Bleib der eine, stets entzweite Mensch

von Anne Peter

Berlin, 16. Dezember 2009. Jetzt!, denkt man. Jetzt ist sie echt, diese Johanna. Jetzt scheint dort oben eine Figur mit ihrer ganzen großen, echten Wut zu uns zu sprechen. Eine Wut, die mit der Erkenntnis gewachsen ist und gegen Ende des Theaterabends in jenen berühmten Revolutions-bejahenden Brecht-Satz mündet: "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und / Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind."

Die Wut hat ihre Stimme rau gemacht und Tränen aus den kajalverschmierten Augen getrieben. Es ist eine Wut, die man dieser Johanna allzu gern glauben, von der man sich wenigstens für einen Augenblick aufgerüttelt fühlen möchte. Doch schon entschwindet Katharina Marie Schubert gen Unterbühne, um kurz darauf in jenem weiß gleißenden Glitzerschuppen-Kleid wieder aufzustehen, mit dem sie den Abend begonnen hatte.

Komplexe systemstabilisierende Kräfte

Wir sind überführt: dem Revolutions-Kitsch sind wir aufgesessen, sonst nichts. Die ihr von Brecht noch zugebilligte Märtyrerrolle darf diese Johanna nicht spielen. Stattdessen stimmt sie am Ende ein in den Chor jenes System-stabilisierenden "Reiche den Reichtum dem Reichen! Hosianna!" und singt dann noch das Loblied der Zwei-Seelen-Brust: "Bleibe stets mit dir im Streite! Bleib der Eine, stets Entzweite!"

Hiermit wird gewissermaßen auch das Credo des Weder-Noch, das Nicolas Stemann in seiner "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" drei unterhaltsam-anregende Stunden lang ausbuchstabieren lässt, des beständigen Changierens in einem unendlich komplexen Gesamtzusammenhang, das keine Position als haltbare durchgehen lässt, am Ende bitter ironisiert. Und auch sonst wird bei Stemann wie gewohnt alles in sich stets weiterschraubender Ironisierung und Kommentierung bis zur Unhaltbarkeit entstellt.

Brechts "Heilige Johanna" hat, neben Jelineks Kontrakte des Kaufmanns, aus naheliegenden Gründen in dieser Finanzkrisen-Saison 2009/10 Hochkonjunktur. Tilmann Köhler inszenierte das Stück am Staatsschauspiel Dresden unlängst in kühl-wuchtigem Metallkisten-Setting als Testosteron dampfendes Boxgerangel, in dem die Figuren noch deutlich als solche erkennbar mit den zwei Seelen in ihrer Brust rangen.

Gerangel um die Mauler-Rolle

Stemann geht das Ganze erwartungsgemäß ganz anders an und ist über so etwas wie widersprüchlich fühlende Subjekte schon hinweg. Andreas Döhler, Felix Goeser und Matthias Neukirch verkörpern bei ihm, mal abwechselnd und Rollen-springend sowie Regieanweisungs-verlesend, mal chorisch das 'System Mauler' bzw. das obere Ende der sozialen Hierarchie – und lösen so das individuell haftbar zu machende Subjekt in ein jede Verantwortung zerstäubendes Kollektiv von Highclass-Konkurrenzlern auf. Wenn die Geschäfte des Fleischkönigs gerade gut laufen, streiten oder rangeln sie um die Mauler-Rolle. Wenn dieser zur Rede gestellt wird, will keiner der Mauler gewesen sein.

Die bei Brecht angelegte Romanze des moralisch angefochtenen Fleischbosses mit Johanna wird von Stemann ganz ins Reich der Soap-Kulissen verwiesen. Und geheuchelte Moral wird in aufgesetzte Sorgenfalten gepackt. Besonders eindrucksvoll der Hundeblick von Goeser, der immer mal wieder zur Rechtfertigung des vermeintlich naturgegebenen kapitalistischen Systems anhebt: "Gegen Krisen kann keiner was!". Die Bilder von demonstrierenden Menschenmassen, eingreifenden Polizisten, Plattenbausiedlungen, einem aus verschiedenen deutschen Großstadt-Bauten zusammengesampelten Bankenviertel, inklusive Berliner Fernsehturm, werden als Live-Video-Abfilmung von Miniaturmodellen auf die Projektionswand gebeamt. Und ein 23-köpfiger Chor leiht auf der Drehbühne mal den kleinen Spekulanten, mal den Arbeitslosen eine Stimme.

Tausend Hungertote auch während dieser Show

Wie so oft gereicht Stemann der Plot, der um halsbrecherische Insider- und Termingeschäfte am Fleischmarkt von Chicago gestrickt ist, zur großen Selbstreflexionsshow. Jeder Vorwurf, den man einem wohlfeil sozialkritischen Theater machen könnte, ist hier schon mitinszeniert. So betreten zu Anfang vier Schauspieler in Galakostümen die Bühne, Johanna in besagtem Glitzerkleid, die drei Männer in weißen Anzügen – es herrscht die Verlogenheitsatmosphäre einer Wohltätigkeitsveranstaltung.

Brechts Gutes-tun-wollende Johanna erscheint auf der Metaebene dabei quasi als Personifikation des kritisch beflissenen Kulturbetriebs. Bis zu ihrem Rausschmiss aus der Heilsarmee agiert die tolle Katharina Marie Schubert als eine Art einfühlsame Talkmasterin, sanft ermunternde Engagementsbetreiberin zwischen Anne Will und Sandra Maischberger, die alle Wohlmeinensblicke, alle Gutmenschengesten perfekt beherrscht und sich selbst ihre Rolle am allermeisten abnimmt. Da wird von prekären Verhältnissen, vom Elend, vom Hunger, vom Frieren der Arbeitslosen gespielt, die vor den zugesperrten Fleischfabriken sitzen, während man im Deutschen Theater stets Schuberts Abendkleid vor Augen und es ansonsten kuschelig warm hat: "923 Menschen sind seit Beginn dieser Vorstellung an Hunger gestorben", zeigt die Videoleinwand im Aktienkurs-Stil an und zählt mit jeder Sekunde einen Toten mehr, 924, 925, 926...

Und am Ende ein kleines Huch

Das untere Ende des sozialen Schaukelbretts wird von der aufwühlend sperrigen Margit Bendokat besetzt. Ihre trainingsbejackte Frau Luckerniddle schleppt in den beiden Lidl- und Obi-Tüten an ihrer Seite mutmaßlich ihr gesamtes Hab und Gut mit sich, ihre Schnarrstimme erinnert in diesem Kontext plötzlich an den Aufsagemodus der müden Straßenzeitungsverkäufer in Berliner U-Bahnen. Stemann wertet die Luckerniddle zum eigentlichen Störfaktor im Mauler-System auf, kann sie im Gegensatz zu Johanna doch weder integriert noch instrumentalisiert werden.

Bisweilen schleudert diese meist stoisch-stumpf blickende Person ihre Plastiktüten gefährlich wild um sich oder brüllt als Arbeiterführer propagandascharf ins Megaphon. Wenn sie ganz am Ende noch einmal gut kommunistisch darauf besteht, dass man hätte generalstreiken sollen, wird sie kurzerhand mit einer Maschinengewehrsalve – aus dem Klangbaukasten der Bühnenmusiker – niedergestreckt. Und Johanna kann nur noch ein "Huch!" ins Mikro hauchen. Mit diesem fatal hilflosen Achselzucken entlässt der Abend einen ins Nachdenkgewitter.


Die heilige Johanna der Schlachthöfe
von Bertolt Brecht
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Oliver Helf, Nicolas Stemann, Kostüme: Esther Bialas, Komposition und musikalische Leitung: Thies Mynther, Video: Claudia Lehmann, Chorleitung: Marcus Crome, Dramaturgie: Sonja Anders, Licht: Matthias Vogel.
Mit: Margit Bendokat, Andreas Döhler, Felix Goeser, Matthias Neukirch, Katharina Marie Schubert (Schauspieler), Johannes Alfred Mehnert, Thies Mynther, Antonio Palesano, Richard von der Schulenburg (Musiker), Ekaterina Grizik (Live-Video), Christiane Droz, Nina-Maria Fischer, Barbara Jaenichen, Gesina Drebber, Christa Meier, Irene Oberrauch, Silvia Pagel, Josephine Rösener, Winnie Siepert-Lemke, Ingetraud Skirecki, Lothar Butszies, Werner Feja, Stephanus Fränzel, Volker Giese, Thomas Hartkopf, Uli Heim, Fritz Walter Huste, Christoph Jaenichen, Henry Kotterba, Manfred Meier, Reinhard Schmidt, Jens Wetzel, Tobias Wuttke.

www.deutschestheater.de


Mehr zu Nicolas Stemann in nachtkritik-Archiv: Im Oktober 2009 inszenierte er am Thalia Theater Lessings Nathan der Weise. Und im April 2009 brachte er Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns in Köln zur Uraufführung. Mit Schillers Räubern befasste sich Stemann 2008 bei den Salzburger Festspielen in Kooperation mit dem Thalia Theater. Und Friedrich Schiller lieferte auch die Basis für Elfriede Jelineks RAF-Stück Ulrike Maria Stuart, das 2007 zum Theatertreffen eingeladen war.

 

Kritikenrundschau

Für Ulrich Weinzierl (Die Welt, 18.12.) ist mit dem "Huch!" am Schluss der Abend "auf den Begriff gebracht". Diese Inszenierung ist für ihn ein "Fehlgriff": "Stemann hat, was Könner auszeichnet, eine unverkennbare künstlerische Handschrift. Die darf sich alles erlauben, wenn sie konsequent bleibt. Hier indes zerfließen szenische Krakelzeichen ins Beliebige, ein Klecks reiht sich an den anderen." Es ist, als hätte Stemann "seine eigentümliche Sprache verloren, als würde er in fremden Idiomen stammeln". "Naturgemäß" liege der Reiz von Brechts Lehrstück "keineswegs in der ideologischen Doktrin, sondern in der virtuosen Travestie des hohen Tons der Verse, in denen da Ökonomie und Moral, das Krudeste und das Erhabene abgehandelt sind". Doch "wie ungeheuer banal und albern" wirke das bei Stemann. Die Aufführung schwanke "zwischen Verfremdungseffekten, Kabarett, Slapstick und musikalischer Revue". Alle Figuren werden hier "dem Gelächter preisgegeben. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Lesen wir stattdessen lieber den armen, klugen B. B.!"

"Abgegriffen" ist auch laut Irene Bazinger (FAZ, 18.12.) das, was Nicolas Stemann hier "abliefert": "Das Ensemble ist nämlich durchgängig gezwungen, auf völlig banale Weise zu zeigen, dass es Theater spielt, dass dazu Worte und Figuren gehören – vermutlich damit das Publikum nicht vergisst, wo es ist und was es sieht." Das sei zwar zuweilen "lustig", wirke aber "ziemlich hilflos, wenn die Darsteller in fliegenden Wechseln die Rollen tauschen und die Besucher ostentativ augenzwinkernd über das Offensichtliche informieren". Stemann nehme zwar das Stück ernst, "aber das Stück nimmt ihn nicht für voll". Und "wo der Autor von Fleisch und Tücke redet, gibt's beim Regisseur nur Luft und technischen Aufwand, und wo jener plastisch komplex wird, nur durchsichtige Posen".

Hans-Dieter Schütt (Neues Deutschland, 18.12.) schreibt dagegen: Die Inszenierung "empfand ich so stark, dass die Lust am Theaterbeschreiben verging. Es gibt Kunst, da bist du schnell wieder draußen, also drin im akuten Lebensgefühl." Stemann spiele mit dem Stück. "Das ist sein Bekenntnis zur Ohnmacht, 'There ist no Alternative' leuchtet es auf der Leinwand. Kapitalismus for ever. Für immer? Das heißt: so weit unsere beschränkte Fantasie reicht. Aber die Inszenierung leidet auch an dieser Ohnmacht, an diesem ironischen Weltverhalten, Stemann ist ein Durchreisender im orientierungslosen Raum, er gesteht, dass es die Reise in einer Gespensterbahn ist." Es sei "zum Wahnsinnigwerden. Johanna wird wahnsinnig." Und im Programmheft stehe der Satz: 'Nach sechzig Jahren Sozialer Marktwirtschaft in Deutschland scheint es 2009 legitim, mit Brechts 'Johanna' im Hinterkopf zu fragen: Warum wollen WIR keine Gewalt?' Es gibt gute Gründe und feige Gründe. WIR. Die wohlanständigen Wegseher, redlichen Ich-Interessler, diskursfiebrigen Sprachlosen."

Und "wie macht man Kapitalismuskritik, wenn man ausgerechnet 1968 geboren ist und nicht die geringste Lust hat, das Theater seiner Rabenväter zu wiederholen?", fragt Rüdiger Schaper (Der Tagesspiegel, 18.12.). "Nun", so seine Antwort, "der Regisseur Nicolas Stemann nimmt (...) die schwere Sache leicht." Es gebe hier zwei Möglichkeiten: "Entweder macht sich Stemann über das alte politische Theater und seine Parolen lustig und findet das alles eigentlich blöd: Dagegen spricht, dass das im Grunde schon Brecht erledigt." Oder aber Stemann "will zeigen, dass wir unfähig sind, politisches Theater überhaupt noch auf die Bühne zu stemmen. Dafür spricht die Mauligkeit seiner Protagonisten, ihre demonstrativ zur Schau gestellte Unlust und ihr fader Zynismus". Diese Haltung übertrage sich auf die gesamte Veranstaltung: "Zynisch, müde, gequält höflich und heiter. Kurz: verlogen. Was soll's, Brecht ist Mist, Kapitalismus ist Scheiße, und dem Theater fällt dazu halt nichts mehr ein." Das ergebe "einen schrecklich matten Abend zwischen Hoffen, dass es einmal wieder besser wird, und Bangen, dass es jetzt immer so läppisch weitergeht".

Ist dieses "Huch-Theater" wirklich "eine komplexe Variante der Kapitalismuskritik?", fragt dagegen Dirk Pilz (Berliner Zeitung, 18.12.). "Ist es, zum Beispiel, komplexer als jenes von Volker Lösch (...)? Und ist es intelligenter, wenn bei Stemann alles in Frage gestellt wird, nur nicht seine Inszenierungsprämisse, derzufolge sich das verantwortliche Subjekt in Systemdampf aufgelöst hat? Es sieht bei Stemann zumindest alles sehr tricky aus." Anders als zuletzt am Hamburger Thalia Theater, "wo er mit 'Nathan der Weise' auch seine eigene Verzweiflung angesichts dieser unserer überaufgeklärten Welt mitinszeniert hat, stellt er hier nur eine schale Botschaft aus". Sie laute: "Es gibt keine einfachen Wahrheiten." Es hätte sich aber gelohnt, darüber "etwas unvoreingenommener, vorsichtiger" nachzudenken. Der Abend würde nicht "derart abgekapselt, besserwisserisch wirken". Brecht werde damit von Stemann unterboten: "Dessen Stück handelt von der Überprüfung der 'großen geistigen Systeme', und keines lässt er aus. Stemann demontiert ebenfalls alles, nur nicht sein gemütliches Huch zu allem."

Nicolas Stemanns sonst "so leichtes Balancieren von inhaltlichen Schwergewichten" komme hier nicht zum Zuge, schreibt Katrin Bettina Müller (taz, 18.12.): "Während der Regisseur sonst auf der Metaebene, mit der Reflexion seiner Theatermittel, stets auch inhaltlich den Horizont aufreißt, bleibt dieser Zugriff bei Brecht, der diesen Geist ja vorgegeben hat, plan." Aus diesem Schema schere allerdings eine aus, die Schauspielerin Margit Bendokat: "Ihre Verteidigung des Kommunismus ist genau jene Stelle, an der man unsicher wird, wie ernst das gemeint ist; die Schauspielerin, schon lange am Deutschen Theater in Berlin und gelernte Ostlerin, schafft es ausgerechnet mit einem routiniertes Leiern pathetischer Worte, das Zuhören und Mitdenken wieder einzuschalten. Da war mehr als Theater, da knallte Geschichte durch eine elegante Oberfläche, plötzlich und präzise." Und so, wie Bendokats Agitatorin die Lage schildert, "zwischen den Spekulierenden und den Verarschten, so lässt Stemann seine Inszenierung auch enden. Es gibt keinen Grund mehr, nicht zu Gewalt zu greifen."

Von einer" immerwährenden ironischen Brechung" berichtet Eberhard Spreng (Deutschlandfunk, Kultur heute, 17.12.). Jede Handlung, die die Geschichte vorantreiben könnte, werde wieder persiflierend zurückgenommen. "Kaum ist eine Szene skizziert, zieht sich eine ihrer Figuren wieder aus dem Spiel auf die Metaebene zurück. Ist das die marxsche Charaktermaske der ökonomischen Rolle, die hier gezeigt wird? Nein, es ist der Stemannsche Regiebaukasten der immerwährenden Migration der Zeichen von einer Darstellungsebene zur nächsten." Das habe einigen "Witz", doch "am Ende hat Stemanns Regiezeichenbausatz sein Pulver verschossen, ist auch die Ironie müde geworden und hat einem melancholischen Pathos Platz gemacht. Aber all das ist einem Stück gegenüber äußerlich geblieben, das sich nur bei oberflächlicher Betrachtung eignet, um mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 von der heutigen Krise zu erzählen".

Für Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung, 18.12.) hingegen zielt "der ganze Gestus des Abends" darauf, "Brecht als Ahnvater des Diskurs-Pop zu rehabilitieren". Er hat einen "listigen Versuch" Stemanns gesehen, "dem Unterhaltungskünstler im Lehrmeister zu seinem Recht zu verhelfen". Dabei erweise er sich "als der beste Schüler seines Autors" Brecht. Und Katharina Marie Schubert erweise sich wiederum als "ein wahres Vorweihnachtsgeschenk für Berlin. Sie spielt die Johanna mit augenzwinkernder Nonchalance, eine vom Himmel gefallene Fee im langen Paillettenkleid". Die Frage nach dem gewaltsamen Widerstand bleibe hier "kokett offen". Überhaupt inszeniere Stemann nach der Pause "skizzenhaft, zuletzt fahrig". Aber auch hierbei gebe es "tolle Kabinettstückchen, intelligente Seitenhiebe und wunderbare Musik". Stemanns Inszenierung wirke am Ende "unfertig, aber wirklich fertig werden kann man kaum mit diesem Stück. Spielen jedoch sollte man es - dieser ebenso amüsante wie analytische Abend zeigt, wieviel Klasse in dem Schulbuch-Klassiker steckt, wenn man sein vergilbtes Etikett abreißt".

Laut Hannah Pilarczyk (Spiegel online, 17.12.) wiederum geht dieser Theaterabend "auf völlig unerwartete Weise schief". Mit seinen Inszenierungen von Elfriede Jelineks Texten habe er gezeigt, "wie beherzt er Stücke in die Mangel nehmen kann: Er führt vor, wo sie Empörungsfolklore leisten, walzt den Slapstick aus und lässt dennoch ihren moralischen Kern intakt". Bei der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" habe ihm Brecht diese Arbeit aber "leider schon abgenommen". Deshalb bekomme man hier "erstmalig einen sehr ratlosen Stemann zu sehen". Leicht setze der Abend an, doch die Inszenierung wirble durcheinander, "sobald Brechts Text etwas mehr Wind macht". Und als hätte Stemann "selbst erkannt, dass seine Banalisierung von Brecht ins Leere läuft, setzt er nach der Pause plötzlich auf Bierernst". Allein der "herausragenden Margit Bendokat" gelinge es, "über den gesamten Abend Komik und Betroffenheit zu gleichen Teilen zu verschmelzen".

 

Kommentare  
Stemanns Johanna: hier kracht es!
Das war doch viel stärker, eindringlicher und kapitalismuskritischer als das Pseudopolittheater von Volker Lösch neulich, das doch rein affirmatives, einfältiges Wohlfühltheater war. Bei Stemann, da kracht es richtig.
Stemanns Johanna: Kapitalismuskritik am Theater ist dumm
"Kapitalismuskritik" ist des kleinen Theatermännleins Sonnenschein. Es gibt nichts dämlicheres, zurückgebliebeneres, in jeder Hinsicht uneigentlicheres als "Kapitalismuskritik" am Theater. Dumm, dümmer, "Kapitalismuskritik". Die Robert-Enkisierung des Stadttheaters schreitet unaufhaltsam(?) voran. Macht die Buden endlich dicht, und gebt das Geld den mutigen, hellen, neugierigen Menschen der Zukunft!
Also!
Stemanns Johanna: um unser Nicht-Verstehen geht es
Mein Zahnarzt sagt immer, er versteht das alles nicht, die sollen doch nicht immer so ein Theater machen. Ja genau, vielleicht hat er das wirklich nicht verstanden, denn darum gehts doch! Zumindest der Beschreibung von Anne Peter nach. Vielleicht sollte ich doch mal wieder ins Theater gehen, auch wenn ich fast nie mehr hin gehe. "Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Das ist ein Wandel, der mich selbst stutzig macht. Was ist geschehen? Wann ist es geschehen? Habe ich mich verändert? Oder das Theater? Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?" (Roland Barthes)
Stemanns Johanna: endlich Schluss mit der Märtyrerrolle
Das der Herr Zahnarzt keine Kapitalismuskritik mehr braucht, ist ja klar. Wer sich im System gut eingerichtet hat und davon lebt, den stört das doch total. Frage mich nur welchen mutigen, hellen, neugierigen Leuten er das "viele" Geld, das die Stadttheater noch bekommen geben möchte.
Genau all diese Leute werden in Stemanns Inszenierung durchgespielt. Ansätze zum Nachdenken gibt es in Hülle und Fülle, man muss nur wollen. Theater kann immer nur aufzeigen und anregen. Lösungen muss die Gesellschaft selber finden. Das Stemann endlich mit der Märtyrerrolle der Johanna Schluss macht war längst fällig, so hatte Brecht das sicher auch nie gedacht. Aktualität ist auf jeden Fall immer darstellbar in diesem Stück und das gelingt Stemann in all seinen Inszenierungen auch immer wieder. Also wer Spaß an der Ironie hat und über sich selber lachen kann ohne zu vergessen auch mal darüber nachzudenken wie Kapitalismus wirklich funktioniert, der sollte sich das Stück ansehen, es lohnt auf jeden Fall.
Stemanns Johanna: Gänsehaut erzeugende Margit Bendokat
Und es hat mir ausgesprochen gut gefallen. Margit Bendokat ist ungeheuer stark, umwerfend komisch und gänsehaut-erzeugend.

Die ganze Inszenierung klug und unterhaltsam, ein wunderbarer Theaterabend.
Stemanns Johanna: ach, ihr Armen
Selig sind, die ein schlichtes Gemüt haben, denn sie faseln vom "System".
Selig sind, die arm sind an Verstand, denn sie bedürfen "Ansätzen zum Nachdenken".
Selig sind, die hungern und dürsten nach Abwechslung, denn sie freuen sich über "Aktualität".
Selig sind die geistig Armen, denn sie wissen, "wie Kapitalismus wirklich funktioniert".
Stemanns Johanna: arm, die alles zu wissen glauben
Wirklich arm sind die, die alles schon zu wissen glauben und das auch noch ständig ab sondern müssen. Ich bin toll, ich habe den Nietsche wirklich verstanden. Mann kommen Sie runter und setzen Sie sich mal ernsthaft mit Ihrer Umwelt auseinander. Dieser Nihilismus kotzt mich an.
Stemanns Johanna: ungescheit
Wie kann sich so ein müdes dummes ungescheites Zahnarztmenschlein Thusta nenne. Ja er ist des Latein mächtig. So tot wie diese Sprache ist das Zahnärztlein, so wichtig fühlt es sich in seinem Geldrausch. Mann Junge, du lebst nicht auf dieser Welt. Und gehe bitte nicht ins Theater, bearbeite lieber deine privatärztlichen Rechnungen, damit am Ende alles stimmt und dann reise dorthin, wo wir dich besser nie sehen,(...)!!!
Ein Dank an Stemann und Lösch.
Stemanns Heilige Johanna: kein Platz für Identifikation
Ja, Frau Peter, ich finde, Sie haben den Abend mit Ihrer Kritik auf eine ganze stolze Reihe von Denkpunkten gebracht. Er wäre es wert. Bloß - ist da nicht etwas Kaltes, Abweisendes in der ganzen Anordnung, das einem die Lust vergällt, darüber noch weiter nachzudenken, als Sie es bereits getan haben? Ich sage mal so: es gibt keinen Schauspieler, Schauspielerin, mit der/dem es Spaß machen würde, sich wenigstens partienweise zu identifizieren. Ich weiß, Identifikation unnnnnhhhhuuuaaaah, schlimmer kalter Kaffee. Dennoch, so funktioniert das bei mir im Theater. Und bei Stemann ist alles so geisteshell, wenigstens meint man das, und geistesgegenwärtig in der Distanzierung, dass ich mit dem Gefühl, der Identifikation nu gar nich mehr dazwischen komme. Trotz der wirklich tollen, manchmal anbetungswürdigen Schauspieler. Das ist eine Differenz, die mir ein wenig zu schaffen macht.
Stemann Heilige Johanna: geht hin, und schaut
Ich finde die Aufführung schlicht und ergreifend grossartig und empfehle jedem, sie zu sehen. Einem Bekannten, der halb so alt ist wie ich, ging es genauso. Sind wir schon mal zwei. Geht hin und sehet selber.
Stemanns heilige Johanna: plötzlich wieder ganz real
Stimmt, Stefan Hufschmidt. Ich habe die Inszenierung gestern gesehen und war ebenfalls sofort davon eingenommen und total begeistert.
Und das Beste war, meine Erwartungen wurden aufs Positivste enttäuscht. Denn nach dem Lesen von Anne Peters Kritik dachte ich zunächst, dass dieser Abend die Thematik eher lächerlich machen bzw. in Nonsens auflösen würde. Aber was passierte dann? Ich habe mitnichten ein schwaches "weder-noch" gesehen, sondern ein starkes und entschiedenes "entweder-oder". Ich war ständig hin- und hergerissen, welche Haltung ich denn nun zum Thema dieser Inszenierung einnehmen soll. Rational gesehen, passt das Lob des Kommunismus nicht mehr in den heutigen Zeitkontext. Aber durch den Chor (Massenbewegung, Zusammenklang der Stimmen, Gefühl!) und vor allem natürlich durch Margit Bendokat wurde diese vergangene Zeit für mich plötzlich wieder ganz real, real auf der Bühne, um den heutigen Kontext ausserhalb des Theaterraums zu sprengen.
Gleichzeitig wurde ich mir aber auch immer wieder des Showcharakters des Theaters bewusst. Bloß, das machte mir eher noch dringlicher bewusst, dass ich es bin, die eigentlich handeln müsste. Und vor allem, gemeinsam handeln müsste. Da sitzt so eine Masse Zuschauer um mich rum, und wenn die jetzt losziehen würden und. Mm, schöner Traum oder doch möglich?
Stemanns Heilige Johanna: drängende Langeweile
keine identifikation. nirgends. das hätte brecht sicher gefallen. ohne geht aber bei mir nichts. also weiss ich auch wieder, warum ich seit so vielen jahren brecht-abstinent bin ...
sicherlich gute schauspieler, aber leider verloren in den "geistesblitzen" des regisseurs. drängende langeweile, die mich kaum auf dem stuhl hielt. abgang in der pause. große enttäuschung.
Stemanns Heilige Johanna: Identifikation mit Suchenden
Ich kann nicht verstehen, wie man sich mit den Schauspielern nicht indentifizieren kann, wenn man keine Indentifikation findet (sic!). Gerade die Zweifel, die die Schauspieler während der Aufführung immer wieder formulieren, erlauben doch einen tollen Einstieg in die Identifikation. Ich kenne zwar die Arbeitsweise von Stemann nicht, aber Sie können sicher sein, dass der nicht hingeht und sagt, mach mal das und du spiel mal diese Idee etc. Das läuft über - na, Identifikation. Schade, dass die nicht gefunkt hat bei Ihnen, weil ich diesen Ausgangspunkt, also, dass da vier Schauspieler stellvertretend für uns ihre Bezüge zu Stück, Thema und Rolle suchen (durch die Textbücher für alle klar erkenntlich gemacht) ein Angebot finde, mit dem man in den Abend genommen wird, um dort all das wieder zu finden, was uns in der Krise so ratlos macht. Den Rest hat Inga Ulrike Maria Johanna trefflich beschrieben.
Stemanns Heilige Johanna: Durchspielen von Haltungen
@ rgl: Aber es vollzog sich doch immer wieder neu eine Identifikation des Schauspielers mit dem jeweiligen von ihm gesprochenen Text. Das heisst, eine Identifikation über den Sprechakt. Und über das Hören bzw. über das denkende Nachvollziehen dieses Sprechakts vollzog sich eine Identifikation von mir als Zuschauerin mit der in dieser Situation von diesem Schauspieler eingenommenen Haltung.
Das ist natürlich nicht die psychologische Einfühlung in eine von vornherein fest umrissene Figur. Nein. Da wird erst über das Erproben und Durchspielen eine sich immer wieder verschiebende Haltung zum Text und zur Figur gesucht. Ebenso vollzieht sich meine eigene Wahr-Nehmung. Ich schlage mich - je nach Situation bzw. Entwicklung des plots und der Figuren - mal auf die eine und mal auf die andere Seite, ohne mich eindeutig festlegen zu können. Darin zeigt sich die grundsätzliche Perspektivität von Wahrheit. Hier wird demonstriert, dass ideologische Systeme zu nichts gut sind ausser zur abstrakten Weltanschauung über das praktische Alltagshandeln hinweg.
Am Ende steht da dieser Satz "Es gibt keine Alternative". Und das bringt es auf den Punkt. Keine Alternative wozu? Zum Kapitalismus? Zum Kommunismus? Oder gehts hier nicht vielmehr um das Dazwischen? Um die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Menschen für sein Handeln und damit auch für die Konsequenzen seines Handelns in Bezug auf eine politische Gemeinschaft. Dringlichkeit besteht immer.
Stemanns Heilige Johanna: Mit Brecht arbeiten
Brecht ist in: Land auf, land ab wuchten Theater den Meister der Kapitalismuskritik auf die Bühne, um abzutasten, ob er nicht Antworten haben könnte auf die aktuelle Krise des Kapitalismus. Auch das Deutsche Theater macht da keine Ausnahme: Hat Michael Thalheimer nit seinem Puntila die Frage strikt verneint und aus Puntila einen Beckettschen Verlorenen gemacht, fällt die Antwort Stemanns sehr viel komplexer aus. Das liegt vor allem daran, dass er nicht an Brecht arbeitet, sondern mit ihm.

So nutzt Stemann Brechtsche Techniken, um sich dem Kern seiner "Johanna" zu nähern. Schon der Beginn zeigt das: Drei Stühle, darauf Schauspieler mit Textbüchern in der Hand, diebeginnen, den Text zu rezitieren. Dabei kommt es zum Streit um die Rollen: Jeder will Mauler sein, da kann es schon handgreiflich werden. Wer es zum Mikrofon schafft, hat gewonnen, wenn auch nur kurz. Hier wird verfremdet, was das Zeug hält, lautet die Botschaft.

Auch Brechts Vorliebe, Botschaften in Songs zu packen, greifen Stemann und sein Komponist Thies Mynther auf, mit Hilfe gar eines zwanzigköpfigen Chors. Wie oft bei Brecht sorgt die Musik für Struktur und Rhythmus des Stücks. Auch der Einsatz von live erstellten Videos zur Illustration ist in Brechts Sinne, neigte er doch durchaus zum Plakativen.

Stemann dekonstruiert Brecht also nicht, er überträgt Brecht mit Brecht. Das ist kein Naturalismus, Figuren entstehen, lösen sich auf, multiplizieren sich. Da wechseln die Maulers oder sind plötzlich drei, da wir die Arbeiterwitwe zum kommunistischen Agitator, oder einer der Maulers zum Missionar oder zum egoistischen Arbeiter. Das immer wieder behauptete Gegeneinander von Arm und Reich, Oben und Unten wird gleichzeitig aufgelöst und bestätigt. Immer rasanter wandelt sich das flexible Bühnenbild, Orte wie Menschen werden austauschbar und erhalten dann doch wieder ihren festen Platz.

Spätestens hier trennen sich Stemanns und Brechts Wege und beantwortet sich die Ausgangsfrage: Brecht sieht im Duell von Maulers profitgetriebenem Opportunismus und Johannas christlich grundiertem Moralismus eine dritte Kraft, einen möglichen Ausweg: den Aufstand der Unterdrückten, die - kommunistische - Umwälzung der Verhältnisse.

Bei Stemann gibt es diese Gewichtung nicht: Alle Wahrheiten sind gleich viel oder gleich wenig wert: Maulers, Johannas, die der Kommunisten. Das entwertet sie nicht, im Gegenteil. Antworten kann keiner geben und so endet das Stück in Johannas ebenso überraschtem wie ratlosem "Huch". Antworten auf die Krise, so sagt uns Stemann, kann Brecht vielleicht nicht geben, er kann aber - vielleicht - helfen, die richtigen Fragen zu stellen. Und das ist ja auch schon eine Menge wert. - http://stage-and-screen.blogspot.com/ -
Johanna der schlachthöfe, Berlin: einer der wenigen Vorteil
Ach, manchmal ist es vielleicht doch ganz gut, ein Obdachloser zu sein. Insofern man nicht rechtlos abgeknallt wird. Huch.
Kommentar schreiben