Raumfahrer - Staatstheater Cottbus
Action im Weltall
Cottbus, 10. September 2022. Was hat die Lausitzer Familie Kern mit Georg Baselitz zu tun? In zwei Erzählsträngen geht Lukas Rietzschel in "Raumfahrer" den Menschen und ihrer Geschichte in einer Region am Rande nach. Paula Thielecke hat den Roman nun am Staatstheater Cottbus inszeniert, mit Jan Koslowski als Bühnen- und Kostümbilder und mit viel Action. Aber was ist mit der melancholischen Grundstimmung?
Von Michael Bartsch
Cottbus, 9. September 2022. In der Lausitz ist es lustig, in der Lausitz ist es schön – wer's nicht glaubt, der muss in Cottbus in die Kammerbühne geh'n! Diese Abwandlung des Seefahrer-Scherzliedes drängt sich bei "Raumfahrer", sehr freizügig nach dem Roman von Lukas Rietzschel inszeniert, spätestens nach einer Viertelstunde auf. Spätestens dann ist die Frage entschieden, ob der Dauerklamauk auf der kleinen Bühne des Staatstheaters außer einem groben Plot etwas mit der Buchvorlage gemein hat. Lukas Rietzschel, für die Bühnenfassung nicht konsultiert, wird dies nach der Vorstellung wohl ebenfalls verneinen. Einem Ruf auf die Bühne zum Premierenapplaus war er nicht gefolgt.
Wer der Textfassung und Inszenierung von Paula Thielecke irgendeinen bereichernden Aspekt abgewinnen will, sollte auf keinen Fall den Fehler begehen, die "Raumfahrer" des 28 Jahre alten hellsichtigen und dunkelfühlenden Schreibtalents zuvor noch einmal frisch zu lesen. Denn Rietzschel, unbelastet vom permanenten Vergleichszwang mit einer DDR-Erfahrung, fängt mit seinen hochsensiblen Antennen die verstümmelten SOS-Signale der Gegenwart umso präziser ein. Zwischen den Zeilen klingt der quietschende Sound der Brüche und der gescheiterten Kittversuche. Die Mischung von Verlorenem und Übriggebliebenem und einem bisschen Hoffnung spiegelt in "Raumfahrer" eine Melancholie, die anders als bei seinen Erstlingswerken nicht in Aggression umschlägt.
Geschwindigkeits-Überschreitung
Die Heimaterfahrung des in der sorbischen Lausitz Geborenen spiegelt sich in den komponierten Kapiteln um den Krankenpfleger Jan, seiner Familie, der sporadisch mit ihm liierten Oberärztin Karoline und den Patienten im real existierenden Kamenz. Rietzschel hat diese Episoden brutalreal mit der Geschichte der Brüder Georg und Günter Kern aus Deutschbaselitz gekreuzt, letzterer als Georg Baselitz nicht allein wegen seiner kopfstehenden Bilder ein weltweit bekannter Maler. Möglicherweise ist Jan der Sohn Günters.
Diese beiden Stränge sollte man entweder zu Hause gründlich studiert haben oder sich erwartungsfrei prima vista einem aktionistischen Dauerfeuer hingeben. Denn dass man bei dieser permanenten Geschwindigkeitsüberschreitung noch irgendetwas von Zusammenhängen kapieren könnte, erscheint ausgeschlossen. Ausgeschlossen wird auch jegliche von Lukas Rietzschel so treffend erfasste Lausitz-Stimmung, der auch Kohle-Strukturwandelmilliarden nicht recht aufhelfen wollen.
Ausgequetschter Lebenssaft
Sie habe beim Autor stattdessen "das Saftige des Lebens" im Roman entdeckt, bekundet Regisseurin Paula Thielecke in einem Interview. Sie habe nun mal Lust auf "superverschrobene Charaktere", Stasi-Typen eingeschlossen.
Für diesen Saft, so der Eindruck, hat sie aber heftig quetschen müssen. Bei einigen Wiehersüchtigen im Publikum landet sie damit einen Erfolg, ansonsten fielen die Fehlstellen in den Sitzreihen nach der Pause auf. Die Berlinerin, die auch selbst performt, wurde in diesem Jahr mit einem Stück für die Lange Nacht der Autor:innen am Deutschen Theater Berlin ausgewählt. Womöglich, weil sie im Trend einer Generation liegt, die fast der Rietzschels entspricht. Aber in Cottbus setzt sie voll auf Show und Äußerlichkeit. Als traue man dem Publikum der Generation Handy keine subtilere Wahrnehmungsfähigkeit mehr zu. Jede amerikanische Soap könnte in Cottbus noch etwas lernen.
Dauerrauschen in der Datscha
Das Bühnenbild scheint nur insofern erforderlich, als es Tarnung für die verdeckten Videoszenen bietet. Eine Mauerziegel-Datscha mit einem dreiteiligen Großfenster und einer ebensolchen Verandatür. Beim Umdrehen zeigt sich ein mäßig lasziver Schlafplatz und ein wie ein Traditionskabinett dekoriertes nicht stilles, nein, lautes Örtchen. Selbstverständlich gibt es in den reichlich zwei Stunden Spielzeit kaum eine videofreie Minute, muss für einen audiovisuellen Dauerrausch ständig nachgepumpt werden. Selbstverständlich muss durchgebrüllt, zumindest ständig forciert werden. Kein Kammerton in der Kammerbühne. Erst in der Schlussviertelstunde, als es um den Unfall des Sohnes Torsten, der original Thomas heißt, und um resümierende Sentenzen geht, hört man wieder aufmerksamer und ein bisschen betroffen zu.
Sonst nichts, was nicht veralbert würde. Einmal kann man sich daran sogar delektieren, als die bekannte Eitelkeit des Georg Baselitz gekonnt parodiert wird. Die vier Spieler, pausenlos exaltiert, meistern das schweißtreibende Überschalltempo bewundernswert. Damit der Druck nie nachlasse, müssen sie oft auch noch chorisch deklamieren. Das meiste rauscht dennoch so vorbei wie der die Lausitz künftig querende IC auf einer Trasse, die die Region retten soll.
Rietzschels nächster, dramatischer Text in Görlitz-Zittau
"Das ist mir zu pläkig", sagt Eva-Maria Kern. Denn die Buchfigur Günter, der Bruder von Georg Baselitz, und seine Frau sind tatsächlich zur Premiere nach Cottbus gekommen und haben eine Dokumentation der Stasi-Akten ihres und Georgs Falles mitgebracht. Bei einer Lesung in Kamenz hatten sie den Autor mit dem Stoff konfrontiert und ihn zum Roman inspiriert. Sie erkennen sich zumindest teilweise wieder, auch wenn die Inszenierung der krasseste Gegenentwurf zum sensiblen Buch ist. Lukas Rietzschel verrät immerhin laufende Pläne für ein Stück am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau, wo er lebt. Man weiß ja: In der Raumfahrt dröhnt es beim Start. In der Höhe herrscht dann erhabene Stille.
Raumfahrer
nach dem Roman von Lukas Rietzschel
Uraufführung
Regie: Paula Thielecke, Bühne und Kostüme: Jan Koslowski, Video: Max Kubitschek, Musik: Mika Amsterdam, Dramaturgie: Franziska Benack.
Mit: Torben Appel, Sophie Bock, Sigrun Fischer, Markus Paul.
Premiere am 9. September 2022
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-cottbus.de
Kritikenrundschau
Thielecke nutze in der Inszenierung eine Art Instagram-Ästhetik, die alles in einem permanenten Jetzt verschwimmen ließe, sagt Harald Asel im rbb Inforadio (12.9.2022) Die Jugend, über die hier berichtet werde, "scheint so weit weg zu sein, wie der Dreißigjähriger Krieg".
"Sicht- und hörbar" suche Paula Thielecke eine form für Rietzschels Roman, schreibt Ute Grundmann in der Märkischen Oderzeitung (12.9.2022) in einer Doppelrezension mit "Im Berg" (Regie: Armin Petras). "Und sie entschied sich für laut und chaotisch und schreddert damit den großartigen Roman." Wer den nicht kenne, könne kaum herausfinden, dass es in "Raumfahrer" um sich verlierende Menschen im verödenden Kleinstädten gehe. Die Inszenierung biete mit gefakten Atelierszenen und "'West-Bonzen'-Nörgelei" ein "Baselitz-Bashing".
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