crime-Voyeurismus. Ein schöner Beweis dafür, dass die oft geforderte "Welthaltigkeit" junger Dramatik auch in satter Ironie zu haben ist.
Das sprachlich stärkste Stück kommt an diesem Abend von der Dramatikerin Sarah Kilter. In "White Passing" schickt sie eine namenlose Heldin, eine "Sie" mit Migrationshintergrund in einer nächtlichen Reise von Charlottenburg in den Berliner Wedding. Derweil warten die "Freund:innen" zwischen Hafermilch-Drinks und leise schließenden Küchenschranktüren. Doch der Wedding, der ist mitunter laut, vor allem in der Badstraße, wo die Protagonistin mit ihrem algerischem Vater einst gelebt hat. In der Inszenierung von Thirza Bruncken philosophieren Barbie-Puppen in einer riesigen aufgerissenen Plastik-Reisetasche über "reiche deutsche Studenten" mit Avocados auf den weißen Tennissocken und "Deutschland in Spiegelstrichen". Kilters Stück ist ein großes Spiel mit Zuschreibungen, das, hoch aufgedreht und inszenatorisch verfremdet, die Fallstricke von Identitäts-Konstruktionen offenlegt. Und – das eint es mit den anderen zwei Arbeiten – wenig Angst vor der Provokation hat.
Das "Geteilte", das Lukas Bärfuss zu Anfang dieses Abends beschwört, es löst sich mit diesen drei starken Stücken und ihren starken Inszenierungen ein, vor allem in der punktgenauen Ausleuchtung von Lebensrealitäten, die eine Dramatiker:innen-Generation gleichermaßen trennt und verbindet. Die beste Nachricht ist: Sie hat etwas zu erzählen.
Ich, Wunderwerk und How Much I Love Disturbing Content
von Amanda Lasker-Berlin
Uraufführung
Regie: Claudia Bossard, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Elisabeth Weiß, Mitarbeit Kostüm: Matthias Dielacher, Choreografie: Marta Navaridas, Musik: Annalena Fröhlich, Dramaturgie: Franziska Betz.
Mit: Lisa Birke Balzer, Fredrik Jan Hofmann, Katrija Lehmann, Evamaria Salcher.
Premiere am 4. September 2021
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause
When There‘s Nothing Left To Burn You Have To Set Yourself On Fire
von Chris Michalski
Regie: Tom Kühnel, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Juliane Kalkowski, Video: Bert Zander, Licht: Kristina Jedelsky, Dramaturgie: Juliane Koepp, Franziska Trinkaus.
Mit: Manolo Bertling, Anja Schneider, Katrin Wichmann.
Premiere am 5. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde, 20 Minuten, keine Pause
White Passing
von Sarah Kilter
Uraufführung
Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig Regie: Thirza Bruncken, Bühne / Kostüme: Christoph Ernst, Licht: Thomas Kalz, Dramaturgie: Marleen Ilg. Mit: Meriam Abbas, Julia Preuß, Bettina Schmidt.
Premiere am 4. September 2021
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause
schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com
schauspiel-leipzig.de
deutschestheater.de
Formal betrachtet navigieren die drei Gewinnerstücke souverän durch ihre Erzählungen, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (6.9.2021). "Dialogisch ist wenig in den zerlegten Bildbeschreibungen und Gedankenströmen. Inhaltlich aber suchen tatsächlich alle gerade durch diese medial und rhetorisch versiegelten Oberflächen der Weltwahrnehmungen nach Lücken, Wegen hin zu etwas Wahrem, Menschlichem". Michalskis dramatische Videoblog-Imitation sei bereits im Juni auf der Hinterhofbühne des DT "etwas verjuxt" worden. Zu den anderen beiden Inszenierungen schreibt Meierhenrich: "Für die Bühne ist Regisseurin Thirza Bruncken zu Kilters Stereotypen-Theater leider nicht mehr eingefallen, als es in ein mechanisches Geschiebe dreier quietschstimmiger Barbies zwischen Konsumgütern zu setzen. Dafür verleiht Claudia Bossard dem bilderstürmenden Lasker-Berlin-Stück aufgeteilt auf vier tolle Comic-Superhelden vor weißer Wand tragikomischen Drive."
"Petras Sprache bewegt sich zwischen Empathie, Indiskretion, Hilfslosigkeit und inflationärem Product Placement", schreibt Katja Kollmann in der taz (4.9.2021) über Chris Michalskys Beitrag. Katrin Wichmann statte diese Sprache in der DT-Inszenierung "mit einer passgenauen, gerade noch nicht nervenden Stimme aus". In der Regie von Tom Kühnel behielten alle Figuren ihre Würde. Schmunzeln sei außerdem erlaubt.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
- 29. September 2024 Schauspieler Klaus Manchen verstorben
neueste kommentare >
-
Spardiktat Berlin Nachfrage
-
Glaube, Geld, Krieg..., Berlin Werde eine Karte kaufen
-
Spardiktat Berlin Hilfe!
-
Spardiktat Berlin Leider absehbar
-
Spardiktat Berlin Managementskills
-
Spardiktat Berlin Baumolsche Kostenkrankheit
-
Einsparungen 3sat Unterschreiben!
-
Spardiktat Berlin Nicht konstruktiv
-
Einsparungen 3sat Geschätzter Stil
-
Spardiktat Berlin Verklausuliert
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Meriam Abbas, Julia Preuß und Bettina Schmidt piepsen in "White Passing" die Dialogfetzen als Barbie-Puppen vor sich hin, mit denen sich Sarah Kilter über typische Diskursmuster der beschriebenen Milieus lustig macht. Das Stimmen-Gewirr wird durch kurze tänzerische Einlagen durchbrochen, die Romy Avemarg zu Lady Gaga oder the Prodigy choreographierte.
„White Passing“, das auf der großen Bühne des DT Premiere hatte und in die Diskothek des Schauspiels Leipzig wandern wird, macht über weite Strecken Spaß, ist mit 90 Minuten aber eindeutig zu lang. Sarah Kilters Konzept wäre als mittellanger Sketch oder als Revue aus Schlaglichtern hervorragend aufgegangen. Was unterhaltsam beginnt, erschöpft sich aber bald in der Wiederholung derselben Klischees. Selbstironisch bringen die drei Spielerinnen all diese Vorwürfe, die man dem Abend machen kann, am Ende selbst vor, als sie vorne an der Rampe einen Dialog mit dem Publikum imitieren.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/09/05/autorinnentheatertage-2021-deutsches-theater-berlin-kritik/