Die magische Hand der Zeit

21. Juni 2020. Zwölf Stunden durch die Nacht und durchs Worldwide Web. Auf einer Städtetour mit Gob Squad zwischen Berlin, Sheffield uns Südengland. Auf der Suche nach der guten Zeit, die wir so vermissen. Und der verlorenen Gemeinschaft. Theaterglück online!

Von Christian Rakow

Sean Patten am Piano, es geht auf schon Mitternacht zu – im Berliner HAU und vor den Monitoren daheim. Bild: Screenshot

21. Juni 2020. Ich denke, ich lege mal los. Es ist weit nach Mitternacht an diesem längsten Tag der Nordhalbkugel, und Gob Squad wollen noch bis in die Morgenstunden Mitsommer feiern. Aber die Klänge aus "Good Night" von den Beatles, die an diesem Abend zu jeder vollen Stunde erklingen, locken immer sirenenhafter in die Kissen.

Loops und Stagnations-Choreographien

Die Online-Performance begann um 18 Uhr mit Hindernissen: der Ton wackelig, der Stream stürzte nach wenigen Minuten ab, die eigens eingerichtete HAU-Website war nicht mehr erreichbar (man hatte erstmals Tickets für eine Onlineproduktion verkauft) – und nirgendwo Support in Sicht. Solidarisch verabschiedete sich dann auch noch mein eigenes Internet, sodass ich schließlich gute 40 Minuten nach dem Start eintraf, als Sharon Smith daheim in Süd-England gerade Brotteig zubereitete, während Sean Patten in Treptow über Berliner Mauer räsonierte und Berit Stumpf wie eine Stadt-Guerillera durch den Prenzlauer Berg cruiste, um in Gedanken die Skulptur eines fitten weißen Mannes vom Sockel vorm Planetarium zu stoßen.

Alles halb so schlimm. In den zwölf Stunden, auf die Gob Squads Livestream-Städtetrip "Show Me A Good Time" angelegt ist, hat man reichlich Zeit, in den tiefenentspannten Rhythmus zu finden, der hier gepflegt wird. Wie in einem endlosen Loop scheinen sie gefangen: Wir sehen zentral im großen Saal des Hebbel-Theaters (HAU1) eingangs Simon Will als Künstler in der Corona-Einsamkeit: vor leerem Parkett, gefilmt durch eine portable Kamera, gierig nach Berührung, nach einer Welt dort draußen, nach Publikum. Und diese Welt und das Publikum beschaffen ihm die Mitspieler*innen an den vielen Orten, von denen aus sie zugeschaltet sind: die meisten aus Berlin (wo der Livestream produziert wird); Sarah Thom sendet aus Sheffield und singt dort einmal zum emotionalen Höhepunkt des Abends ganz leise und gebrochen "You'll never walk alone" am Stadion der Hillsborough-Katastrophe.

Die Berliner Performer*innen wechseln ihre Orte und Rollen, aber ihre Stunden bleiben ritualhaft gleich gebaut: Kleine Loops oder Stagnations-Choreographien zur viertel Stunde – kollektives, zunehmend sardonisches Lachen zur halben Stunde – Tableaux vivants mit Bücherlektüre um Dreiviertel – und kurz vor der vollen Stunde müssen ein Motiv, ein Stücktitel und ein*e Zuschauer*in gefunden werden, die den verzweifelten Performer*innen auf der HAU-Bühne Inhalt und Rückenstärkung für eine improvisierte zweiminütige Tanz- oder Musikeinlage geben.

Die großen Fragen

Klingt alles furchtbar undramatisch, aber es entwickelt den eigentümlichen Reiz, den Gob Squad in ihren größten Abenden (und in ähnlich gelagerten Vorgängerarbeiten wie "Super Night Shot") erzielten. "Show Me A Good Time" zelebriert die hohe Kunst, so lange die leere, verregnete Alltäglichkeit zu bespiegeln und sie dabei langsam mit pathetischen Motiven anzureichern, bis man vor den großen Fragen nach Zukunft, Wandel, Vergänglichkeit steht und die besonderen Momente (die "good time") erkennbar werden.

"Vielleicht ist es die Zeit für naive Gesten?", fragt Bastian Trost, als er durch den Wedding läuft, um eine seiner Balkonblumen in den Stadtraum zu verpflanzen. Wie stets treten Gob Squad in der Rolle der traurigen Clowns auf, die sich nicht scheuen, die eigene Unzulänglichkeit auszustellen. Wenn sie sich verheben, kriegen sie das das Gewicht der Welt zu spüren. Laura Tonke hat sich ihre Mutter hinzugeholt, um sich als unkreative Tochter mit Mutterkomplex zu inszenieren – und entwirft mit ihr herrliche skulpturierte Bilder mit Fladenbrot vor dem Gesicht. Später reist sie mit leisen Anklängen an das "Blair Witch Projekt" in den nächtlichen Treptower Park.

ScreenshotxGobSquad3Tatiana Saphir auf der leeren Bühne des Hebbel-Theaters und im World Wide Web. © David Baltzer

"Ihr fehlt die Resonanz" äußern die Kolleg*innen einmal über Berit Stumpf, die am Klavier im HAU einsam "Pour Adeline" von Richard Clayderman spielt. Das Gefühl kennen Theaterfreunde in diesen Tagen. Auch mich befällt gegen 22 Uhr ein tiefes Gefühl von Verlassenheit und ich schicke einen ersten Tweet ins Netz. Und merke, dass da noch andere wie ich vor ihren Bildschirmen hocken (auch in San Diego, dessen La Jolla Playhouse die Arbeit koproduziert hat). Ein Kanal für diese Gleichgesinnten wäre schön gewesen, ein Hashtag, auf dem man sich zuwinken kann. Immerhin durfte man sich an manchen Stellen in das Skript dieses Abends einschreiben, mal eine SMS senden oder per Anruf Titelvorschläge für die finale Performance unterbreiten.

Ein Sommernachts-Netztheater-Traum

Jetzt ist es kurz vor sechs Uhr. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich das Morgengrauen mitmachen würde. Aber die Arbeit hat ihren Sog entwickelt. Die Veränderungen der Stadt über die Dauer, mit ihren verstreuten Nachteulen, die sich stets auf den letzten Drücker für zwei Minuten Livestream-Theater gewinnen ließen, die vielen beiläufig schönen Wendungen – "Das ist die magische Hand der Zeit: Die Haare werden grau und ich kann mir keine Texte mehr merken." – das alles hat Poesie. Fürs Finale wurde die Struktur noch einmal auf ihre Sollbruchstellen getestet. Es gab Tränen statt Lachen, es wurde kollektiv gepinkelt, das Timing ging kalkuliert den Bach runter, und schließlich fanden sie zu einer "Berührung", die sie sich von der ersten Minute an ersehnt hatten.

Es waren zwölf mitsommerliche Netztheater-Stunden, und eine wirklich gute Zeit.

 

Show Me A Good Time
von Gob Squad
Production, Concept and Direction: Gob Squad, Video Design: Noam Gorbat, Miles Chalcraft, Sound Design: Sebastian Bark, Jeff McGrory und Catalina Fernandez, Costume Realisation: Emma Cattell, Lighting Design und Technical Management: Max Wegner, Dramaturgy und Production Management: Christina Runge, Set Assistant: Amina Nouns, Artistic Assistant: Mat Hand.

Mit: Sean Patten, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost, Simon Will, Tatiana Saphir, Laura Tonke, Sharon Smith.
Premiere online: 20. Juni 2020

Dauer: 12 Stunden, keine Pause

hebbel-am-ufer.de

lajollaplayhouse.org
schlachthaus.ch
kampnagel.de
mousonturm.de
gobsquad.com

 


Kritikenrundschau

Von einer außergewöhnlichen Ausdauerleistung ("extraordinary feat of endurance"), die das Banale und Absurde verbinde ("(b)lending the banal and the absurd"), berichtete Kate Wyver im Guardian (22.6.2020). "Gob Squad haben den Lockdown genutzt, um eine Fieber-Traumzeit-Kapsel zu schaffen. Sowohl ernsthaft als auch spielerisch stellt die Show die Frage, wie das Theater nach einer Pandemie aussehen wird. Nach 12 Stunden werden wir mit großen Augen ausgespuckt, schweißgebadet und nicht klüger; aber wenn es nur halb so abenteuerlustig und ehrgeizig ist wie dieses, dann steht uns eine gute Zeit bevor." (engl. "Gob Squad have used lockdown to create a fever-dream time capsule. Both seriously and playfully, the show asks what theatre will look like post-pandemic. After 12 hours, we’re spat out wide-eyed, sweat-sheened, and none the wiser; but if it has half the sense of adventure and ambition as this, we’re in for a good time.")

Pam Kragen von The San Diego Union-Tribune (26.6.2020) gibt in einer Kurzkritik zu Protokoll: "Obwohl vom Konzept her ehrgeizig, war es alles andere als eine gute Zeit. Ich habe mir mehr als drei Stunden der Veranstaltung angesehen und fand sie langweilig. (...) Die undefinierte, sich langsam bewegende Ziellosigkeit der Inszenierung machte sie zu einer lästigen Pflicht (engl. "While aspirational in concept, it was anything but a good time. I watched more than three hours of the event and found it tedious. (...) the undefined, slow-moving aimlessness of the production made it a chore to watch."

"Zwölf Stunden, intim, schön, klug und manchmal auch ein bisschen lang", so erlebte Falk Schreiber (€) die Online-Premiere im Juni. Für das Hamburger Abendblatt (22.8.2020, hinter Paywall) hat sich der Kritiker auch die auf vier dreistündige Abende verteilte Echt-Life-Produktion von "Show Me A Good Time" auf Kampnagel angeschaut und findet sie "live ganz ähnlich aufgebaut wie im Netz – wer das Projekt schon im Internet verfolgt hat, erfährt wenig Neues". Der Abend sei "erwartbar charmant, und handwerklich macht der Gruppe ohnehin niemand etwas vor – die Mischung aus Live-Film und Performance funktioniert auch auf Kampnagel perfekt. Es ist allerdings auch ein wenig harmlos."

Stimmen zum Gastspiel der Produktion auf dem Berliner Theatertreffen 2021

"Das Erstaunliche ist, wie sich aus dem Zufälligen und dem Alltäglichen ständig kleine Partikel lösen und in einen größeren, schon ziemlich philosophischen Kontext eingewoben werden", schreibt  Katrin Bettina Müller in der taz (18.5.2021). Verbindungslinien in die Vergangenheit werden gelegt, in die Geschichte des Theaters, konkret auch des Hauses der Berliner Festspiele, zurzeit in Sanierung, gebaut 1963 als 'Theater der Freien Volksbühne', das aus einer demokratischen Idee hervorging, größere Teilhabe an der Kultur zu ermöglichen. Für Gob Squad, die seit über 20 Jahren die Formen von Hochkultur und Repräsentation mit Alltagsformaten unterwandern, ist das eine Steilvorlage." Fazit: "Gob Squad lässt die unterschiedlichsten Erwartungen an das Theater hart aufeinanderprallen, verteidigt dabei noch einmal den eigenen postdramatischen Ansatz: Und tatsächlich erweist er sich als äußerst offen und leistungsfähig für die Reflexion dessen, was gerade geschieht, mit dem Leben, mit den Künsten, mit der Teilhabe."

Für Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.5.2021) "zeigt sich schnell, dass diese Art von Distanztheater rein formal wie ästhetisch eine Tortur ist – die Tonqualität ist dürftig, die Bilder sind beliebig, die zunehmend selbstreferentiellen Improvisationen öde. Leider hat die Gruppe auch inhaltlich nichts zu sagen und kann dies trotz routinierter Ironie und berechnenden Understatements nicht kaschieren." Das Stück bestehe aus "spontan wirkenden Erzählfragmenten und alltäglichen Betrachtungen, aus banaler Lebenshilfe ('Lachen ist gesund'), kitschigen Kindheitserinnerungen und trüben Binsenweisheiten, die mit einer Mischung aus Pathos und Lakonie, Dilettantismus und Cleverness dauergrinsend aufgetischt werden."

Kommentare  
Good time, Berlin: schöner Moment im Döner-Laden
Nur kurz vom "Radar Ost" rübergezappt und 20 Minuten durchgehalten, dabei einen skurril-schönen Moment erwischt: Berit Stumpf unterhielt sich mit zwei Gästen in einem Kreuzberger Döner-Laden über Theater und schaltete ins leere HAU.
Show Me A Good Time, HAU: Transformation
(...)Denn es geht auch um Transformation. Die Zeit, sie ist nicht nur eine Schleife, sie bewegt sich weiter. Viel geht es um Tod, um Mütter (zum Teil auch Väter) und Töchter bzw. Söhne. Laura Tonke sagt Bastian Trost, dass sein Vater stolz auf ihn wäre, Sarah Thom hat die Urne mit der Asche ihrer Mutter dabei. Tonke ihre eigene – lebendige – Mutter als Sidekick. Brown die Tochter. Man spricht mit einander, tauscht sich aus in An- wie Abwesenheit, gibt weiter, trotzt der Zeit und akzeptiert sie als Freund. Immer wieder wird geputzt – Badezimmerspiegel, Skulpturen, Autoscheiben und U-Bahnwagen. Auch das Bewegungen in der Zeit, mit einem Vor- und einem Nachher – und einem zirkulären Element: Denn damit etwas sauber wird, muss etwas anderes schmutzig werden. Die Lapen zum Beispiel, die einmal in die Kameras gehalten werden. Die Zeit ist linear und kreisförmig, immer gleichzeitig. Wie das Theater: Wiederholung und Transformation zugleich.

Eine Transformation, die schlecht ist, wie in Laura Tonkes uneitler Parodie der Anforderungen einer patriarchalen Welt an weibliche Künstlerinnen, oder gut – wie die magische, vergessen machende Kraft des Theaters, der – wenn auch nur momentanen Verbindung von Künster*in und Zuschauenden. „Thank you for looking at me. You’re all I needed. An audience.“ Sarah Thom sagt das nach der letzten stündlichen Performance und fügt hinzu: This is the transformation.“ In diesen zwölf Stunden wird sie gesucht, die Transformation, die Theater ist und der sich Theater unterziehen muss. Immer wieder rufen, schreien, sprechen die Performer*innen theatertexte ins Nichts, an Mauern, in Straßen, zu Passant*innen. Kommen sie an oder verpuffen sie? Was passiert mit den Worten, wenn das gegenüber fehlt? Oder ist dieses Gegenüber neu zu denken? Wie wird das Theater aussehen, wenn seine unbestimmte Pause vorbei ist? Antworten hat Show Me a Good Time nicht, aber vielleicht liegen diese bereits in der Frage.

Am Ende die Panik über das Schlussbild, den letzten Eindruck vor dem Verschwinden, denn die*der Theaterkünstler*in existiert nur im Theater, in ihrer*seiner Kunst, im Moment der Performance. Und dann, plötzlich, Begegnungen, das lang Vermisste, das Verlorene. Ein Augenblick zur, ein Verfliegender. Ein unerwartetes, ein unmügliches Hier im Jetzt. „Happy birthday to now“ lautet einer der von den Zuschauenden bei der Aufführungen im Rahmen des (digitalen) Theatertreffens eingegebenen Titel. Er passt zu diesem ganzen halben Tag, dieser Umrundung der Uhr, an derern Ende alles gleich ist und alles anders, die Kreisbewegung zu einem neuen Ort geführt hat, einer neuen Möglichkeit, einem Anfang, einer Hoffnung. Es ist ein langer Tag gewesen, oft ruckerlig, nicht selten redundanz, zuweilen recht harmlos. Aber voller Sehnsucht, Verzweiflung, Reflexion, Resignation, Hartnäckigkeit und Widerstandsgeist. Ein Versuchen, Nichtloslassen, Scheitern und erneutes An- und Losrennen. Theater. Und seine Abwesenheit. Die guten Zeiten kommen zurück oder erstehen neu, denn die Zeit ist gut. wenn sie gehört, gesehen, gefühlt wird. Ein Publikum hat. Theater ist. Auch und gerade in seiner Unmöglichkeit.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2021/05/15/happy-birthday-to-now/
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