John Gabriel Borkman - Im Prater der Volksbühne setzen Vegard Vinge und Ida Müller ihre Ibsen-Saga fort
Ich will nicht arrrbeiten!
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 27. Oktober 2011. "John Gabriel Borkman" ist das vorletzte Stück von Henrik Ibsen. Zwei Jahre später hat er noch ein letztes geschrieben, und auch wenn der vierte Teil der "Ibsen-Saga" von Vegard Vinge und Ida Müller "John Gabriel Borkman" heißt und zum Thema hat, so scheint er doch insgesamt vom Titel dieses letzten Stücks inspiriert: "Wenn wir Toten erwachen".
In dem mega-trashigen Mega-Puppenhaus, das die Bühne ist, wanken Ibsens Figuren im Schneckentempo als stumme Zombies umher. Ein Musikteppich, der aus viel Wagner, ziemlich viel Filmmusik und anderem gewebt ist, wirkt atmosphärisch verstärkend. Jeder Schritt und jedes Rascheln wird außerdem von künstlich erzeugtem Geräusch begleitet. Auch der Text kommt aus dem Off und wird durch stimmverzerrende Mikrophone eingesprochen. Anfallartig quetschen die weiß maskierten Untoten ihre Szenen aus sich heraus, als wären sie Zitronen und Zitronenpressen in einem. Beinahe jeder Satz wird zigmal repetiert – um aus der Wiederholung Leben zu saugen?
Alte Platten neu gespielt
Es ist ja tatsächlich nicht mehr viel zu retten im Hause Borkman. Die Ehe von Gunhild und John Gabriel ist zerrüttet, seit der Bankdirektor wegen der Unterschlagung größerer Geldsummen für acht Jahre ins Gefängnis gewandert ist. Das Haus, in dem sie mit ihrem Sohn Erhart leben, gehört Gunhilds Schwester Ella Rentheim, die nie geheiratet hat, weil sie immer nur den Mann ihrer Schwester geliebt hat. Mit dem Besuch der todkranken Ella beginnt das Stück. Um Geld geht es ihr nicht: sondern darum, den jungen Erhart für sich zu gewinnen, den sie als Pflegemutter großgezogen hat.
Den initialen Machtkampf der Schwestern haben Vinge/Müller in einzelne Arien unterteilt. "Ich bleibe hier, hier bleibe ich, ja, ich bleibe hier", singsangt Ella eine gefühlte halbe Stunde lang mit zittriger Männerstimme, während sie an einem Pullover für Erhart strickt. Gunhild, die vorher schon bekanntgegeben hat, dass sie sich "Genugtuung zu verschaffen wissen" wird, wütet daraufhin zwei Zimmer weiter ebensolang allein vor sich hin. Denn sie will, dass Erhart die Familienehre rettet, statt sich um seine Tante zu kümmern. Im ersten Stock läuft John Gabriel auf und ab. Nur ein Schatten ist von ihm zu sehen, doch auch dieser Schatten darf eine eigene Ibsen-Platte spielen und immer wieder sagen: "Die Masse und die Menge aller durchschnittlichen Menschen, die verstehen uns nicht."
Puppenheim der besonderen Art
Der eigentliche John Gabriel ist indes hinter einer Mauer verborgen. Irgendwann beginnt er, diese Mauer abzubauen und setzt die Einzelsteine (wie fast alles auf dieser Bühne aus Pappe) zu einer Art Skulptur zusammen, bei der man sich fragt, von was für einer Kraft sie zusammengehalten wird. Das schräge Konstrukt, das allen Gesetzen der Statik widerspricht, ist ein gutes Bild für diesen mitreißenden Ibsen-Abend. Denn Vinge/Müller haben mit dem Stück etwas Ähnliches gemacht: Sie haben es in seine Einzelteile zerlegt und diese neu zusammengebaut. Und das funktioniert nicht nur, das schenkt den Figuren darüber hinaus ein explosives Eigenleben.
Vor allem Erhart, der erst relativ spät auf die Szene tritt. In seinem Jugendzimmer hat er alles, womit sich ein Jugendlicher vergnügen kann: ein Spiderman-Heft, einen Basketball, eine Gitarre und sich selbst. Und dann hat er ja auch noch eine Mutter. Und eine Tante. Die an den Außenwänden seines Zimmers kleben und auf ihn einwüten/-singsangen. Wie Erhart erst ausgiebig wichst und dann mit dem vielfach wiederholten Bekenntnis "Ich will nicht arrrbeiten!" die Emanzipation versucht, das gehört zu den einprägsamsten Momenten dieses Theaterereignisses.
Spiellust, Spielhölle
Weitere einprägsame Momente stiftet Regisseur Vegard Vinge, der immer wieder die Bühne stürmt und irgendwann beginnt, alle, die seinen Weg kreuzen, mit einer Papp-Pistole und einer Flasche Ketchup bewaffnet niederzustrecken. Sein Amoklauf scheint aus einer Mischung von Erharts hilfloser Aggression und John Gabriels verdrängtem Schuldbewusstsein geboren. Immer wieder erschießt er sich selbst – nur um gleich wieder aufzustehen. Denn natürlich ist auch diese Hybrid-Figur ein Untoter, für immer und ewig gefangen in der Hölle seines spezifischen Lebens.
Ibsens "John Gabriel Borkman" endet mit John Gabriels Tod und einer merkwürdig prompten Versöhnung der Schwestern über seiner Leiche. Als hätte Ibsen keine Lust mehr gehabt. Was man von Vinge/Müller und ihren Spielern nicht sagen kann. Obwohl: Eher als Spiellust scheint es Gefangensein in der Spielhölle zu sein, das sie antreibt, weiter und weiter und weiter zu machen mit der gegenseitigen, Selbst- und Bühnen-Zerstörung. "Jede Vorstellung ist anders", verspricht die Volksbühne.
John Gabriel Borkman
von Henrik Ibsen
Von und mit: Martin Aaserud, Lea Basch Opheim, Lukas Besuch, Edwin Bustamante, Dierk von Domarus, Nico Ehrenteit, Robert Faber, Paul Flagmeier, Fredrik Floen, Julia Forne, Florian Gwinner, Marcel Heuperman, Margarita Hoffmann, Franziska Huhn, Sebastian Kaiser, Harald Kolåas, Maria Koulouti, Olivia Meyer, Ersan Mondtag, Ida Müller, Nefeli Myrtidi, Carl Nilsen-Love, stefanpaul, Christina Peios, Marc Philipps, Trond Reinholdtsen, Silvia Rieger, Angela Roudaut, Susanne Sachße, Hagen Schulze, Volker Spengler, Henning Streck, Dana Sauerland, Julia Raabe, Tilman Van Tankeren, Sarah Teichmann, Arnt Christian Teigen, Sonia Wagemans, Dominik Wagner, Vegard Vinge, Lisa-Theres Wenzel, Petter Width Kristiansen, Wojciech Zopoth.
Eine Produktion der Volksbühne Berlin mit Unterstützung durch Norsk Kulturråd und in Kooperation mit Nordwind Platform und Festival.
www.volksbuehne-berlin.de
www.nordwind-festival.de
Diese Inszenierung wurde von den Lesern für das virtuelle nachtkritik-Theatertreffen 2012 ausgewählt.
"Also, jetzt bin ich vielleicht doch schon lang genug im Geschäft, um einmal sagen zu dürfen: Ich habe schon einiges erlebt, aber noch nicht so etwas zugleich Wildes, zu Tränen Rührendes, Nervtötendes, Schockierendes, Fantasievolles, Schmerzendes, Langweilendes, Ekel- und Besorgniserregendes", gibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (29.10.2011) zu Protokoll und fügt kleinlaut hinzu: "Einmal reicht mir dann aber vorerst auch." In pflichtschuldiger Erfüllung seiner Informationspflicht als Kritiker listet Seidler allerlei Einzelheiten des Abends von Regisseursschamhaar, Gleitmittel, Kokain bis hin zu Vergewaltigungen und Hubschraubern auf. "Hat das was mit Ibsen zu tun?", wird dann nachgefragt. "Vermutlich. Zumindest ist es egozentrisches, größenwahnsinniges Hochkunstweltbaumeister- und -zerstörungstheater, wie es den Helden Ibsens − besonders Peer Gynt oder eben Borkman − wohl zusagt. Die bei Ibsen angelegten seelischen Konflikte werden ins Monströse getrieben und mit brachialem Tamtam ausagiert − am und im eigenen Künstlerleib."
"In die höhepunktarme Theatersaison mit ihren braven Déjà-Vus und ärgerlichen Flops stürzt 'John Gabriel Borkman' wie ein torkelndes Ufo", schreibt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (29.10.2011). Natürlich sei der rekordverdächtig lange Ibsen-Kommentar in seiner Überforderung unerträglich. "Und zugleich genial. Nervtötend. Und komisch", fügt Kasch hinzu. "Allein die Bühne: alles aus Pappe. Ein Comic-Puppenhaus für böse Kinder, im Drogenrausch zusammengezimmert. Drunter gähnt später das Höllenloch, außerdem ein Stollen, in dem der alte Borkman (sein Vater war Bergmann) seinen Sisyphos-Stein wälzt. Hier stampfen, schreiten, trotten und trippeln die Ibsen-Zombies herum, ferngesteuert von einer höheren Macht. So geht das Stunde um Stunde – pausenlos." Das deutsch-norwegische Künstlerduo hat aus Sicht dieses Kritikers dennoch das späte Ibsen-Drama auf unheimliche Weise ans Heute angedockt.
"11 Stunden Ekel-Sex, Blut und Massaker – und wir alle zahlen dafür!", schüttelt sich in höchster hypokritischer Erregung die Bildzeitung (29.10.2011) über "Berlins perversestes Theaterstück". Weiter müssen Sie aber bitte selber lesen.
"Genialisches Berserkertum, lärmende Oper, expressionistischer Geisterbahnhorror", ruft Anne Peter in der taz (31.10.2011) aus. In dieser "Borkman"-Version trete das Inzestuöse der Mutter-Sohn-Ersatzliebe zwischen Gunhild und Erhart, die das Vakuum zwischen den Eheleuten füllen muss, genauso klar zutage wie die Gewaltsamkeit des Borkman'schen Liebesverrats an beiden Frauen. Somit sei das "hochkomplexe, technisch ausgeklügelte Gesamtkunstwerk" weit mehr als die Summe jener Skandalmomente, in denen sich der Regisseur in den Mund uriniert, sich live seiner Schamhaare entledigt oder sich zu besonderem Action-Painting einen Pinsel in den Anus schiebt. Sondern: "Das merkwürdigste, radikalste, krasseste, durchleidenswerteste Theaterereignis, das seit Langem zu erleben war."
Die Berliner Zeitung (15.12.2011) geht in einem längeren Beitrag noch einmal auf das Phänomen Vinge-Borkman ein und fragt sich: Wie viel Theater hält man aus? "Was kostet das Durchstehen einer 'Borkman'-Nacht die Künstler, die Bühnenarbeiter und die Zuschauer?", sinniert Doris Meierhenrich. Und: "Werden wir alle Splatter-Szenen, Anal-Bearbeitungen, Live-Urinirereien und Lärm-Attacken diesmal durchhalten − mit intellektuellen Gewinn?" Zweimal war die Autorin schon da und hat es jeweils nicht ganz bis zum Ende ausgehalten, nun, kurz vor Schluss, wagte sie es ein drittes Mal: "Es hilft nichts, wir müssen noch einmal hin und diesmal durch." Meierhenrich lässt sich also einmal mehr begeistern von "jenem Spuk ganz anderer Art, den Vegard Vinge mit seinem ungreifbaren, allumfassenden Amalgamtheater aus Happening und Formstrenge, Textreue und Textverweigerung, Maschinenkunst und Geisterspiel, Comic und großer Oper aufreißt." Eine ungekannte Herausforderung für den Betrieb seien dieser "Borkman" und seine alltägliche Funktionstüchtigkeit genauso, wie für das künstlerische Selbstverständnis, "das immer wissen will: Ist das nun grandios oder grandioser Humbug? Ist das überhaupt noch Theater, was sich da abrackert?"
Über Regisseur und Hauptakteur Vegard Vinge wisse man nicht viel, außer dass er 40 Jahre alt sei und vor sieben Jahren als Regieassistent in der Komischen Oper Berlins mitgemischt habe. Spätestens nach diesem Borkman wisse man nun auch: "Er will das Leben seinen Theatermaßlosigkeiten unterwerfen, will es zu einer anderen Wirklichkeit zwingen. Der praktische Konflikt ist Kern dieser radikalen Ästhetik – und eigentlich der älteste Künstlertraum überhaupt." Wichtigstes Mittel dieses Theaters sei die Überbietung. "Die Überbietung auch im Verschwinden eigenen Lebens in der Kunst, weshalb Vinge um sich und sein Team eine Mauer des Schweigens zieht." Gesprächsbitten, Nachfragen, so Meierhenrich, prallten unerbittlich ab. "Die Kunst soll für sich sprechen, lässt er ausrichten." Für die Autorin funktioniert das: "Schaut man genau hin, findet man in diesem lebendig-toten Totaltheater auf fast jede Frage eine Antwort. Denn was man im Laufe einer 'Borkman'-Nacht erlebt, ist sowohl der ernst-irre Versuch, eine Art faschistoider Kunstvollendung zu zelebrieren, als auch das Scheitern daran."
In ihrer dritten "Borkman"-Überforderung sucht Meierhenrich trotzdem mal das Gespräch mit den am Rande Beteiligten. Ein Wagner-begeisterter Brandschutz-Dienst schüttelt den Kopf über Vinges Exzesse, ein Philosophie-Student, der als Einlasser arbeitet, fragt sich, ob die Bilder nicht gerade in dem Exzessiven, das dort herrscht, verbrannt werden. "Er finde Ibsen einfach nicht wieder, worauf sein Kollege neben ihm fachmännisch antwortet, im Theater sollte man doch nichts wieder-, sondern neu finden, unbekannte Tiefenschichten freilegen." Währenddessen, so berichtet ein Zuschauer, der kurz Pause macht, reißt Vinge drinnen gerade die Zuschauerbänke aus und wirft sie auf die Bühne. Es ist kurz nach drei. Und Doris Meierhenrich scheint's, "als arbeite die schiere Dauer des Ganzen auch wie ein Schädel-Dietrich: Gegen die Verstörung durch die radikalen Bilder setzt sie den Willen des Dranbleibens, Wiederversuchens und der gedanklichen Prozesse in Gang, wie in keinem konventionellen Zweistunden-Stück." (sd)
In ihrem Bericht vom Nordwind Festival skizziert Stephanie Drees in der Süddeutschen Zeitung (16.12.2011) den Abend als "Extrem-Theater, das an (und über) Grenzen geht. Der titelgebende Patriarch stampft mit dröhnenden Schritten, Rüstung und nacktem Hintern durch das Obergeschoss. Im Erdgeschoss singen blondierte Zombies verzerrte Schmerzenslieder. Ein Eisbär mit Perücke labt sich am Körper einer Puppe. Zwölf Stunden lang geht das so, jeden Abend ein wenig anders. An diesem nimmt Vinge als maskierter Terrorist die Freud'schen Ablösungskonflikte besonders ernst: Er kackt höchstpersönlich auf die Bühne."
In der taz (28.12.2011) beschreibt Esther Slevogt anhand von Müllers/Vinges John Gabriel Borkman und Alvis Hermanis' Eugen Onegin wie das Theater sich aus seinem gegenwärtigen Glaubwürdigkeitsproblem zu retten versucht. Spätestens wenn Regisseur Vinge, am Geruch deutlich identifizierbar, während der Vorstellung einen veritablen Haufen auf das geblümte Sitzkissen neben einem mache, und man sich durch diese kalkulierte Schockaktion zwar von seinem Platz, nicht aber aus seiner Zuschauerrolle vertreiben lasse, würden, so die Kritikerin, die Fragen akut, die dieser provozierende Abend über den Zusammenbruch bürgerlich-kapitalistischer Werte und Ordnungen stelle: "Das sind auch Fragen über das Theater, das ja wie der Kapitalismus auf der Figur des Tauschs von einem realen Wert in einen symbolischen gründet. Womit nun die Frage, was echt ist und was nicht, ins Zentrum rückt. Wie und ob Dinge überhaupt noch darstellbar sind. Ob am Ende nicht auch der Haufen von Herrn Vigne ebenso im Als-ob eine Verwandlung erfährt wie die berühmten Tränen von Ulrich Matthes (Bitte verzeihen Sie, Herr Matthes! Aber diese Frage muss hier jetzt leider gestellt werden …) in Jürgen Goschs Inszenierung von Anton Tschechows Onkel Wanja 2008 am Berliner Deutschen Theater." Denn die Zuschauervertreibung findet in Müller/Vignes Inszenierung von "John Gabriel Borkman" erst statt, nachdem zunächst über viele Stunden lang eine ästhetisch sehr zugespitzte Version des Ibsen-Stücks gespielt worden ist.
Der schrille Schrei "Ich will leeeeeben!" von Borkmans wohlstandsverwahrlostem und emotional bedrängtem Sohn Erhart gehe einem speziell in (und auf Grund) der furchterregenden Künstlichkeit durch Mark und Bein. "Denn diese Kunstfiguren scheinen in der radikalen Ästhetik der Inszenierung ebenso eingesperrt wie der Mensch an sich in dieser Gesellschaft. Deshalb wirkt die Zerstörung des Repräsentationsraums Theater im Verlauf dieses Abends nur wie die Markierung der Notwendigkeit weitreichenderer Zerstörungen." Weil sich das, was früher Wirklichkeit hieß, aus Slevogts Sicht längst nur noch als medial inszenierte Benutzeroberflächer darstellt, betrachten es viele Theatermacher inzwischen als ihre Aufgabe, diese Benutzeroberflächen zu dekonstruieren oder als solche zumindest kenntlich werden zu lassen. Was aber eben nicht selten auch eine Entzauberung des Mediums Theater selbst zur Folge habe.
Alvis Hermanis' Eugen Onegin sei da in seinem Anspruch auf Annäherung dem von Vigne/Müller gar nicht so unähnlich: "Zwei in ihrer Form ebenso gegensätzliche wie radikale Versuche, das Theater als Kunstform zu retten, dessen grundsätzliche Gestalt längst ebenso porös und unwahr wirkt wie die vorgetäuschten Werte, mit denen der Kapitalismus seine ruinösen Luftgeschäfte macht." (sik)
Stimmen zum Gastspiel der Produktion beim Berliner Theatertreffen 2012:
Der Ressortleiter Kultur beim Berliner Tagesspiegel Rüdiger Schaper würdigt in seiner Zeitung (7.5.2012) Vinges/Müllers "Terror-Spektakel" als "Herkulesarbeit, die den Augiasstall aber nicht ausmistet, sondern immer mehr zumüllt", und rückt es in den Kontext großer norwegischer Errungenschaften der Moderne (Edvard Munchs "Der Schrei", Henrik Ibsens Werk in itself). "Abstoßung und Anziehungskraft der Inszenierung" hielten sich "die Waage". Diese "Dauer-Performance wandelt psychische Energie und Qual in handgreifliche Gewalt um. Sie nervt, sie fasziniert, die comichaften, an Jonathan Meese geschulten Bilder gehen unter die Haut".
Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (7.5.2012) hatte für sein Blatt bereits die Premiere im Oktober 2011 in ihrem ganzen Spektrum von "Lärm, Ekel, Schock, Rührung, Lachen, Ratlosigkeit, Wut, Krieg, Angst" besprochen (siehe oben). Zur seiner jetzigen Wiederbesichtigung des Abends sagt er: "Die Fassungslosigkeit über diverse körperliche Extravaganzen und gewisse Ausscheidungsvorgänge ist kleiner geworden. Es war lustiger und entspannter als beim Ur-Erlebnis im Oktober." Hervorgehoben wird die Endloszahlenreihe zu Beginn. Und dann: "Nach zwei Stunden Zeitverschwendung ging der Vorhang auf, unter Lust-Jubel."
Für nachtkritik.de (6.5.2012) bespricht Christian Rakow das Theatertreffen-Gastspiel der Produktion mit einem Shorty.
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(Lieber Dauerseher, ich habe tatsächlich NICHT das Ende abgewartet - damit meine Kritik hier rechtzeitig erscheinen kann. Gegangen bin ich um kurz nach halb zwei; dem Vernehmen nach hieß es um halb fünf, es dauere nur noch 3-5 Stunden (wie lang hats denn gedauert? Saßen Sie bis zum bitteren Ende drin? Ich bin dankbar für Weiterschreibungen und Ergänzungen!).
Bevor es so richtig losging mit der im Vergleich zum furiosen "Anfang" des Abends mE nicht unbedingt en detail beschreibungspflichtigen gegenseitigen, Selbst- und Bühnenzerfleischung, hat Vegard Vinge ja irgendwann eine Zeitlang versucht, den großen Vorhang mit eigenen Händen zuzuziehen. Das habe ich so ein bisschen als Signal genommen, dass der "offizielle Teil" nun vorbei ist... mit herzlichen Grüßen, Sophie Diesselhorst)
Aber auch die Phase bis zur Vorhangschliessung wäre doch reichlich unvollständig beschrieben ohne Hinweise auf z. B:
Eine Vorstellungsdauer von ca. 8+ Stunden wurde offiziell angekündigt.
Nach zweieinhalb Stunden war der 1. von 4 Akten "behandelt".
Sehr einfache Miniaktionen wurden grundsätzlich durch extrem laute Musik "aufgewertet".
Die in ständigen Schleifen agierende extrem laute Musik spielt auch mal einfach eine Viertelstunde weiter, wenn sonst einfach nichts passiert.
Der als maskierte Privatperson durchs Bühnenbild eilende Regisseur "krönt" gelegentlich den Gehalt einer Szene (z. B. des erwähnten Massakers), indem er sich auf den Boden legt, und in seinen Mund pinkelt.
Erhard tritt rätselhafterweise auf zur Parsifal-Ouvertüre (die musikalisch nicht die Parsifal-Figur behandelt), Frau Borkmann bekommt noch unerklärlichererweise die Anfangsmusik der Strausschen Elektra-Oper unterlegt, in der aber die 6 Mägde auftreten, usw.
Alle Ibsen-Elemente werden auf das allereinfachste Klischee reduziert. Diese sehen jenen aus früheren Vinge/Müller-Inszenierungen zum verwechseln ähnlich.
Der Regisseur sorgt mit fliegenden Chipstüten für eine kulinarische Grundversorgung des Publikums.
Anderenfalls fände ich Frau Diesselhorsts gezeichnetes Bild der Premiere zwar charmant persönlich, aber fahrlässig unvollständig beschrieben. Selbst wenn die eigentlich schon um ca. 23:00 Uhr endet.
Zu ihrem vorigen Kommentar: Mir wurde eine Vorstellungsdauer von fünf Stunden angekündigt.
Und auf eine detaillierte Beschreibung der Alleingänge des Regisseurs habe ich u.a. auch deshalb verzichtet, weil ja angeblich jede Vorstellung anders ist. Und weil ich das Sich-in-den-Mund-Pinkeln zwar irgendwie virtuos fand, aber im Gegensatz zu vielem anderen, was da so auf der Bühne passiert ist, nicht grundsätzlich dokumentierenswert...
Das gilt natürlich auch für die Frage welche mehr oder weniger virtuosen Details die Rezensentin denn berichten sollte. Ich kann aber nur festhalten, dass wenn ich (wie ich es des öfteren auf diesen Seiten, die ich sehr schätze, tue) mir versuche aus der Rezension ein Bild zu machen, um zu entscheiden, ob die Veranstaltung mich interessieren könnte, ein reichlich falscher Eindruck hätte entstehen können. Dazu gehört dann eben auch die reichlich selbstverliebt erscheinende pubertäre Eitelkeit des Regisseurs (bzw. das was bei mir als solche ankam). Aber wie hätte ich das jetzt wertfrei formulieren sollen?
Von Anfang an äußerst aufgeladen. Klar wird es hinten raus dünner. Es geht ja um Abarbeiten. Erschöpfung. Die Unmöglichkeit eines Seelenfriedens. Keine Erlösung.
Daß Ibsen total dekonstruiert wird ist eine Entscheidung. Wie auch immer man das findet, man kann dem Abend nicht absprechen, daß er durch die radikale Redundanz und Übertreibung eine neue, eine äußerst eigenwillige Ibsen-inspirierte Welt aufbaut. Ich höre heute immernoch die verschiedenen musikalischen Themen der Figuren, sehe Menschen rhythmisch Treppen hoch und runtergehn....8 Jahre, 8 Jahre, Jahre! ....Ich will Genugtuung! Ich will Genugtuung für Alles! Für mein ganzes verpfuschtes Leben....Liebe, Liebe, Liebe!...Die Zeit vergeht, die Jahre verstreichen. Das Leben, nein. Daran wage ich nicht zu denken.....Ich will leben! Ich will leben!
ich verstehe sie nicht: Angekündigt als eine Interpretation des Ibsen-Stücks, betitelt nach dem Ibsen-Stück. Mit den Hauptfiguren des Ibsen-Stücks. Zwar erweitert, aber trotzdem mit der bekannten Handlung. Und dann auch noch durch Zwischen-Videokommentare ganz klar als Ibsen-Stück gekennzeichnet - mehr Ibsen geht ja schon fast gar nicht mehr ;-) Ich verstehe aber ihren Satz nicht: "die letztlich auch austauschbaren Figurenklischees zur Erzeugung einer sog. "Zeichenhaftigkeit" der Aktionen zu benutzen." Was genau soll das bedeuten? Da ist mir das Konkrete von Herrn Vinge und Frau Müller doch sehr viel lieber, als solche Sätze, die gar nichts bedeuten.
Eine Performance, die an die Grenzen geht. Als Fan von Vinge/Müller-Inszenierungen kann ich nur sagen: Hat die Rezensentin hier gut eingefangen. Ergänzen Sie doch einfach all die Punkte, die Ihnen noch fehlen. Oder schreiben Sie eine alternative Kritik und posten Sie die hier in den Kommentaren. Würde mich wirklich interessieren ...
Ich hatte mich aber eigentlich ja nur kurz zu Wort melden wollen, eine Alternativkritik läge mir fern, da wäre ich zu subjektiv bei der Sache, das Ende habe ich ja leider auch nicht erlebt, und ich wäre auch etwas befangen.
Weswegen ich eigentlich nur hatte anmerken wollen, dass mir die Rezension sehr selektiv erschien (z. B. nur 3 von 11 Stunden widerspiegelnd, und auch da vieles übergehend), und vielleicht auch etwas mehr von Fanbegeisterung getragen (die ich ja sonst auch niemand ausreden möchte), als ich es mir von einem allgemein infomieren wollenden Medium wünschen würde (was nach meinem Empfinden nachtkritik.de sonst ja so lesenswert macht), und die bei aller Sympathie nicht weitgehende Aspekte einer Inszenierung ausblenden sollte. Auch ein rezensierender Fan sollte vielleicht zumindest in Erwägung ziehen, warum 20% des Publikums schon das Ende des ersten Aktes nicht mehr erlebt haben könnten.
danke, das macht wirklich Spaß, sich aus den verschiedenen Mosaik-Steinen eine Meinung zu bilden! Natürlich ist man als rezensierender Fan befangen, aber trotzdem: Das ist so ein Theaterstück, in dem ich gar nicht mehr in Akten und Szenen denke und ich glaube, dass das auch so von Meister Vinge beabsichtigt ist (selbst wenn er immer wieder die "nächste Szene" ankündigt). Deshalb ist es auch gar nicht so wichtig, ob man nun das Ende gesehen hat oder ob nicht: Das Ganze hat ja auch was mit Performancekunst zu tun und ein Teil der Performance scheint gewesen zu sein, wie lang man selbst und wie lange das Publikum durchhält. Nicht alle haben bis zum Schluss durchgehalten, aber das wäre ja auch ein Wunder, irgendwann wird schließlich auch der Geduldigste mal müde.
Aber ob das wirklich ein Vinge-Zitat ist? Und ob es ernstgemeint war? Und was es letztendlich aussagt? Es bleibt einiges offen :-)
du darfst ja gern denken wie du willst, aber letztlich scheint das Stück ganz normal in Szenen zu denken, wie du selber sagst, und wie wohl auch geprobt wurde, und zumindest der erste Akt wurde aus solchen Szenen auch nachvollziehbar zusammengesetzt und mit einer gefühlten Viertelstunde "Pause" (= Video mit viel lauter Musik) abgeschlossen. Es begann danach auch durchaus noch mit Referenzen auf den 2. Akt. Ob der irgendwann zu Ende ging ist mir nicht überliefert, es brach dann ja eine Menge Chaos aus, oder Performance, wie man es natürlich nennen kann.
Das Venge Zitat ist mir sehr glaubhaft aus den Kreisen überliefert worden, und eigentlich doch auch glaubwürdig. Wenn man sich wirklich für den Geist des Ibsen Stücks interessieren würde, das ja letztlich auf einen recht überraschenden Schlusspunkt hinausläuft (und ich kann mir nicht vorstellen, dass ohne einen solchen Ibsen das Stück überhaupt geschireben hätte), würde man diesen Schlusspunkt ja mit welchen Mitteln auch immer irgendwann ansteuern. Auch meine geduldigsten Bekannten, die immerhin bis 5 Uhr morgens noch anwesend waren, können aber nicht das geringste davon berichten. Aber Vinges Konzept scheint ja eben doch auf ganz anderen Absichten zu beruhen. Warum auch nicht? Nur warum soll man sich das als Zuschauer dann als Ibsen"interpretation" zurecht reden? Von Vinge ist weiters überliefert, dass er wohl gar nicht versteht, warum das Stück heute überhaupt noch gespielt wird, und er es ja auch nur hernimmt, weil er ja den ganzen Ibsen in seinem Leben durchexerzieren will.
So gesehen scheint mir das ganze ein recht klarer Fall, nur eben ein ziemlich anders gestrickter, als uns die Rezension von Frau Diesselhorst weismachen wollte.
ich will Ihnen gar nix "weismachen". Genausowenig wie Vinge/Müller ihrem Publikum mE irgendwas "weismachen" wollen.
Ich habe einfach nur versucht, meine Sicht auf diesen Theaterabend darzustellen. Die natürlich beschränkt ist. Ist Ihre unbeschränkt?
Den Ausdruck "Gefangensein in der Spielhölle" finde ich übrigens sehr treffend. Zumal es wirklich die Protagonisten zu betreffen scheint, und nicht die Figuren. Bei denen mich das aber viel eher interessiert hätte.
Auch die Analogie der Allmachtsfantasien Borkmans mit den Allmachtsfantasien der (mitunter bis heute am Gesamtkuntwerk Richard Wagners laborierenden) Künstler wird aufgezeigt: Speziell Vegard Vinge scheint sich hier mit einem maßlosen Anspruch durchaus in eine Tradition zu stellen (das Wagner-T-Shirt, das er in der Aufführung trug, weist in diese Richtung). Von daher mögen auch die Überschreitungen des Als-ob kommen, die Vinge zelebriert. Trotzdem möchte ich die kleinliche Frage aufwerfen, ob diese Überschreitungen dem Ganzen dienlich sind. Die Schockeffekte (die bei mir durchaus Wirkung zeitigten) folgen einem im Grunde simplen Muster: reale Defäkation (hier durch eine "kreative" Darmspülung mit allerlei Malfarben herbeigeführt) und reale anale Penetration sind die sicherlich mit am besten weggesperrten Verrichtungen in unserer Gesellschaft. Solche Provokationen laden aber auch förmlich dazu ein, die Aufführung am Ende auf sie zu reduzieren - der Beißreflex der Bild-Zeitung bekommt so etwas durchaus Natürliches, jedenfalls Zwangsläufiges. Und wie lautet eigentlich die Antwort auf die Frage (sagen wir, beispielsweise, meiner Mutter): Warum muss man das auf einer Bühne real zeigen? Um ehrlich zu sein, ich habe keine Antwort darauf. Hat jemand eine Antwort?
Letztendlich ist der Abend ja auch unendlich masochistisch - für Vinge/Darsteller wie auch fürs Publikum. Die Länge, die Lautheit, die Langsamheit, die Schrillheit... und in besagten Momenten wird dieser gemeinsame Masochismus freilich auf die Spitze getrieben. Vegard Vinge kämpft Abend für Abend ums Publikum, sagt ja manchmal vor sich hin: "Die nächste Szene wird besser, wirklich..." etc. Er spürt, wenn ein Abend abfällt, und unternimmt dann auch eben jene Aktionen als "besondere" Eingriffe - die Selbstpenetration als ultimative Selbsthingabe. Wie überhaupt die ganze Aufführung mit einem so hohen, unbedingten Einsatz gespielt wird, wie man es seltenst erlebt. Jedenfalls nicht von den sogenannten virtuosen Verwandlungsschauspielern an den einschlägigen Hochglanz-Stadttheatern... (wobei natürlich der "Einsatz" allgemein gemeint ist, und jetzt nicht die DT-Selbstpenetration gefordert wird.)
Die komplette Kritik findet sich auf www.artiberlin.de
Ich will nicht unbedingt zu den Leuten gehören, die dem routinierten Hochglanz-Theater das Wort sprechen (obwohl ich es mir als eigene Kunstform gefallen lasse). Nur: Wenn "Unbedingtheit, Radikalität, Extremheit und (Auto-)Aggression" - Dinge, die ich oft an unterschiedlichsten Arbeiten geschätzt und verteidigt habe - zur conditio sine qua non der Kunst werden, welchen Weg soll sie dann gehen? Wo ist die Grenze? Wenn man dem Künstler tatsächlich "alles zutraut", wenn die totale Unvorhersehbarkeit dessen, was er macht, zur Qualität erhoben wird, dann ist der "acte gratuit", das rein willkürliche Verbrechen als Kunst, zwangsläufig die Konsequenz. Stellen wir mal strafrechtliche Erwägungen hintan: Wäre nicht unter solchen Umständen eine Performance auch dann noch ungeheuer aufregend, nicht mal eben leicht abzuschütteln, nicht gefällig, sozusagen ultimativ, wenn in ihr jederzeit denkbar ist, dass ein Tier, ein Mensch oder ein Kind umgebracht werden? Und wenn dies am Ende auch noch geschieht?
Kunst kann manchmal Erfahrungen vermitteln, die einem sonst verschlossen geblieben wären. Über die Natur dieser Erfahrungen kann man lange nachdenken, und es hieße die Kunst einzuhegen, wenn man hier zu einem abschließenden Urteil kommen wollte. Trotzdem wird mir unbehaglich zumute, wenn die Kunst, um ihr angestammtes Verstörungspotential zu erreichen, den Kick aus einem realen Nervenkitzel beziehen muss, sozusagen den Boxclub oder das Bordell zu ersetzen versucht.
ps In der von mir besuchten Vorstellung hat sich Vinge übrigens den Gesetzes-Dildo nicht selber eingeführt, das hat für ihn einer der Teufel besorgt. Vielleicht ist das nur ein unwesentlicher Unterschied, aber immerhin fällt hier die Interpretation "ultimative Selbsthingabe" aus.
Man bekommt ja Angst, ins Theater zu gehen, so vom Stutti aus, aber in Form ultimativer Selbsthingabe bleibts noch denkbar..
ich wollte natürlich weder Boxvereinen noch Bordellen etwas unterstellen: Ich bin selbst ein großer Freund der Boxclubs; was die Bordelle betrifft, hülle ich den Mantel des Schweigens darüber. "Mensch oder Kind": Nun ja, logisch gesehen, sind die Kinder eine echte Teilmenge der Menschen (wenn ich Tierkinder ausschließe), deshalb ist eine Unterscheidung durchaus sinntragend, trotzdem will ich einräumen, dass die Steigerung "Tier, Mensch, Kind" nicht so ganz glücklich ist ...
Ich denke die Grenzen liegen in der Selbstbestimmung. Wo Beteiligten oder Zuschauern die Möglichkeit genommen wird, freiwillig (und unversehrt) an einer Performance teilzuhaben, hört die Kunst auf und die Gewalt setzt ein. Matthias Weigel (@21) hebt ja nicht umsonst auf die "Selbsthingabe" und den "Masochismus" des Performers Vinge ab. Das ist zunächst einmal seine Wahl, sich das anzutun, und unsere Wahl, uns das anzuschauen. Matthias Weigels dramaturgisches Argument, die fragwürdigen Überschreitungen Vinges sorgen für eine grundlegende Anspannung, eine Atmosphäre der Gefahr, finde ich ziemlich einleuchtend. Ich nehme meine Anspannung dabei weniger als Angst vor dem Spieler als Aggressor wahr, denn vielmehr, ganz ins Ungefähre gesprochen, als Angst vor Ekel. Auch scheint mir die anale Verschwendungskunst dieses Protagonisten inhaltlich anschlussfähig, geht er doch damit hinter die Reinlichkeitsfixierung des ordnungsliebenden, "analen Charakters" zurück, also des zwanghaft pendantischen Bürgers, den Vinge/Müller in ihren Ibsen-Abenden als einen Herrschaftstypus, der dem Sumpf der Bürokratie des 19. Jahrhunderts entstieg, regelmäßig problematisieren.
Lieber Matthias Weigel, ich möchte übrigens nochmal die "sogenannten virtuosen Verwandlungsschauspieler an den einschlägigen Hochglanz-Stadttheatern" in Schutz nehmen, an denen es meines Erachtens in den allermeisten Fällen nicht liegt, dass man sich da manchmal – anders als bei Vinge/Müller – langweilt...
Nun ja, mir leuchtet das alles schon irgendwie ein. Aber die Kriterien Freiwilligkeit und Unversehrtheit allein reichen mir so nicht aus. Der Schock funktioniert ja gerade, weil er mich unvorbereitet trifft: Ich habe dann keine Zeit mehr, mir zu überlegen, ob ich freiwillig da bin oder nicht (vgl. auch Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/M. 2002). Und Vinges Real-Bilder sind so beschaffen, dass sie durchaus "versehren" können, wenn auch nicht körperlich. Nicht von ungefähr ist ja Exhibitionismus im Alltag ein Straftatbestand, auch wenn dabei niemand körperlich angegriffen wird.
Aber wie dem auch sei, ich muss wohl in mir Rudimente des "analen Charakters" erkennen. ICH BIN BORKMAN, DEM SUMPF DER BÜROKRATIE ENTSTIEGEN, IM RÜCKEN DIE RUINEN VON EUROPA BLABLA
Na ja, ich denke, bei der Ästhetik der Langsamkeit, die Vinge/Müller pflegen, hat jeder an jedem Punkt genügend Zeit, dem Übel auszuweichen. Schockhaft wirkt das für mich nicht. Aber ich finde es schade, dass wir jetzt etwas Bild-mäßig allein über diese Extrempunkte der Inszenierung sprechen, die ja auf die Gesamtdauer gesehen gar nicht so zahlreich sind (oder ging's nach etwa 6,5 Stunden, als ich gehen musste, nur noch krude zu? bis dahin jedenfalls waren Vinges Selbstversuche eher spärlich eingesetzt).
Mich reizt an diesem künstlerischen Entwurf ebenfalls der visuelle Mix aus Kinderbuch (@27), Comic und Computerspiel, die Aneignung von Oper und dann natürlich der radikale Blick auf den Ibsen, den diese Inszenierung eröffnet (@ 19, völlig d'accord). Die Momente extremer Körperlichkeit nehme ich da eher als wirkungsästhetische Ausrufezeichen hin. Ein bisschen wie bei Tarantino. Bei dem interessieren mich auch eher die erzählerische Fantasie, die Zitate und die Dialogkunst - und nebenher rollen ein paar Köpfe, um einen wachsam zu halten.
Der Versuch, die Kritik als solche, als wie auch im zweiten Anlauf sämtliche Kommentare dazu zu verwenden, ein Bild der Veranstaltung zu bekommen (mit der Frage, ob man sich dafür eine ganze Nacht um die Ohren schlagen möchte), scheitert bei mir doch auf recht fragwürdige Art und Weise.
Nicht nur dass der Eindruck entsteht, Dauersehers Einwände, die Kritik würde ja nur einen kleinen Ausschnitt des Geschehens behandeln, könnten irgendwie zutreffen, das wäre ja als persönlicher Ausdruck der Rezensentin noch einzuordnen. Aber die Widersprüchlichkeiten der Kommentatoren lassen einen noch mehr rätseln... wenn behauptet wird, gewisse Fäkalaktionen stellten nur einen kleinen Teil des ganzen dar (was ja irgendwie beruhigt), passt das doch nicht zur Tatsache, dass alle ja eigentlich primär davon sprechen. Wenn das also den vorwiegend bleibenden bzw. diskussionswürdigen Eindruck wieder gibt, ist es wophl gefühlt doch der entscheidende Teil der Aufführung. Ohne dass anscheinend wirklich jemand erklären kann wofür dieser inhaltlich (als Mittel, Zeichen oder was auch immer) stehen soll. Oder ist das bloß Provokation um seiner selbst willen? Der zitierte Satz von Vinge, so er denn authentisch ist, würde ja genau das befürchten lassen. Und wieso ist es ein radikaler Blick auf Ibsen, wenn seine Figuren anscheinend auf einen Satz reduziert werden, obwohl man sich vielleicht darauf einigen könnte, dass Ibsens Figuren vielleicht doch ein wenig origineller, intelligenter und wandlungsfähiger sein können, als es mit einem einzigen Satz aus dem Stück darzustellen wäre? Andernfalls hätte Ibsen alle anderen Sätze doch am besten schon vor der Drucklegung gestrichen, nicht wahr? Wird da Ibsen nicht eher zum Alibi? Oder schlichtweg überflüssig? Und, lieber Herr Oppermann, man hat dies alles schon gesehen auf der Bühne, nicht nur seit auch Herr Nitsch auf selbigen ein und aus geht, weiß Gott nicht! Haben Sie die letzten 50 Jahre deutscher Theaterskandale (und -skandälchen und noch schlimmer..) verpasst?
Wenn der selige Christoph Schlingensief mit dem Po malte, war das ja immer eine deutlich Aussage, über die man sich aufregen konnte, oder nicht. Aber es schien immer klar was gemeint war. (Deswegen haben sich die Angegriffenen ja auch immer so schön aufgeregt). Hier scheint auch nach 29 Kommentaren nicht wirklich klar, worum es geht, ob es um was geht.
Und kaum einer scheint es zu vermissen... ist das nicht das eigentlich Bedenkliche?
Wenn nach einer elfstündigen Performance, die jeden Abend verändert abläuft, alle mit "einem" konsensfähigen "Bild"der Inszenierung herauskämen, wäre dieser Abend wohl kaum das ungewöhnliche Ereignis, das er für mich und andere hier ist.
Wie sehr einem Vinges grelle Körpererkundungen an die Nieren gehen und wie wichtig man sie nimmt, ist sicherlich einer der strittigsten Punkte, an dem ja auch die eigenen Tolleranzschwellen getestet werden. Aber ich wollte @29 dem Eindruck vorbeugen, dass in der Inszenierung ein Dauerbeschuss mit Krassheiten stattfindet. Das war zumindest letzten Sonntag, als ich den Abend sah, überhaupt nicht so. Da gibt's die meiste Zeit eine fast schon meditative Muße, eine Verliebtheit ins comichafte Einzelbild, überhaupt tolle Bildideen, eine starke Musikauswahl. Zur dramaturgischen Relevanz der Extremmomente hat Kommentar 21 allerdings Wichtiges gesagt, finde ich.
Zur Frage des radikalen Blicks: Da haben Sie natürlich völlig Recht: Eine einzelne, automatenhaft wiederholte Kernfloskel fängt niemals einen ganzen Diaologtext auf. Aber sie spitzt ihn zu. Vinge/Müller geben ja keine Dramenumsetzung im klassischen Sinne, unter Wahrung der textuellen Komplexität. Stattdessen bieten sie einen eigenen, skurrilen und radikal angeschrägten Blick auf die Welt des Dramas. Wenn ich etwa die Szene sehe, in der die Eltern ihren Sohn Erhart minutenlang drillen, so als wollten sie ihn auf einen Kriegseinsatz vorbereiten, gibt das, wiewohl grotesk gezeichnet, sehr viel von der Figurenkonstellation in diesem Haushalt Borkmann wieder. Ich finde, Vinge/Müller finden mit ihrer Ästhetik der Monotonie eine sehr eigenwillige Übersetzung für das Drückende, Enge, Neurotische, das in den Ibsen'schen Bürgerhaushalten steckt. Dabei bezwecken sie selbstverständlich keine philologisch genaue Lesart, sondern das Ganze zielt in meinen Augen auf die Frage, wie das 19. Jahrhundert ins 20. lappt und wie wir heute noch bürgerliche Existenz konzipieren.
Und, Sophie Diesselhorst, ich denke auch dass diese Szenen immer im Zusammenhang mit dem Drumrum gesehen werden müssen, weil sie eben nicht auf losgelöste, für sich stehende Provokations-Szenen zu reduzieren sind.
(Der Verwandlungsschauspieler-Seitenhieb zielte übrigens nicht auf Langeweile ab, sondern darauf, wieviel die Akteure von sich selbst an "Einsatz" geben, sich schutzlos hingeben - oder eher ihr bloßes Handwerk, die virtuose Beherrschung der Mitteln vorführen, hinter dem sie selbst nicht zu fassen sind.)
Was den Schock-Moment angeht, so mag er schon mal mehr, mal weniger eintreten. Trotzdem gibt es genug Möglichkeiten zu gehen - dass wir es trotzdem nicht tun, ist vielleicht auch eine der besonderen Qualitäten der gesamten Aufführung.
Ausgehend davon, die Fäkal-Momente auch als Selbst-Geißelung zu begreifen, so frage ich mich inzwischen, inwiefern die ganze Verantstaltung nicht insgesamt stärkere Züge des Eigeninteresses trägt, als man zunächst meinen möchte. Nicht nur gibt es kaum Ankündigungen und Werbung für das Stück. Der Homepage-Eintrag der Volksbühne ist ja geradezu Anti-Werbung, kein beschreibender oder anteasender Satz, nur alle Namen aufgeführt - Vinge und Müller kommen geradezu phantomartig nirgends vor, Namen ohne Biografien (wo andere Künstler Dauer-Akquise in allen Medien betreiben) - den Weg in den Prater finden wohl derzeit nur Insider oder Zufallsopfer. Ist das eine Insider-Veranstaltung, bei der ziellose Jungschauspieler-Jünger ins Netz der Müller-Vinge-Gurus gehen, hinter den gemalten Kulissen tagt die Sekten-Wohngemeinschaft im neuen Prater-Tempel? Oder einfach nur ein konsequenter künstlerischer Anspruch, der das Gewerbe verneint?
Die wirkliche Frage ist: Warum muss der Steuerzahler für solche Inzenierungen bezahlen, wenn kaum einer das sehen will?
Jeder soll machen was er will, aber er soll es auch selbst finanzieren, die Millionen für die Volksbühne sind angesichts solcher Stücke jedenfalls sinnlos ausgegeben.
Wie wäre es außerdem, wenn sich künftig die Wissenschaften selber finanziert: "Jeder soll machen was er will, aber er soll es auch selbst finanzieren"
So eine schwer fassbare Naivität. Vielleicht wären die tollen gedehnten Momente in Borkman durch DENKEN nutzbar gewesen.
Bitte auch um die Ecke denken können und nicht nur highwaygeradeaus.
Was in den Kommentaren bisher untergeht: wie lustig dieser Abend ist! Wie unglaublich viel Vergnügliches geboten wird. Und wie einem die Ibsenfiguren dann doch aufs Erstaunlichste zu Herzen gehen. Zunächst: was für ein herrliches Bühnenbild! Ein Universum aus Pappe, das Haus der Borkmans als Geisterbahnmaschine, ausgestattet mit aberhundert liebevollen Details. Die ersten Loops funktionieren gar nicht als Monotonieerzeuger, weil man auf der Bühne in jedem Winkel ständig Neues entdeckt. Die Geisterbahn sieht der im Wiener Prater g’spuckt ähnlich : oben wankt ein Monster mit Hackebeil im Kreis (der Geist des alten Borkman), von links kommt rhythmisch der Teufel und von hinten der Tod. Unten werden zur Anlockung des Publikums genau die Schrecknisse geboten, die man sich erhofft hat: Ein blutrünstiger Eisbär (das nordische Vieh!) zerfleischt schmatzend blutige Leiber, die sich in Zombies verwandeln um den Schaulustigen ein gruseliges Spektakel zu bieten. Im Inneren der Geisterbahn leuchten dann die einzelnen Kammern auf, in denen Schreckliches zu sehen ist: die Bürgerhölle der Borkmans. (Ich dachte an den wunderbaren Film „Funny Bones , in dem die beiden Onkeln einfach nur dasitzen und wer sie sieht, kreischt vor Schreck. So sitzen hier die Mutter und Tante Ella im furchtbaren Wohnzimmer). Geisterbahn und Ibsen, das passt genau, zum Grausen der Schaulustigen wird das Spektakel der Schrecken in den finsteren Ecken geboten.
Und dann kriegt man an einem (wenn auch langen) Abend so ziemlich alle Theaterformen der letzten hundert Jahre geboten, und zwar keineswegs dekonstruiert oder verblödelt, sondern mit Schwung und Begeisterung. Und das Allertollste ist: sie funktionieren alle! Wo man doch schon dachte, dass nichts mehr geht. (In der Vorstellung, in der ich war, sind keineswegs alle gegangen oder haben Langeweile um der Kunst Willen ertragen. Nichts davon- es herrschte mehrheitlich Begeisterung, Lachsalven, entsetze „Ohs“, Mitgefühl, Ekel, Schreck, Vergnügen, Applaus!) Als erstes der große Theaterstreit des vorletzten Jahrhunderts: sollte der Schauspieler eine „Übermarionette“ sein (Craig) oder selber fühlen. Die Figuren hier spielen grobe Puppen (die mich viel eher an Zeichnungen von Willhelm Busch erinnert haben als an heutige Comix). Ihre Stimmen kommen, ebenso wie die (grandios gemachten!) Geräusche aus den Lautsprechern, wo die Sprecher sind, sieht man nicht (hinten am Tonpult?). Die Schauspieler machen nur die Gesten, den Mund bewegen sie nicht. Sie sind Übermarionetten des Regisseurs , der als Alter Ego des Borkman-sohns Ekhart (er trägt dieselbe Maske) mit Mikrophon durch den Raum tigert und alles steuert. (Bis nach über sieben Stunden Volker Spengler den großen Monolog des Borkman selbst spricht, was einem dann fast schockierend privat vorkommt, wie ihm die Worte aus seinem eigenen unmaskierten Mund herauskommen). Diese Marionetten, die sich nur ruckelnd bewegen, gewinnen ein ungeheures Eigenleben. Sie schaffen ein magisches Universum und nach einer Weile hat man soviel Mitgefühl mit ihnen wie nur je mit einem fein-psychologisch spielenden Schauspieler. (geht noch weiter..)
Alles zu erzählen wird zu lang (das alte Rittertheater, die weißen Tücher die in den Siebzigern Segel und Meere auf die Bühne gebläht haben, verwandelt in das weiße Bodentuch quadrat von Brook. Ein Reenactement praktisch aller Performances Wiener Actionismus -mit interessanten Abweichungen, Actionpainting. Mitmachtheater) Alles greift! Dass das Schockierende am meisten schockiert – nun, dazu ist es ja da, nicht? (Auf die Frage von Herrn Behrens möchte ich gern extra antworten).
Und all das sehr nah an der Ibsengeschichte, allerdings stark aus der Perspektive des Sohnes, der aus der Psychologiehölle ausbrechen will . Und politisch fokussiert auf die (vielleicht zu naive) These, dass der Faschismus durch die Explosion der unterdrückten Gefühle der Bürgerhölle ausgelöst werde. Als das Haus Borkman zerfällt – von einer riesigen Pappsäge entzwei gesägt wird- brechen Panzer, Flugzeuge und Soldaten mit MP`s herein. Das ist die einzige Stelle, die ich als problematisch empfand, weil sich durch die Öffnung des Bühnenraums ein Gefühl der Befreiung einstellt und das eindringende Neue zuerst eine Erleichterung ist. Der –sehr große!- Dildo des Gesetzes, der dann vom Teufel in den Hintern eine Schauspielers geschoben wird, stellt Schrecken und Ordnung wieder her. Ein wirklich unangenehmer Anblick, aber vielleicht in dem Moment notwendig. (Es ist die einzige Stelle, an der jemandem eventuell weh getan wird, aber er Teufel ist sehr vorsichtig, benutzt viel Gleitgel, und man denkt, dass es bestimmt genau geprobt wurde).
Schließlich kommt mit dem großen Altstar Volker Spengler das klassische Theater zum Zug. Und während er großartig wütet und wettert und barmt (natürlich nackt), schlüpft der Regisseur unter seiner Achsel durch und saugt an seiner Brust. Ein Bild, das doppelt schön funktioniert: da schmeißt sich der Sohn an die Brust des alten Patriarchats und will gestillt werden. Und da trinkt ein junger Regisseur an der Brust des großen alten Theaters, ein wildes durstiges Kind. Und siehe: es ist munter und vergnügt, wohlgeraten – und liebt seinen Vater. Sehr rührend!!
Insgesamt: eine große Empfehlung! Nichts ist vorbei – alles geht noch!
(Und es war keineswegs die letzte Vorstellung. Laut Spielplan jeden Freitag und Sonntag. Sonntag um 16.00 ist wohl empfehlenswerter, weil man da die 8 Stunden viel leichte durchhalten kann)
"Der –sehr große!- Dildo des Gesetzes, der dann vom Teufel in den Hintern eine Schauspielers geschoben wird, stellt Schrecken und Ordnung wieder her. Ein wirklich unangenehmer Anblick, aber vielleicht in dem Moment notwendig. (Es ist die einzige Stelle, an der jemandem eventuell weh getan wird, aber er Teufel ist sehr vorsichtig, benutzt viel Gleitgel, und man denkt, dass es bestimmt genau geprobt wurde)."
Schrecken und Ordnung? Notwendig? Der Staat - Entschuldigen Sie bitte die folgende Formulierung - sollte seine Bürger also in den Arsch ficken, damit sie weiterhin schön stillhalten? Folgt das dem Slogan "Angst statt Freiheit"? Wird das als Beweis dafür missbraucht, dass die Bürger vorher auch nur als Ding behandelt wurden und das auch zukünftig weiterhin so praktiziert werden darf? Und ich dachte mal, es geht um (Ideologie-)"Freiheit statt Angst".
"Solidarisch waren Gruppen von Menschen, die gemeinsam ihr Leben einsetzten, und denen das eigene, im Angesicht der greifbaren Möglichkeit, nicht das wichtigste war, so daß sie, ohne die abstrakte Besessenheit von der Idee, aber auch ohne individuelle Hoffnung, doch bereit waren, füreinander sich aufzuopfern. Solches Aufgeben der Selbsterhaltung hatte zur Voraussetzung Erkenntnis und Freiheit des Entschlusses: fehlen diese, so stellt das blinde Partikularinteresse sich wieder her. Mittlerweile aber ist Solidarität übergegangen ins Vertrauen darauf, daß die Partei tausend Augen hat, in die Anlehnung an die längst zu Uniformträgern avancierten Arbeiterbataillone als die eigentlich stärkeren, ins Mitschwimmen mit dem Strom der Weltgeschichte. Was an Sekurität dabei zeitweise etwa zu gewinnen ist, wird bezahlt mit permanenter Angst, mit Kuschen, Lavieren und Bauchrednerei: die Kräfte, mit denen man die Schwäche des Gegners ausfühlen könnte, werden dazu verbraucht, die Regungen der eigenen Führer zu antizipieren, vor denen man im Innersten mehr zittert als vorm alten Feind, ahnend, daß am Ende die Führer hüben wie drüben sich auf dem Rücken der von ihnen Integrierten verständigen werden." (Adorno, "Minima Moralia")
"Es gibt neben den sexuellen auch andere Formen der Vergewaltigung des Kindes, so zum Beispiel diejenige mit Hilfe der Indoktrinierung, die sowohl der 'antiautoritären' als auch der 'guten Erziehung' zugrunde liegt. In beiden Erziehungsformen können die wahren Bedürfnisse des Kindes auf seiner jeweiligen Entwicklungsstufe nicht wahrgenommen werden. Sobald das Kind als Eigentum erlebt wird, mit dem man bestimmte Ziele vorhat, sobald man sich seiner bemächtigt, wird sein lebendiges Wachstum gewaltsam unterbrochen."
Möglicherweise geht es hier um die Bewusstmachung bzw. Zurückführung des strengen Über-Ichs Erharts auf die Normen der Gesellschaft, welche im Dienste bestimmter Kapitalinteressen stehen. Man betrachte nur einmal den Vater bzw. Bankdirektor John Gabriel.
mich krieg (neben verschiedenen bildern, szenen, phrasen) ein lied nicht mehr aus dem kopf, und bin ziemlich schlecht mit den sängern, gruppen, namen.
und zwar das lied, zu dem erhart nach der szene in der gebärmutter (soweit ich mich recht erinnere...) ziemlich lang tanzt. (hört sich ein bisschen nach keane an? ist es aber nicht...) (und ich glaub es kommt immer wieder mal auch so zwischendurch)
kann mir da jemand helfen?? das wäre wirklich sehr toll!!
es ist: A-ha - Living a Boy's Adventure Tale
http://vimeo.com/33778633
Jetzt bin ich daheim, schreib noch kurz dieses Review fertig und hoffe damit einige Leute davon abgehalten zu haben 27 Euro für diesen Scheiß auszugeben. Geht lieber gut Essen von dem Geld oder kauft euch einen Wintervorrat Socken im H&M, habt ihr mehr davon. Modernes Theater kann mich mal wenn alles was es hervorbringt degenerierte Hipster sind, die ihre Schwänze ins Publikum halten und denken sie wären total Avantgarde. Peinlich!!!!!!!
Peinlich!!!
Das griechische Theater
Das Standardkostüm der Komödie unterscheidet sich grundlegend von dem der Tragödie. Die Schauspieler trugen ein enganliegendes, fleischfarbenes (d.h. Haut symbolisierendes)
Trikot, das an Bauch und Gesäß grotesk ausgestopft wurde. Darüber trugen die männlichen Personen ein kurzes Gewand oder einen kleinen Mantel, die das Leben der Ausstopfung wichtigsten Attributs des komischen Kostüms, den ÜBERGROSSEN ERREGIERTEN PHALLUS, nicht verhüllte . . .
und dann unsere modernen (postmodernen gar) "Ausstopfungen"...
denn in einer szene bietet vinge erst € 40.-, dann € 100.- demjenigen, der die figur des "schwarzen, schwulen, behinderten juden" auf offener bühne vollpisst.
es findet sich eine junge frau - die [die plötzliche aufmerksamkeit sichtlich genießend] mit ausgebreiteten armen dem publikum zugewandt spricht, sie tue es für die volksbühne - und will den schwarzen, schwulen, behinderten juden anpinkeln... rafft schon ihre röcke und ist kurz davor... schließlich winken ihr € 100.- ...
...und es finden sich zuschauer, die sie lautstark von der bühne wegzitieren bzw. den regisseur hörbar wütend als "zynischer drecksack" beschimpfen und die frau anblaffen, sie solle nur weiter machen, schließlich habe sie sich durch ihre freiwillige meldung bereits genug blamiert und es sei ja bloß ein schwuler jude, den sie da bepisse, was mache das schon? [letzteres aber mit die frau verhöhnendem, bitterstem sarkasmus]...
hat das sonst noch jemand so mitbekommen oder wie sah dieser frösteln machende moment aus anderer perspektive aus?
inwiefern wird hier die grenze des erträglichen so überschritten, daß es zu emotionsgeladener interaktion seitens der sonst "brav" bzw. schweigend verharrenden zuschauer kam? [einiger weniger, die tatsächlich empört und erbost reagierten].
ich wäre für eine stellungnahme dankbar, um die erfahrung besser verarbeiten zu können.
Jene thematisierte Szene soll so auch erstmalig in der Reihe der BorkmanAufführungen geschehen sein. Generell war #18 wohl laut anderen Gästen und Mitarbeitern einer der sehr extremen und trotzigen Auswüchse des Vingekosmos.
Ich persönlich empfand diesen Moment als wirklich sehr intensiven Punkt, da wir als Publikum auf den Prüfstand gestellt wurden. Im Übrigen gab es auch schon in der ersten, massaker-ähnlichen Pausenszene einen kleineren Aufstand seitens des Publikums gegenüber Vinge, als seine Zombies über die Grenzen einiger Besucher im Eilschritt schreiteten, welcher aber nicht die Gesamtheit der Zuschauer so fesselte.
Mich selbst hat das Verhalten der jungen, (angetrunkenen?) Dame zu absoluter Fremdscham geführt, auch wenn wohl weniger das Geld, mehr die Partizipation an der Kunst (?) oder die winkende Aufmerksamkeit (?) Antrieb für diese Übersprungshandlung waren. Ich stimme völlig in dem Punk zu, dass sie schon kurz vor dem ernsthaften Vollzug der Urinierung stand, hätte das Publikum nicht interveniert. Aber mir fällt eine Wertung der Publikumsreaktion immernoch schwer. Ich könnte mir vorstellen, dass man sich vorallem daran gestört hat, dass die Zuschauerin wohl so stark in den Bann Vinges gezogen wurde, dass sie die von ihm dargestellten Obszönitäten verinnerlichte und vor ihrem Werteverlust gerettet werden musste. Weniger denke ich, dass die Unkorrektheit des Bepinkeln eines "schwarzen, schwulen, behinderten Juden" Auslöser für den Unmut war, denn es gab massig andere Stellen, an denen nicht eingegriffen wurde.
Bei intensiveren Gedanken über die Szene klafft auch in mir ein immer größeres Fragezeichen, über Beweggründe und Folgen.
Vielleicht gibt es noch einen anderen Blickwinkel, aber lieber netzagent, sie sind nicht allein!
Erst im Nachdenken nach der Aufführung ist mir dann der inhaltliche Zusammenhang der Minderheitenprovokation mit dem vorangegangenen Diskurs aufgegangen. Ich fand es im Nachhinein recht schlüssig, den Weg zu gehen von den fehlenden, unterbezahlten Statisten, über das Publikum, das die Statisten ersetzen, für das gleiche Geld mitspielen, Teil der Künstler werden könnte, wieder zu dem Gedanken, was diese Opfer für diese Szene bedeuten. Denn es geht ja um eine Szene, deren Thema die Überlegenheitsphantasie von Borkman über den Durchschnittsmenschen ist, und gleichzeitig die Selbstüberhebung des Künstlers über die Masse berührt. Ob die heimliche Lust am Einnehmen dieser Machtposition immer auch eine Tendenz zur Demütigung von Minderheiten enthält, schien mir dieses szenische Arrangement zu hinterfragen.
Obwohl die Szene jetzt thematisch besser goutieren kann, würde ich immer noch versuchen, eine Zuschauerin oder einen Zuschauer vom Mitspielen in einem solchen Arrangement abzuhalten.
Sonst liebe ich die Aufführung wie mich selbst.
sie fragte auch noch nach: "krieg' ich das geld dann wirklich"? fiel ihm ins wort, als er bereits auf 150 erhöhen wollte.
inwieweit bin ich als zuschauer gelenkt und entspreche erwartungshaltungen von jemand, der weiß, daß er immer wieder "entwischen" kann, sich dem "zugriff" eines analytischen verstandes entziehen kann, der sich ja - zumal im historischen kontext hierzulande - zurecht damit auseinandersetzt, wohin "ohnmacht" letztlich führt: resignatives mitschwimmen im mainstream. prostitution des prekariats. zurschaustellung der eigenen geldgier. übertragungsleistung einer zuschauerin, deren beitrag es gewesen sein sollte, "in-crowd-geilheit" ausagiert zu haben, weil jemand hinterfotzig sehen wollte, ob der schoß immer noch fruchtbar ist, aus dem der "aus sieben kartonagen" bestehende zug stracks nach ausschwitz abdampfte...
"bepisse einen schwarzen, schwulen, behinderten juden" - heißt: sei barbar von altersher [hölderlin: hyperion -> http://www.lohengrin-verlag.de/Texte/Hoelderlin.htm] und fühl' dich frei, das hier als mitmachshow zu perzipieren, nicht als bitterböse realsatire auf gewinnsucht und exhibitionsgeilheit.
für mich bleibt: der regisseur ist unbegreifbar "glitschig" und entzieht sich jeder moralischen verantwortung für dieses zynische spiel, denn er kann immer behaupten, "im spiel" gewesen zu sein, einer fiktion also...
...der mitmachcharakter einer "wette" hingegen suggeriert - und löst letztlich auch ein - die alltägliche realitätsebene des "panem et circenses"-gedankens der volksbelustigung als lohn für eine jedes mitgefühl amputierende anpassungsleistung an den status quo.
gut, bei hahnen- oder stierkämpfen wird auch auf den ausgang gewettet und der verlauf ist - gewollt - blutig und basiert auf der schaulust, zu sehen, wie die geschundene kreatur letztlich den geist aufgibt und zugrundegeht. und es ist kulturell abgesegnet in den gesellschaften, die das so handhaben wollen.
aber das hier ist etwas anderes: hier handelt es sich um eine fast lebensechte simulation des "wir-tun-jetzt-mal-so-als-ob"... und denken uns, vor uns liegt ein "außenseiteropfer" und wir schiffen uns nochmal zum feierabend schön drauf aus, weil uns jemand mit der kohle winkend "ERLAUBT" hat, das zu tun.
au weia!
was muß falsch gelaufen sein, wenn jemandes herz nicht spätestens hier "ALARM" pocht und die schlagader am hals zu kochen beginnt? hat derjenige noch ein herz?
oder geht er/sie später nach hause und küßt ihren köter? und meint, das sei praktizierte liebe?
bitte?
also, bitte!
wäre ihnen eine welt/bundesdeutsche kulturlandschaft aus schrebergartenKOLONIEN ["deutsch-südwest", "kamerun" und dergleichen "kaliber"] und trutzburgähnlichen ansiedlungen deutscher laubenpiepermentalität lieber?
dergleichen pflege deutschen brauchtums wird ja nun seit "menschengedenken" steuerlich gepampert.
oder ist ihnen eine republik von fußball"fans" lieber? oder ein "vater"land, das sich allabendlich mit der intravenös verankerten entertainmentkanüle an der satellitenschüssel freiwillig [HURRA!] selbst lahmlegt?
für letzteres zahlen sie [zwangsverpflichtet und professionell bespitzelt] GEZ-gebühren. aus eigener tasche!
für ersteres "IHRE" steuergelder für die EXEKUTIVbeamten in wahlweise grün oder blau, die "IHR" vereinsstadion alle spiele wieder "sichern" müssen... vor anderen "FANS"...
es LEBE das durch steuergelder ermöglichte THEATER als DENKanstalt mit öffentlicher beRECHTigung!
Darth Vader = Dark Father = Tyrann
JAJAJAJA- VAAATERRR !!!
Söhne sind Opfer. Sie wurden verstümmelt, sie ziehen in den Krieg...
NICHT spüren müssen... nicht mehr spüren müssen...
VATER! Vaterland...
JAJAJAJA, MUTTER!
Mutter, Muttersprache...
Dieses Stück ist ein Fest der BEFREIUNG...
schon allein der VERSUCH [der Befreiung] adelt.
Doch die herausejakulierte, -geschwitzte, -gestampfte, - gepißte und -geschissene ist jede sekunde der ablehnung, des ekels, des affronts, der blamage und des exibitionismus wert...
Vinge hat ihn: den MUT zu selten gewordener SCHÖNHEIT der REBELLION. Wenn Theater DAS nicht mehr "leisten" können darf - weil es ENDVERBRAUCHERsteuergelder verschleudert - kannste det hier gleich dichtmachen und "JA-UND-AMEN" draufstickern.
MEHR davon!
danke
in der tat: vinge/müller/reinholdtsen entwickeln hier die idee vom interaktiven pc-game konsequent für theater adaptiert weiter...
...zu ungeahnten dimensionen.
die dungeon-torches im bühnenbild [kerkerkellerpechfackeln], die atari-game-trash-ästhetik bzw. "billige" nachempfindung "fieser" computerspiele von nintendo und dgl. tun ihr übriges - auf dem platz hin und hertrippelnde figuren in warteschleife, die erst dann zum leben erweckt werden, wenn sie - angewählt/aktiviert - die handlung weitertreiben sollen...
...das alles untermalt mit für computerspiele typischen soundeffekten [kinnhakendonner]... die verzerrten und verfremdeten stimmen...
...darüberhinaus die "perspektive" des spielleiters hinter seinem steuerpult [wahlspruch über dem bunkerschlitz des technikerunterstandes: "das gesetz kennt keine ausnahme" - haha!], der sich manisch aufgepeitscht als "master-of-puppets"-strippenzieher mit fernsteuerungs[voll]macht geriert...
..das alles verweist auf smart enthemmte fantasiearbeit und kreative erfindungs- und spiellust, die uns so, in der dichte und vielschichtigkeit, nicht immer auf dem theater begegnet.
an dieser stelle also herzlichen dank für diese luzide dekonstruktion, die mehr neuronale neuverknüpfungen [vulgo SINN] stiftet, als sie zerstört.
ein tipp wäre noch, die entfesselten sounds und bilder umsichtig zu integrieren - vielleicht inner mentalen sandbox laufen zu lassen - weil die eindrücke sonst noch tagelang nachwirken... oder sich zu verselbständigen "drohen".
well done, dungeon keepers of the nordwind festival!
glückwunsch!, volksbühne!
berlin! du bist einsame klasse!
Ausserdem frage ich mich: Was hat DAS alles (was Sie da schreiben) noch mit Ibsens Stück zu tun? Warum dann überhaupt noch diese Stückvorlage? Können Sie da einen inhaltlichen Zusammenhang herstellen?
Die beschriebene Aktion hat nichts mit Mut zu tun, tut aber so als ob. Ist ja schliesslich bei Schlingensief als "bewährtes" Modell abgekupfert...
Wenn die beschriebene Aktion ein wie auch immer provokantes Statement zum vermeintlich im Publikum zu befürchtenden Antisemitismus sein sollte, wäre das zwar beileibe nicht mutig, aber denkbar. Nur wären die anderen 12 Stunden Theater dann überflüssig.
Wenn es um das Ibsen Stück gehen sollte (was es laut Vinge nicht tut, aber hier in den Kommentaren weiss man das ja immer besser), wäre die "Aktion" überflüssig...