Im Tal der armen Toten

11. April 2022. Die im Dunkeln sieht man nicht, schon gar nicht, wenn sie unter die Erde gebracht werden. Nora Abdel-Maksoud hat am Berliner Maxim Gorki Theater eine Komödie über Armut, Klassismus und ignorante Hipster-Diskurskultur verfasst. Und in atemberaubender Rasanz selbst auf die Bühne gebracht.

Von Sarah Kailuweit

"Rabatt" von Nora Abdel-Maksoud am Maxim Gorki Theater Berlin © Lutz Knospe

11. April 2022. In Perchow-Föhringsweila ist die Schweinezucht abgebrannt, und die Erben haben eine famose Idee: Statt Schweine geschlachtet sollen jetzt dort verstorbene Menschen (möglichst kurz, weil sonst teuer) gekühlt und (möglichst umstandslos, weil sonst teuer) begraben werden. Und so wurde aus dem Dorf Perchow-Föhringsweila das "Valley". Der Ort ertrinkt in Geld, weil ständig Menschen sterben, die nicht für die eigene Bestattung vorgesorgt haben. Wenn keine Angehörigen gefunden werden, wird staatlich finanziert "ordnungsbehördlich" beerdigt.

In dieses "Valley" gerät Dena, die Hauptfigur im neuen Stück von Nora Abdel-Maksoud am Maxim Gorki Theater in Berlin. Dena bestellt Abendessen bei Lieferando. Und als der Lieferando-Fahrer finally mit ihrem Sushi in der Wohnung steht, stirbt er einfach. Mit dem Toten verschwindet aber leider auch auf mysteriöse Weise Denas heißgeliebte Bargeldreserve. Und um dieses Geld zurückzukriegen, bricht Dena mit Luigi, ihrer persönlichen Assistentin, ins "Valley" auf und folgt der Spur des verarmten Lieferando-Toten.

Im hipsteresken Redeschwall

Nora Abdel-Maksouds dritte Inszenierung am Gorki beginnt mit einer Suada aus deutsch-englischem Sprachgemisch in der Manier der Kreuzköllner Hipster-Bohème. Die Pointen sind scharf und vielschichtig. Orit Nahmias paddelt als Dena in einem irren Tempo durch das redeschwallende Skript und wirft mit Buzz-Wörtern um sich. Schon in den ersten Minuten wird launig mit der Theaterillusion gebrochen: Das Publikum wird ständig angesprochen, popkulturelle Verweise häufen sich, und absichtlich verpatze Auftritte reißen Löcher in den Erzählfluss, über die Nahmias und ihre Mitspieler:innen aber einfach drüber hüpfen. Das macht Spaß; die eigene Aufmerksamkeit muss über die Bühne hetzen, um bloß nichts zu verpassen.

Rabatt2 1200 Lutz Knospe uKein Unschuldslamm: Dena (Orit Nahmias) macht gute Geschäfte mit rassistischem Journalismus © Lutz Knospe

Dena ist Journalistin. Dena ist das siebte Kind einer verarmten griechisch-orthodoxen Priesterfamilie aus Bulgarien. Als Journalistin verdient man eigentlich nicht viel Geld. Aber Dena hat ihre Nische gefunden, und die Deutschen lieben ihr Geschäftsmodell: Rassistisches Zeug sagen, und das als Frau mit dunklen Haaren und Akzent, so dass die Deutschen denken: "endlich it's okay to say racist stuff". Das läuft alles prima, Dena schreibt Bücher über "linken Faschismus" und den "verengten Meinungskorridor".

Dena, so wie Orit Nahmias sie verkörpert, hört man gerne zu, obwohl man weiß, dass man sie eigentlich nicht toll finden sollte. Aber Mimik, Gestik, Chanel-Kostüm und die reißerischen Aussagen passen so wundervoll in die spitz zulaufende Bühne von Moïra Gilliéron. Und dann stirbt dieser Lieferando-Fahrer in ihren vier Wänden, und Dena muss raus aus der Berliner Komfortzone.

Zwillinge des Sozialdarwinismus

Im "Valley" ist Dena konfrontiert mit der Realität der Toten, die kein Geld und keine Angehörigen haben. Das könnte jetzt zur pathetischen Einsicht in die eigenen moralisch verwerflichen Handlungen führen, und das tut es auch – irgendwie. Aber Abdel-Maksoud drosselt das Tempo nicht. Stattdessen lässt sie Falilou Seck und Niels Bormann als Zwillingsbestatter Anselm und Dirk (in Frack und Westenanzug, als seien sie einer E.T.A. Hoffmann-Geschichte entsprungen) Familienfehden ausdiskutieren und sozialdarwinistisch auf "die Armen" herabschauen. Hochmut des Geldadels (Dirk) paart sich hier mit verwalterischem Geiz (Anselm). Für Irritationen in ihrer behaglichen Selbstgewissheit sorgt Aysima Ergün, wenn sie als Denas wuselige Assistentin über die Bühne jagt.

Rabatt3 1200 Lutz Knospe uIhn im Dunkel sieht man nicht: Taner Şahintürk als sterbender Lieferando-Fahrer kauert vor den Kundinnen (Aysima Ergün und Orit Nahmias) © Lutz Knospe

Als Dena hat Nahmias meistens alle Fäden in der Hand, fungiert gleichsam als Erzählerin und Regisseurin des Geschehens. Sie dirigiert die Lichttechnik, um ihren erzählerischen Einschüben eine extra Portion Drama zu verleihen und brilliert sogar, als sie einmal ihren Text vergisst. Nur Davide, der verstorbene Lieferando-Fahrer, bricht Denas Story. Taner Şahintürk stirbt als Davide nicht nur einmal an diesem Abend. Zwischen seinen Slapstick-Toden geistert er als vorlauter Störfaktor über die Bühne und streut tückisch die Realität derer im Dunkeln, die man nicht sieht (ja, auch Bert Brecht kriegt seine Anspielungen), in die vollgestopfte Komödie.

Take-Away-Messages im Turbo

Es wird ständig gelacht und bei den gelegentlichen Gesangseinlagen gejubelt. Aber wie die Figuren auf der Bühne fragt man sich: Was ist denn jetzt eigentlich die "Take-Away-Message"? Sicher, es geht um Klassismus und soziale Ungleichheit, um die Blindheit der privilegierten Mittelklasse für die Armutsverhältnisse unserer Tage. Es zielt auch auf die Diskursgefechte, die diese Klassenfragen gerne mal ignorieren: um Moral, Antidiskriminierung, Identitätspolitik ja/nein und "verengte Meinungskorridore" (also Denas "Geschäftsmodell").

Abdel-Maksoud packt vieles in ihren Turbo und jagt uns von Plot Twist zu Plot Twist, dass der Kopf rauscht. Nach Aufführungsende werden die meisten Besucher:innen wahrscheinlich mehr Trinkgeld in der Kantine geben als sonst. Zwischen Lachen, Stirnrunzeln und Luft holen bleibt im Kopf, dass es immer noch jemanden gibt, dem es dreckiger geht als einem selbst, und dass man sich dafür durchaus ab und zu schlecht fühlen sollte. Vor allem, wenn man während Starkregen bei Lieferando bestellt.

 

Rabatt
von Nora Abdel-Maksoud
Regie: Nora Abdel-Maksoud, Livemusik: Band Chuckamuck, Bühne: Moïra Gilliéron, Kostüme: Katharina Faltner, Musikalische Leitung: Tobias Schwencke, Dramaturgie: Johannes Kirsten, Nora Haakh, Dramaturgische Beratung: Eva Bay.
Mit: Niels Bormann, Aysima Ergün, Orit Nahmias, Taner Şahintürk und Falilou Seck.
Premiere am 10. April 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Nora Abdel-Maksoud, Theater-Alchemistin, erzeuge "mit Witz und guter Laune lauter schöne Dinge: Aufklärung, Kunst, Spaß und knallende Ohrfeigen für die bestehenden Verhältnisse und die Dödel, die es sich im Elend anderer Leute gemütlich machen", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (12.4.2022). Der Aufführungsstil sei zwar eher Frontal-Comedy als Theater, "aber immerhin ist es intelligente Comedy".

"Einmal mehr schließt Abel-Maksoud ins Absurde überhöhte Kulturbetriebseigenheiten, sarkastische Beobachtungen sozialer Scheinnormalitäten und überschießende Pulp Fiction unterhaltsam kurz", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (12.4.2022). Sie verhandle ihre Fragen "mit wutbefeuertem Witz und einem famosen Ensemble". Das Stück habe zwar keine revolutionären Lösungen für die Gesamtproblematik anzubieten, aber dafür ein knalliges Ende.

Die Publikumslieblinge des Gorki brauche es, "denn die Geschichte ist hanebüchen", findet Katrin Bettina Müller in der taz (12.4.2022). Die Inszenierung hüpfe "gutgelaunt von Witz zu Gag, würzt mit Furzen und Ins-Essen-der-Nichttrinkgeldgeber-Rotzen nach und nutzt, was auf der Bühne schiefgehen kann". Sie treffe mit ihren Karikaturen auch gelegentlich ins Schwarze der Gegenwart, "aber nicht immer".

"Launiges Tohuwabohu auf der Gorki-Bühne für eine bessere Welt", subsummiert Doris Meierhenrich den Abend in der Berliner Zeitung (12.4.2022). Autorin Abdel-Maksoud schreibe so witzige wie pointiert entlarvende Sätze. "Dennoch bleibt ihre komödiantische Systemkritik diesmal sehr in überholten Fronten stecken und damit hinter früheren Stücken zurück. Als argumentiere wirklich noch jemand, Armut sei naturgegeben!"

Kommentare  
Rabatt, Berlin: Keine weiteren Aufführungen?
Stimmt es, dass es davon keine weiteren Aufführungen gibt? Auf der Gorki-Homepage steht lediglich eine weitere Aufführung am 28.05., die als "ENTFÄLLT" gekennzeichnet ist.

(Anm. Redaktion: Nach Auskunft des Maxim Gorki Theaters soll "Rabatt" im Juni mehrfach gespielt werden.)
Rabatt, Berlin: Unterhaltsam
Königin des Abends ist Orit Nahmias: ihre Figur ist am präzisesten ausgearbeitet und mehr als eine Karikatur. Sie spielt die fiktive Publizistin Dena Grigorova, die sich mit ihren Krawallbüchern und ein paar polemischen Talking Points einen Stammplatz in den Talkshow-Sesseln erarbeitet. Mit ihrem Gejammer über einen angeblich „verengten Meinungskorridor“ treibt sie ihre Karriere zielstrebig voran, kann aber selbst nicht mal erklären, was sie mit diesem Schlagwort eigentlich genau meint, wie Nahmias ins Publikum grinst. Etwas dünn und krude wird der Plot nach dieser schönen Exposition im weiteren Verlauf des Abends.

In seiner Konzeption ist die neue Berliner Inszenierung leider nicht so stringent wie das Münchner Vorgängerstück „Jeeps“, dennoch bietet das fünfköpfige Ensemble einen unterhaltsamen, kurzweiligen Abend. Wie üblich führte die Autorin Nora Abdel-Maksoud auch selbst Regie.

„Rabatt“ ist jedoch gelungener und weniger banal als „Operation Mindfuck“, das Yael Ronen/Dimitrij Schaad mit fast denselben Spieler*innen erarbeiteten. Peter Laudenbach brachte es in seiner SZ-Besprechung „Billiger sterben“ gut auf den Punkt: „der Abend ist eher Frontal-Comedy als Theater, aber immerhin ist es intelligente Comedy.“

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/06/rabatt-gorki-theater-kritik/
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