Die Befehle des Herrn Voigt

von Hartmut Krug

Cottbus, 27. Juni 2009. Carl Zuckmayers allgemein bekanntes, vielfach verfilmtes sozialkritisches Märchen und zeitloses Volksstück um den Schustergesellen Voigt, der bei seinem Kampf um ordentliche Papiere und eine Arbeitsstelle dem preußischen Obrigkeitsstaat ein Schnippchen schlägt, war und ist auf den Bühnen und auf der Leinwand ungemein erfolgreich. Während es mit dem Militär- und Beamtentum ein wilhelminisches Panorama vorführt, vernichtet es dabei das Spießbürgertum weniger satirisch, als dass es dieses zum kopfschüttelnden Beschmunzeln vorführt.

Schon der Kritiker Paul Rilla meinte nach der Uraufführung im Deutschen Theater 1931, das Stück biete die "Illuminierung eines preußischen Idylls". Der 76-Jährige Peter Kupke, in den 70er Jahren Regisseur in der Theaterleitung des Berliner Ensembles, entwickelt das Stück ohne äußerliche Aktualisierungen am Staatstheater Cottbus ganz aus seiner historischen Zeit. Dafür ist er ins Freie, in den weiten Innenhof der 1885 an der Kaiser-Friedrich-Strasse für das Infanterie-Regiment Nr. 52 erbauten von-Alvensleben-Kaserne gezogen.

Oldtimer, Pickelhauben, Leierkastenspieler

Das Spektakel der szenischen Illuminierung einer vergangenen Zeit beginnt schon eine Stunde vor Aufführungsbeginn: Oldtimer knatten herum, Pickelhauben-Soldaten marschieren, historisch Kostümierte flanieren oder picknicken im Grase, eine Leierkastenfrau trägt die Moritat vom Hauptmann von Köpenick vor, während er selbst in einer historischen Aufnahme zu hören ist und sein Steckbrief verteilt wird.

Hier ist alles in Bewegung, auch die Aufführung und ihr Publikum. Denn das Stück wird auf sechs Bühnen als Schaubudentheater gegeben: geteilt in drei Gruppen marschiert das Publikum von Bühne zu Bühne. Nicht alle sehen alles, nicht alle sehen das Gleiche, nicht alle Szenen des umfangreichen Stückes werden gespielt, aber die Grundstruktur des Stückes und der Fabel werden für jeden deutlich. Schließlich kann man davon ausgehen, dass die Geschichte bekannt ist.

Wiedervereint vor dem Rathaus Köpenick

Das Schaubudentheater beginnt mit einem Ausrufer, der in die Geschichte ein- und später auch durch sie und aus ihr hinausführt. Er erzählt die Vorgeschichte und präsentiert uns mit Wilhelm Voigt und dem Hauptmann von Schlettow zwei Antipoden des Stücks. Dann geht es vom Uniformladen zum Polizeibüro, von der Bierschwemme zum Zuchthaus, von der Wohnstube zum Schlesischen Bahnhof, bis sich die Zuschauerströme vor dem Rathaus Köpenick endgültig wieder vereinen.

Peter Kupke hat weder das Sozialdrama noch das Individualdrama des armen Schusters Voigt inszeniert, sondern er stellt den Mechanismus einer Gesellschaft aus, die nach starren, oft leeren Regeln funktioniert und ihre Machtstrukturen nicht in Frage stellt. Dabei spielt Thomas Harms den Voigt nicht nur als Opfer, sondern auch als einen patent-witzigen, zwischen Verzweiflung und Selbstbewusstsein lernenden Voigt.

Libidinöse Besetztheit des Militärischen

Dieser Schuster, von dem es, wegen der Gleichzeitigkeit mancher Szenen in dieser Inszenierung, noch zwei "einer wie Voigt" gibt, ist ein echter Schlawiner, dessen Figur Thomas Harms sehr sensibel entwickelt. Ohnehin sind alle Figuren, auch wenn sie als Amtspersonen mit rotgefärbten Gesichtern und übersteigerten Gesten typisiert wirken, dennoch genau begründet und entwickelt, - man merkt den brechtgeschulten Regisseur. Zwar spielen Uniformgläubigkeit und Militarismus weder für uns noch für den Regisseur heute noch eine Rolle.

Indem Kupke aber die libidinöse Besetztheit des Militärischen durch sprachlich-mimische Übersteigerungen ausstellen lässt, entsteht Raum für mancherlei Assoziationen. Ohnehin zeigen viele Szenen, wie die, bei der Voigt auf dem Amt regelgerecht warten muss und nicht vorgelassen wird, dass dieses Stück keine Aktualisierung braucht. Zuckmayer schrieb es ungemein pointengenau, und natürlich ist auch die Cottbusser Aufführung vor allem effektvolles Unterhaltungstheater. Doch zugleich kommt sie als forschendes Menschentheater daher, ohne dabei zu menscheln oder auf die Tränendrüsen zu drücken.

Zwischen Organisations- und Harndrang

Die Gefängnisszene, in der die Häftlinge die Erstürmung der Höhe 101 während der Schlacht von Sedan nur mit ihren Hockern nachspielen müssen, ist ebenso herrlich choreographiert wie das Gesprächsballett, das zwei Reichsbahner zwischen Organisations- und Harndrang vor der Bahnhofstoilette auf dem Schlesischen Bahnhof aufführen. Am Schluss, wenn an den Fenstern des zweigeschossigen Rathauses von Köpenick das Befehlsballett der Verhaftung des Bürgermeistes mit Voigts Erkenntnis endet, dass es in Köpenick gar kein Passamt gibt, spielt Thomas Harms seinen Hauptmann ganz still, ganz beiläufig genau, nie schnarrend, nie mit der Uniform auftrumpfend.

Die Schluss-Szenen, die damit enden, dass sich Voigt vor einem Spiegel erstmals in seiner Uniform sieht, sind gestrichen. In Cottbus berichtet der Ausrufer vom Schicksal des wahren Wilhelm Voigt, der nach seiner Haftentlassung als Promi durch Europa tingelte und mit Vorträgen reich wurde, doch während der Weltwirtschaftskrise später alles wieder verlor und auf einem Armenfriedhof in Luxemburg begraben wurde. So endet eine beeindruckende Aufführung, die Zuckmayers Repertoireknüller neu belebt, nicht mit einem szenischen, sondern mit einem geschichtlichen Paukenschlag.


Der Hauptmann von Köpenick
von Carl Zuckmayer
Regie: Peter Kupke, Musikalische Leitung: Hans Petith, Bühne: Hans-Holger Schmidt, Kostüme: Ulrike Schlafmann.
Mit: Thomas Harms, Michael Becker, Susann Thiede, Gunnar Golkowski, Gabriele Lohmar, Amadeus Gollner, Berndt Stichler, Jan Hasenfuß, Dirk Möller, Michael Krieg-Helbig, Roland Schroll, Oliver Seidel, Ariadne Pabst. Stimmen: Elisa Elß, Michael Krieg-Helbig.

www.staatstheater-cottbus.de

 

Kritikenrundschau

Beim Cottbuser Sommerspektakel "Der Hauptmann von Köpenick" zerstäube der Regisseur Peter Kupke "einen Hauch alter 'Berliner Luft' und illustriere Voigts Zeiten", schreibt Ulrike Buchmann in der Märkischen Oderzeitung (29.6.). Dabei würden jedoch einige Figuren "kräftig überzeichnet", wie etwa "alle rotgesichtigen Beamten in preußischer Uniform. Der übertriebenen Typisierung hätte es nicht zwingend bedurft. Dass im Volkstheater auch präziser und etwas feiner gezeichnete komische Charaktere funktionieren, beweist Amadeus Gollner als Schneider, aufmüpfiger Zeitungsleser und von einer übervollen Blase gequälter Eisenbahner, der plötzlich strammstehen muss vor dem vermeintlichen Hauptmann von Köpenick." Der Hauptdarsteller Thomas Harms wiederum zeige "den armen Schlucker als Schlitzohr und Sensibelchen, das niemandem zur Last fallen will. Es ist nicht ganz einfach für ihn, die Vielschichtigkeit seiner Rolle gegen einige naiv chargierende Mitspieler zu entwickeln. Harms hätte mehr Rückendeckung vom Regisseur gebraucht."

Bei Martin Stefke von der Märkischen Allgemeinen (30.6.) kommt kaum Langeweile auf, "weil man von Szene zu Szene ständig in Bewegung bleibt", indem man von einer Spielstätte zur anderen wandert. Zwingend wirke das allerdings nicht – "Weshalb rennen wir einem ärmlichen Schuster hinterher?" Auch was die Regie "mit der knalligen Schminke auf Wangen und Nasen erzählen will, erschließt sich kaum". Abgesehen vom Schuster, dem jede Sympathie gehöre, komme der Rest des Personals "oft wie Witzfiguren daher". Harms spiele Wilhelm Voigt, "als sehe der sein eigenes Ende stets voraus. An seinem Schicksal leiden muss er kaum". Dafür darf er ziemlich viel mit den Augen rollen. "Das gibt heiter-derbes Volkstheater, wie es dem Cottbuser Publikum gefällt."

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