Stolz und Vorurteil *oder so - Theater am Kurfürstendamm
Da hat mein Herz einen Hüpfer gemacht
24. April 2023. Das Berliner Theater am Kurfürstendamm ist in seine zweite Interims-Spielstätte umgezogen, ins ehemalige Musical-Theater am Potsdamer Platz. Dementsprechend kommt die erste Inszenierung am neuen Ort mit Schwung und Showeffekten daher. Und sehr viel Gefühl!
Von Christian Rakow
24. April 2023. Also man hatte ja durchaus ein Gesellschaftsereignis ersten Ranges erwartet. Aber die Ausmaße sprengten das Vorgestellte dann doch. Ein überfüllter Theatervorplatz wie sonst nur zu Berlinale-Zeiten; die Warteschlange am VIP-Stand wohl an die hundert Meter lang. Luftballons säumen den Teppichpfad ins Foyer des Theaters am Potsdamer Platz, wo die Komödie am Kurfüstendamm soeben ihre neue Übergangsspielstätte bezogen hat. Annähernd 1800 Plätze fasst die Hütte, und sie waren, dem Augenschein nach, größtenteils besetzt.
Stars auf der Bühne, Stars im Publikum
Am Kudamm-Theater (das seit dem Abriss des Charlottenburger Stammhauses zuletzt im Schillertheater untergebracht war) herrscht bei Premieren eine ganz besondere Einheit zwischen Bühne und Publikum. Denn die Stars aus Film und Fernsehen, die man hier regelmäßig für die Schauspielqualität und die gute Quote engagiert, ziehen viele namhafte Kolleginnen und Verehrer als Zuschauende an. Also müssen die Boulevardfotografen durchs Foyer hechten und Gruppenfotos arrangieren oder Einzelne vor die Linse bitten. Und den Kritiker wurmte es dann ein wenig, dass er zur Vorbereitung nicht doch noch einmal die "Gala" oder die "Super Illu" konsultierte, um alle zu identifizieren.
Stattdessen las er Jane Austens Roman aus dem englischen Landadel "Stolz und Vorteil" (von 1813), der heute hier auf die Bühne kommen sollte. Es ist die Geschichte der Familie Bennet, deren fünf Töchter schnellstmöglich unter die Haube gebracht werden müssen, weil ihnen nach altem englischen Recht das Familienanwesen nicht als Erbe zusteht und also die Verhältnisse für die Mädchen anderweitig zu sichern sind. Mutter Bennet, bürgerlich geboren, ist etwas penetrant und pushy beim Anpreisen der Töchter und sorgt damit für einige Verwicklungen. Aber es fügt sich doch, vor allem für die beiden ältesten: die diskrete Jane und die geistreiche, selbstbewusste Elizabeth, die Heldin des Buches. Bis diese Elizabeth schließlich den Hochadligen Mr. Darcy ehelicht, erleben wir ein Meisterwerk filigraner Geschlechterpolitiken, sorgsam entwickelt in Dinner- und Tanzballszenen, Briefen und eleganten Konversationen.
Romantische Komödie mit 80er-Hits
Regisseur Christopher Tölle greift am Kudamm-Theater für seine Romanadaption nach einer Fassung, die Isobel McArthur 2018 in Glasgow erstellt hat und die den Laurence Olivier Award als beste Komödie (Comedy) gewann. Es ist ein Stück für fünf bis sechs Schauspielerinnen (in Berlin: fünf), erzählt aus der Perspektive der Dienerschaft. Die Frauen schlüpfen reihum in rund zwanzig Rollen, reißen Szenen an, schaffen mit Erzähltexten Übergänge, halten sich ziemlich getreu an die Romanhandlung und streuen für den Gefühlsausdruck immer wieder passende Lieder ein. Ein Mix-Tape der 80er bekommen wir zu hören, mit satter Romance, von Chris de Burgh ("Lady in Red") bis Cyndi Lauper ("Time After Time"). Was am Theater am Potsdamer Platz sehr gut passt, denn es war lange Zeit die zentrale Berliner Musical-Bühne (mit dem Udo-Lindenberg-Renner "Hinterm Horizont").
Comedy ist angesagt und wird geliefert. Besonders in den Nebenfiguren mit viel Lust auf Charge: Mama (Nadine Schori) stürzt sich mit Verve in Kupplerinnenfach. Das unregierbare Nesthäkchen Lydia (Johanna Asch), das die Familie durch eine unbedachte Affäre fast an den Rand des Abgrunds bringen wird, entgleitet ihr maulend. Jane (Mackie Heilmann) lässt sich mit brav niedergeschlagenen Augen bereitwillig herumbossen. Auf der Seite der Gegenspielerinnen der Familie hintertreibt Miss Bingley (Birthe Wolter) die Eheanbahnungen mit kindlich kiecksender Arroganz. Und die Oberzicke Lady Catherine de Bourgh kleidet Mackie Heilmann in einen massigen Reifrock und wuchert mit launigem Niederländisch. Je mehr Zucker sie alle geben, desto wilder brandet der Szenenapplaus. Das Publikum ist gekommen, um zu lieben, und es lässt sich nicht aufhalten.
Ironische Distanz und Kitschnudligkeit
Nuancen kriegen vor allem die beiden Protagonisten: Als zynischer Lord Mr. Darcy, der sich langsam zu Elizabeth und zur Welt hinarbeitet, brilliert Nadine Schori. Mit aristokratischem Antlitz, aufrecht, in die steife, ehrenvolle Haltung viel Schüchternheit gemischt – so tritt Darcy der Elizabeth von Anna Maria Mühe entgegen. Und Mühe taucht unter den Avancen weg, gibt kantige Repliken, legt ihre Elizabeth überhaupt sehr burschikos an. Eine reizvolle Paarung ist das, man wünschte sie sich in einem dieser einlässlicheren Konversationsdramen, wie sie das Renaissancetheater zu zeigen pflegt. Mit mehr Muße.
An diesem Abend ist anderes bezweckt. Das Stück von Isobel McArthur schaltet den Turbo, reißt Figuren an und mit, karikiert (der Beititel "*oder so" verrät es schon). Ein logistischer Kraftakt, von den Spielerinnen traumwandlerisch sicher bewältigt, vom Live-Gitarristen Robert Keßler mit entspannten Grooves unterlegt. Und die Leute im Parkett johlen. Lustige Worte wie "Jungfräulichkeit" werden mit einem "Haha!" gefeiert, der befreiende Liebesschwur "Da hat mein Herz einen Hüpfer gemacht" mit einem "Oho!" begrüßt. Alle hüllen sich gemeinsam in den seidenen Mantel der Ironie: Regie und Schauspielerinnen, die den Austen-Stoff schon auch als etwas "yesterday" von sich weghalten, und das Publikum, das bereitwillig huldigend mitspielt. Im Finale mit Cyndi Lauper werden dann gar die Handylichter angeschaltet und geschwenkt, weil Feuerzeuge in Innenräumen ja nicht gehen. Kitschnudligkeit, cheers! Kein Grund zum Schämen! Es ist der Traum von Theater. Neues Haus, Herzen an, Vereinigung. Wenn du verloren gehst, schau dich um, und du wirst mich finden. Immer wieder. (engl. "If you're lost you can look and you will find me / Time after time.")
Stolz und Vorurteil *oder so
von Isobel McArthur nach Jane Austen, Deutsch von Silke Pfeffer
Regie: Christopher Tölle, Bühne und Kostüm Heike Seidler, Musikalische Einstudierung & Gitarre Robert Keßler (Gitarre in manchen Vorstellungen: Niklas Linzer), Playbacks Henrik von Kathen, Licht Christopher Tölle, Ringo Wachtendorf.
Mit: Anna Maria Mühe, Johanna Asch, Mackie Heilmann, Nadine Schori, Birthe Wolter.
Premiere am 23. April 2023 in der Komödie am Kurfürstendamm im Theater am Potsdamer Platz
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.komoedie-berlin.de
Kritikenrundschau
Intendant Martin Woelffer zufolge gehe es um weibliche Selbstbestimmung und ökonomische Abhängigkeit. "Klingt gut – hätte man diese Erklärung aber nicht zufällig gelesen, man wäre nie darauf gekommen", findet Johanna Adorján in der Süddeutschen Zeitung (25.4.2023). "Denn selbst wenn Isobel McArthurs Vorlage in eine feministische oder sozialökonomische Richtung abzielen sollte, so ist diese Inszenierung überraschend unfeministisch. Geradezu altbacken." Das Ensemble immerhin schien viel Spaß gehabt zu haben, der sich auch aufs Publikum übertragen habe – "und das muss man erst mal hinbekommen in einem so einschüchternd riesigen Musical-Theater".
Von einem "überschäumenden Wuhlheide-Flair der Veranstaltung" berichtet Patrick Wildermann im Tagesspiegel (25.4.2023) und gibt auch ein "Länglichkeitsgefühl" zu Protokoll, aber "die Frauen reißen es raus". Das Bühnenstück "segelt ironisch durch eine Geschichte, die zu ihrer Zeit, also zu Beginn des 19. Jahrhunderts, genau das auch schon war. Nur sind jetzt eben mehr zeitgenössische Scherze eingestreut (ein Ananas-Igel hat bei einer Party im Hause Bingley einen großen Auftritt). Und das Geschlechterbild wird natürlich munter verwirbelt (aber klischeefrei ist es auch nicht)."
"Tiefgang und Poesie des ursprünglichen Romans lassen sich allenfalls erahnen, aber das macht gar nichts. Dafür liefern sich die Protagonisten witzige Wortgefechte am Stück", so Silke Mehring vom Inforadio (24.4.2023). "Die Schauspielerinnen scheinen sich in der zweiten Hälfte der Aufführung selbst an der irrwitzigen Geschichte zu berauschen." Man mitgerissen vom Übermut der Figuren. "Es ist die Party der Power-Frauen – ein schrilles, schräges und überdrehtes Spektakel."
"Zwischen überzeichneten Spielszenen und der Nacherzählung des Entwicklungsromans im ironischen Plauderton bekommt man hier die Kurzfassung von Austens Werk um die fünf unverheirateten Bennet-Schwestern geliefert. Ironie ersetzt aber noch keine Kritik. Der versprochene Perspektivwechsel hätte durchaus interessant werden können. Aber hier werden keine Leerstellen gefüllt. Stattdessen wird auch das, was das Original zu bieten hat, unkenntlich gemacht." So berichtet Erich Zielke im Neuen Deutschland (27.4.2023). "Das ganze Ensemble wird letztlich zum darstellerischen Erfüllungsgehilfen einer Idee, die nicht so recht tragen will."
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Fast jeder dieser musikalischen Auftritte bekommt Szenenapplaus bei der Premiere im Theater am Potsdamer Platz, der jährlich im Februar als Berlinale-Palast genutzt wird und der Komödie am Kurfürstendamm als Interimsspielstätte dient. Den Charme dieser Songs macht es aus, dass sie nicht unbedingt perfekt sind: es handelt sich bei den fünf Frauen um Schauspielerinnen und nicht um ausgebildete Sängerinnen.
Der Plot folgt der Handlung des bereits mehrfach verfilmten Romans, allerdings fehlen der Vorlage einige Stärken, die einen Boulevard-Hit ausmachen. Der Abend schleppt sich dahin. Die Pointen sind oft flach, einige Sprüche uralt („Ist Dein Vater Glaser?“ zu einer im Weg stehenden Spielerin), Running Gags wie die angebliche Unattraktivität der jüngsten Bennet-Schwester (Johanna Asch, die vor kurzem ihr Ernst Busch-Studium abgeschlossen hat) werden zu Tode geritten. Für Abwechslung sorgen die Songs und häufigen Kostümwechsel: die fünf Frauen teilen sich alle Rollen, auch die der Männer. Jeder von ihnen ist ein großer Container zugewiesen, der mitten auf der Bühne steht und auf dem der Vornamen der Spielerin in Großbuchstaben steht. Daraus bedienen sie sich mit dem Kostüm für die nächste Szene.
So spielt Nadine Schori neben dem Liebhaber Darcy auch die Mutter Bennet, die als hysterische Alkoholikerin ständig ihre Töchter verkuppeln will. Ähnlich aufgekratzt sind auch die anderen Figuren: eine Schwäche der Vorlage, die auch Margarete Affenzeller im Wiener „Standard“ nach der deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks mit fünf Max Reinhardt-Studentinnen im Kasino des Burgtheaters im Spätsommer 2020 kritisierte.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/04/24/stolz-und-vorurteil-oder-so-theater-kritik/
(Danke für den Hinweis! Wir haben es korrigiert. Herzliche Grüße aus der Redaktion, sd)