Glück. Ach.

29. September 2024. Franziska Linkerhand ist ein Klassiker der DDR-Literatur und seine Autorin Brigitte Reimann eine ihrer bedeutendsten Vertreterinnen. Johanna Wehner hat das berühmte Werk nun in Cottbus auf die Bühne gebracht. Ist der alte Ost-Kram am Ende gar kein Ost-Kram?

Von Sylvia Belka-Lorenz

"Franziska Linkerhand" nach Brigitte Reimann am Staatstheater Cottbus von Johanna Wehner inszeniert © Bernd Schönberger

29. September 2024. Wer interessiert sich noch für diesen alten Ost-Kram? Die Frage hört die Kritikerin so einige Male vor diesem Abend. Auch das Premierenpublikum ist sich diesbezüglich gar nicht einig. Während sich der Rang in der Pause sichtbar gelichtet hat glitzern im Parkett am Ende doch Tränen der Rührung.

Franziska Linkerhand, ein Schlüsselwerk der DDR-Literatur, genau eine Woche nach der Brandenburger Landtagswahl auf die Bühne gebracht, einer Wahl, bei der die Ossis einmal mehr moralisch blankgezogen haben. Schwups ist sie da, die Steilvorlage für eine weitere, üblicherweise angeekelte, Ost-Obduktion.

Grandiose Romanvorlage

Und genau die liefert Regisseurin Johanna Wehner mit ihrem Ensemble… nicht. Nicht einmal ein paar Tupfer Plattenbau-Tristesse. Kleine lila Flokatis auf der Bühne assoziieren (Märkische) Heide und also Natur, Parabolscheinwerfer, ansonsten ist die Bühne weitgehend nackt – bis auf die Urhütte, die Keimzelle aller Architektur, denn um solche soll es gehen an diesem Abend. Das Urhütten-Häuschen aus handlichen Marmorbausteinen, die auf das Theater anspielen, in dem wir gerade sitzen.

Nicht viel Firlefanz also, so bleiben übrig: 6 Schauspieler, Licht, die Flokatis- und eine grandiose Romanvorlage.

Das Notwendige mit Schönheit versehen

Woher kommen wir, wie sind wir geworden, was wir sind? So lautet das wuchtige Forschungsthema, das über dieser Cottbuser Schauspielzeit steht, und das passt ganz gut zu einigen der Killerfragen, die das Sextett gleich zu Beginn demonstrativ an der Rampe platziert: Ist es das, was sie sich vorgestellt haben als sie anfingen?, fataler noch: Bist du glücklich? Jetzt? Überhaupt hat sie ganz viele Fragen, diese Brigitte/Franziska, und all den Widrigkeiten zum Trotz ein "Talent zum Glücklichsein". Der Rest ist Literaturgeschichte.

"Bist Du glücklich" - Frau Hellwig (Susann Thiede) erzählt ihre Geschichte © Bernd Schönberger

"Franziska Linkerhand ist die Literatur gewordene Sehnsucht eines Menschen nach einer lebenswerteren, gerechteren Welt", schreibt Dramaturgin Franziska Benack treffend im Ankündigungstext. Frischgebackene Architektin, Kriegskind, bürgerliches Elternhaus. Durch Zufälle, Männer und die Zwänge der jungen DDR kommt sie nach Neustadt. Neustadt aka Hoyerswerda - weit, weit im Osten, wo ein neues Gaskombinat errichtet wird, um die Republik mit Energie zu versorgen.

Trost im Westfernsehen

Jede Menge Werktätige werden gebraucht und die wiederum müssen untergebracht werden. Und daran will Franziska mittun: "das Notwendige mit Schönheit versehen"; Wohnungen bauen, die den Menschen Würde geben. Scheitern mit Ansage. Brigitte Reimann schreibt darüber, so dicht und ausführlich, dass sie bis zu ihrem frühen Lebensende nicht damit fertig wird: Sie schreibt über Machtmissbrauch und (zu) alte Funktionäre, sie schreibt darüber, dass es in der Plattenbauödnis zu Vergewaltigungen kommt, dass Menschen sich umbringen und/oder Trost im Westfernsehen suchen. Über Stalin und Bautzen schreibt sie auch. Das Buch erscheint, politisch gekürzt und bearbeitet, nach Reimanns Tod 1974 in der DDR.

Johanna Wehner hat aus dem 700-Seiten-Klopper eine zweistündige Bühnenfassung extrahiert, die sie selber Erzähldrama nennt, und auf die Schauspieler*innen verteilt. Nur dass sie ihnen praktisch nichts zu spielen gibt. Vermochte die Sinnlichkeit und Intensität des Schreibens von Brigitte Reimann einst sogar Literaturpapst Reich-Ranicki zu begeistern … dieser Theaterabend der aufgesagten Texte zieht und zieht sich, bis er nach der Pause endlich an Fahrt aufnimmt. Franziska, angekommen in Neustadt, im Alltag der Produktion. Sämtliche Ideale drohen krachen zu gehen an Vernunft, Unwillen, Zeitdruck und Plankennziffern. Die Verlorenen und Einsamen finden sich, in Neustadt wie an allen trostlosen Orten der Welt, in der Kneipe: und die hat, außer dem billigen Bergmannsfusel, eine Konstante: Frau Hellwig, die Kellnerin.

© Bernd Schönberger

Irgendwann erzählt Frau Hellwig ihre Geschichte. In der Hitlerzeit als Pflichtjahrmädchen aufs Land geschickt. Die Bäuerin stirbt elend an Typhus und der Bauer ist ein Wrack, als er aus dem Krieg kommt, da kann sie ja nicht einfach abhauen. Sie zieht fünf Kinder groß, von denen keins ihr eigenes ist, erledigt das, was eben ansteht, viele Generationen vor Achtsamkeit und Work-Life-Dingsda. Schön ist Frau Hellwig immer noch. Die Hände schwielig von der schweren Arbeit, aber Gesicht und Busen: tadellos.
Susann Thiede in einer sieben-, achtminütigen Etüde, die allein den ganzen Abend lohnt.
Und jetzt nochmal für alle: Bist du glücklich? Jetzt gerade?

Try again, fail better

Franziska Linkerhand, Linkerhand tatsächlich wie das Adverb: links; auf der linken Seite. Der Versuch, eine Gesellschaft zu errichten aus der sturznaiven, bezaubernden Idee heraus, alle Menschen könnten gleichermaßen etwas wert sein. Linkerhand, eine Frau, ein Mensch, die, der davon träumt und daran festhält, anarchisch und naiv und visionär. Mit den Worten von Samuel Beckett: Try again. Fail again. Fail better. So wäre der alte Ost-Kram am Ende gar kein Ost-Kram?

Ein Abend für kluge Drumrum-Gespräche und manche Träne für die Wiederentdeckung des Werks. Ohne dieses Ensemble ginge hier nichts - und die sechs werden vom Publikum lange gefeiert.

Franziska Linkerhand
nach dem Roman von Brigitte Reimann in einer Bühnenfassung von Johanna Wehner
Regie: Johanna Wehner, Bühne: Benjamin Schönecker, Kostüm: Ellen Hofmann, Musik: Vera Mohrs, Dramaturgie: Franziska Benack.
Mit: Manolo Bertling, Christian Ehrich, Gunnar Golkowski, Charlotte Müller, Markus Paul und Susann Thiede.
Premiere am 28. September 2024
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-cottbus.de


Kritikenrundschau

Was Regisseurin Johanna Wehner interessiert, ist das Lebensgefühl einer jungen Frau in ihrem Umfeld, so Christina Tilmann in der Märkischen Oderzeitung/Lausitzer Rundschau (30.9.2024). Die zweistündige Theaterfassung arbeite die Stationen Franziskas ab, "versucht, in wenigen, sich immer wiederholenden Sätzen, Reimanns elliptische Erzählweise nachzubilden, vertändelt sich im Formalen". Am Ende wiederhole sich die Anfangsfrage: Sind Sie glücklich? "Die sechs Personen an der Rampe haben keine Antwort gefunden, das Publikum auch nicht. Reicht das für einen gelungenen Theaterabend? Eher nein."

 

Kommentare  
Franziska Linkerhand, Cottbus: Begeistert
Also ich war begeistert von dem Abend. (...) Ich sah ein spielendes und erzählendes fantastisches Ensemble, auch vor der Pause.
Franziska Linkerhand, Cottbus: Bitte um Erklärung
... aber was meint die Autorin, die Spieler würden „praktisch“ nicht zu spielen bekommen? Weil sie auch erzählen, ist das kein Spiel? Ich bitte um Erklärung welche Spielform denn hier nicht stattfinden würde. Das sollte man bei so starken Behauptungen, ich finde eine falsche Behauptung, erläutern.

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Werter Sven, was genau meinen Sie? Die Regisseurin nennt das Stück ja selber Erzähldrama. Sie hat den Text verteilt - aber keine Szenen geschrieben. Herzliche Grüsse aus der Redaktion..
Franziska Linkerhand, Cottbus: Die Anreise wert
Ich bin glücklich über die gewählte Form der Inszenierung, mal etwas anderes. Die Schauspielsparte in Cottbus ist häufig eine Anreise - auch aus Berlin - wert, moderne Inszenierungen mit lokalem, ostdeutschen Einschlag bieten Aha-Effekte, zum Teil auch durch die Publikumsreaktionen, denen man lauschen kann.

Zur Inszenierungsform: man muss sich reinhören und vor allem dranbleiben. Es ist definitiv eine tolle Ensembleleistung, es fällt mir schwer eine/n Spieler/-in hervorzuheben, aber natürlich bewegte zum Aufführungsende Manolo Bertling den gesamten Saal mit seinem Monolog über die Vergewaltigung, der ausbleibenden Hilfe der Anwohner und dem Mittagspausen-Gespräch beim Kirschkompott darüber.

Die Wiederholungsfrage 'Bist Du glücklich?' ist nicht nur die Klammer für Anfang und Ende der Aufführung, sie wirft die relevante Frage auf, welchen Wert der Mensch in totalitaristischen Systemen hat, in denen das Kollektiv oder die Volksgemeinschaft überbetont wird, aber individuelle Selbstverwirklichung in den Hintergrund rückt bzw. nicht gewünscht ist.

Ich möchte noch Gast Christian Ehrich erwähnen, der sich nicht nur super ins Team reingefunden hat, sondern ganz in grau gekleidet und mit Warzenhänden den unflexiblen Planerfüller spielen musste.
Franziska Linkerhand, Cottbus: Spießig
Also ich weiß nicht, wie viele Claquere hier schreiben, aber ich fand es einen ganz spießigen, langweiligen, ja sorry provinziellen Inszenierungsansatz. Die Schauspielenden haben mich auch nicht überzeugt. (...)

(Anm. Redaktion. Eine spekulative Volte wurde aus dem Kommentar entfernt.)
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