Dschinns - Maxim Gorki Theater Berlin
Schmerz bleibt Schmerz
18. Februar 2023. Der Roman von Fatma Aydemir endet mit einem Erdbeben – das schreckliche echte Erdbeben, bei dem in der Türkei und in Syrien Zehntausende umgekommen sind, überschattet Nurkan Erpulats Inszenierung. Trotzdem findet sie viele Zwischentöne.
Von Gabi Hift
18. Februar 2023. Die Rahmenhandlung des Romans "Dschinns" beginnt mit dem Familienvater Hüseyin, der stolz seine neu eingerichtete elegante Eigentumswohnung in Istanbul inspiziert. Jahrzehntelang hat er dafür geschuftet. In den 70er-Jahren kam er als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland, nun ist er, drei Tage vor dem Antritt seiner Rente, am Ziel seiner Träume. Hier hat er für sich und seine Familie endlich ein Zuhause geschaffen. Fatma Aydemirs Roman stand 2022 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, nun hat ihn Nurkan Erpulat am Gorki Theater inszeniert.
Die Wucht der großen Themen
Die Wohnung ist im Bühnenbild von Gitti Scherer eine in der Luft schwebende Platte, aus der weiß verhüllte Gegenstände horizontal in den Raum ragen, man erkennt die Umrisse von Möbeln in antikem Stil, von einem riesigen Lüster. Davor stehen sechs Schauspieler:innen in eleganten, weißen Anzügen und fragen sich: "Wer bist du, Hüseyin?" Dann ist da ein Schmerz in der Brust, es haut sie um, ein Herzinfarkt: Hüseyin ist tot.
Am nächsten Tag reist die Familie aus Deutschland an, um ihn zu beerdigen: Emine, seine Ehefrau, die beiden jüngeren Kinder Peri und Ümit. Der ältere Sohn Hakan und Sevda, die Älteste, die schon seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatte, haben den Flug verpasst – und schon geht der Streit los.
Die Wucht der großen Themen, von denen kaum eins ausgelassen wird, macht den Roman mitreißend und tragisch: Die Zerrissenheit "zwischen den Kulturen"; das Nie-Dazugehören, der Verlust von Herkunft und Identität – zuerst der kurdischen, dann der türkischen. Der Rassismus in Deutschland, das Behandeltwerden als Menschen zweiter Klasse; aber auch der Zwang zur Loyalität, der der jungen Generation alle eigenen Wünsche verbietet.
Unterdrückte Gefühle
Während im Roman das Leben der Familienmitglieder in hochemotionalen inneren Monologen erzählt wird, schlägt die Inszenierung ganz andere Töne an. Die Szenen springen zwischen der Nacht nach Hüseyins Beerdigung und Schlüsselszenen aus der Vergangenheit hin und her. Dabei kommen völlig unterschiedliche Stile und Mittel zum Einsatz: mal schrill überzogene Comedy, mal naiv illustrierte Erzählung; mal ungeniert dilettantischer Ausdruckstanz, mal einfache, echte Gespräche von Mensch zu Mensch. Alles ist möglich, solange die Familienmitglieder ihre wahren Gefühle voreinander geheim halten können. "Schweigen ist der Soundtrack meiner Kindheit", sagt der eine Sohn einmal.
Die unterdrückten Gefühle sind aber fürs Publikum trotzdem greifbar, sie sind ausgelagert an die Musik. Anthony Hüseyin, ein*e Singer-Songwriter*in aus der Türkei, läuft mit zurückgegeltem Haar und weißem Smoking mit einem kleinen Keyboard in der Hand durch die Szenen und singt auf türkisch, kurdisch und englisch Balladen, Popsongs, Jazziges und Schlager. In Anthonys Liedern liegen Schmerz, Klage und Sehnsucht, sie schrecken aber auch vor Kitsch nicht zurück, im Gegenteil, sie haben Spaß am übertriebenen Melodram.
So wird im ersten Teil aus dem Atem raubenden Roman überraschenderweise eine Art bunter Abend über schreckliche, aber eben auch schrecklich lustige Verhaltensmuster, in denen man in Familien gefangen ist. Dabei begeistert besonders Aysima Ergün. Ihre "Hauptfigur" ist die jüngste Tochter Peri, für die alles schon viel einfacher ist als für die älteren Geschwister und die es bis auf die Uni geschafft hat. Von dort kommt sie als frischgebackene Feministin nach Hause und versucht, die Mutter in einem zehnminütigen Gespräch aus ihrer unterdrückten Rolle als Frau zu befreien. In der (tragischen) Geschichte ihrer Schwester Sevda, die von den Eltern erst mit 15 aus der Türkei nachgeholt und dann nicht in die Schule gelassen wird, taucht Aysima Ergün dann als rettende Nachbarstochter auf – als phantastisch überdrehte Karikatur eines Teenies. Sie schmeißt ihre Haare im Sekundentakt hochdramatisch nach hinten, zieht dabei an ihrer Zigarette und spuckt dabei Kaskaden altklugen Schwachsinns in die Luft: eine richtige Komik-Explosion.
Überholt von der Wirklichkeit
Im letzten Drittel verwandelt sich die Aufführung mit sentimentaler Musik zu etwas Ernstem. Es kommt zu einer direkten Konfrontation von Sevda, gespielt von der spröden, eigenwilligen Çiğdem Teke, mit ihrer Mutter Emine, gespielt von Melek Erenay. Sevda wirft ihrer Mutter alles vor, was ihr vorenthalten worden ist. Das ist eine sehr harte, lange Szene, und es war vermutlich noch nicht oft am Theater zu sehen, dass eine Tochter aus einer Immigrantenfamilie ihre Mutter, die sich selbst nur als Opfer sieht, mitverantwortlich macht für die von Generation zu Generation weitergegebene Unterdrückung der Frauen. Es kommt zu keiner Katharsis, Figur und Schauspielerin bleiben in ihrer Wut stecken, der Zugang zum inneren Schmerz öffnet sich nicht. Für mich war das quälend und schwer erträglich. Ich habe aber rund um mich viele aufgewühlte und gerührte Gesichter junger Frauen gesehen, für die es ganz offenbar ein wichtiger Moment war, der ihnen Mut gemacht hat.
Die Auflösung des Romans muss für das Team in den letzten zwei Wochen zum Schrecken geworden sein. Er endet mit einem Erdbeben, durch das die Wohnung zerstört wird und das Emine und Sevda unter den Trümmern begräbt. In der Geschichte ist das eine Metapher, aber nach dem entsetzlichen Erdbeben in der Türkei und Syrien am 6. Februar ist es unmöglich, das noch so zu sehen. Es wurde eine sehr abstrakte szenische Lösung gefunden: die Möbel der Wohnung fliegen in Zeitlupe einzeln in die Höhe Richtung Schnürboden, was eher ein metaphorisches "Hüseyins Traum fliegt in die Luft" als ein Erdbeben suggeriert.
Nach dem herzlichen, teilweise jubelnden Applaus kam die Intendantin Shermin Langhoff auf die Bühne und fand genau die richtigen Worte. Sie beschrieb ganz aufrichtig das Dilemma der Inszenierung, die Verfassung, in der alle am Theater sich befanden, und bedankte sich bei Spielerinnen und Publikum, dass die Aufführung trotzdem möglich gemacht worden ist. Die Premierenfeier wurde abgesagt. Und es wurde am Ausgang der sehr lesenswerte Blogbeitrag der Gorki-Kolumnistin Meli Kiyak "was man tun kann" verteilt, den ich auch hier empfehlen möchte.
Dschinns
von Fatma Aydemir
Bühnenfassung: Nurkan Erpulat, Johannes Kirsten
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Gitti Scherer, Kostüme: Turgut Kocaman, Musik: Anthony Hüseyin, Post Produktion Sound: Matthias Anton, Lichtdesign: Ernst Schießl, Dramaturgie: Johannes Kirsten, Choreografie Assistenz: Sofia Pintzou.
Mit: Melek Erenay, Aysima Ergün, Doğa Gürer, Taner Şahintürk, Çiğdem Teke, Anthony Hüseyin.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
Premiere am 18. Februar 2023
www.gorki.de
Kritikenrundschau
Nurkan Erpulats "musikalisch-melancholische Bühnenfassung“ versuche mit großer Leichtigkeit, all die Fäden dieser Familienerinnerungen in dicht choreografierte Bilder zu bringen. "Dass der Roman selbst viel mit Zeitsprüngen arbeitet, macht es ihm leicht, die Szenenfolge nochmals durchzurütteln und alle möglichen Spielstile daran auszuprobieren. Das ist zwar unterhaltsam, aber auch problematisch", so Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (19.2.2023). "Vor allem die Textgestaltung, mit der Erpulat seine dichte Bildchoreografie durch viel zu breite, besserwisserische Erklärmonologe ausknockt, bleibt schwach. Wären da nicht die magischen Momente, in denen Anthony Hüseyin (…) die Szenerie immer wieder dschinnhaft durchstreift! Eine wunderbar versteckte und dennoch dauerpräsente Figur, die alle Redseligkeit der anderen in sich verschluckt."
Katja Weber von Radio eins (20.2.2023) zeigt sich schwer beeindruckt von Aysima Ergüns Spielfreude. "Total umwerfend!" Toll an der Adaption sei auch, dass sie sich auf das Wesentliche des Stoffs fokussiere. "Obwohl da all diese riesigen Themen drin sind, hat die Inszenierung eine große Leichtigkeit." Schon jetzt zählt die Kritikerin die Arbeit als eine der Inszenierungen des Jahres.
Die Fassung transportiere viel von den Emotionen des Romans, schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (19.2.2023). "Auch das Spiel lebt von der genauen Beobachtung, mit der die Autorin, die auch eine Redakteurin der taz ist, die zwischen Erwartungen und Vorurteilen sich verengenden Handlungsspielräume in der Familie ausgeleuchtet hat. Die Dialoge transportieren viel von der Verzweiflung, aber auch von dem Witz, mit dem sich die vier Geschwister einen Weg aus dem Erwartungsdruck suchen."
Ein "melancholisch grundierter, durchweg großartig gespielter Abend" entlockt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (€ | 21.2.2023) viel Lob. "Regisseur Nurkan Erpulat und Dramaturg Johannes Kirsten lassen aus Aydemirs Roman die Essenz hervortreten, die familiären Beziehungsgeflechte, die beschwert sind von unausgesprochenen Erwartungen, verpassten Gesprächen, verdrängten Schmerzen." Der Abend bliebe in der "Schwebe zwischen harter Realität und Traumtanz".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
neueste kommentare >
-
Vinge/Müller an der Volksbühne Berühmt oder Tod
-
Franziska Linkerhand, Cottbus Spießig
-
Vinge/Müller an der Volksbühne Warum die Ungeduld?
-
Franziska Linkerhand, Cottbus Die Anreise wert
-
Double Serpent, Wiesbaden Sedierende Inszenierung
-
Glaube, Geld, Krieg ..., Berlin Bühne toll, Geplänkel nicht
-
Vinge/Müller an der Volksbühne Ein Jubelschrei
-
Vinge/Müller an der Volksbühne Ausreichend Vorbereitung
-
Vinge/Müller an der Volksbühne Denkt schon weiter
-
Vinge/Müller an der Volksbühne Lange Probezeit
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Schon der Roman-Vorlage, die mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet wurde und im vergangenen Herbst auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde von einigen Rezensent*innen vorgeworfen, dass die Autorin zu viel auf einmal hineinpackte. Von Racial Profiling und Diskriminierung über Homo- und Transfeindlichkeit bis zum Konflikt zwischen den Kurden und der türkischen Regierung reiht der Abend in kleinen Miniaturen Problem an Problem und Reizthema an Reizthema, bis es zur großen, finalen Mutter-Tochter-Konfrontation kommt.
Erpulat versucht sein Bestes, er lockert den Abend erstens durch kleine Comedy-Nummern auf, zu denen Ensemble-Neumitglied Doğa Gürer und Aysima Errgün manche Szenen ausbauen dürfen. Zweitens hat er zusammen mit Sofia Pintzou einige schöne Choreographien gestaltet, z.B. ganz zu Beginn, als das Ensemble ganz in weiß den Tod des Vaters symbolisch nachempfindet. Drittens werden die Miniaturen häufig durch türkische Songs (mit deutschen Übertiteln) von Anthony Hüseyin, nonbinäre*r Songwriter*in, unterbrochen, aus denen sehr viel Welt- und Herzschmerz spricht. Diese Mixtur war offensichtlich ein Volltreffer bei großen Teilen der Stammgemeinde.
Ohne Kenntnis des Romans bleibt das Nebeneinander der vielen Handlungs- und Programmstränge herausfordernd. Der Versuch, all die Themen, die dem Gorki Team unter den Nägeln brennen, in weniger als zweieinhalb Stunden unterzubringen, hinterlässt auch nach dem Theaterbesuch den Eindruck, dass in diese Familiensaga zu viel auf einmal hineingepackt wurde und der Stoff eher die Erzählweise einer Netflix-Serie oder des zum Theatertreffen eingeladenen „Das Vermächtnis“-Marathons erfordern würde.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/02/17/dschinns-gorki-theater-kritik/