Die korrumpierte Hoffnung

10. April 2022. Was wir nicht begreifen, müssen wir zerstören: Es sind solche Erkenntnisse, die Stanislaw Lems über sechzig Jahre alten Science-Fiction-Klassiker "Solaris" bis heute hochaktuell machen. In Cottbus inszeniert die Regisseurin Blanka Rádóczy ihn als anspruchsvolle Philosophiestunde – mit Konzessionen an Genre-Klischees.

Von Michael Bartsch

"Solaris" in der Regie von Blanka Rádóczy am Staatstheater Cottbus © Frank Hammerschmidt

10. April 2022. 61 Jahre nach dem Erscheinen von Stanislaw Lems Roman "Solaris" kommt auch die Cottbuser Theaterfassung der Regisseurin Blanka Rádóczy nicht ohne klassische Schalttafeln mit bunten Lämpchen und Anzeigeinstrumenten aus – wie es sich seit jeher für einen Science-Fiction-Stoff gehört. Die gemischten Gefühle, die einen zum Auftakt des Abends beschleichen, wollen auch über die kommenden knapp zwei Spielstunden hinweg nicht weichen. Die Inszenierung pendelt zwischen Konzessionen an Klischees und dem Willen, die höchsten Textansprüche des berühmten polnischen Schriftstellers Stanislaw Lem zu erfüllen.

Gerade diese Textlastigkeit der Bühnenadaption hätte auch einen höheren Abstraktionsgrad, mehr Mut zu fiktiven Räumen, ermöglicht. Oder das Gegenteil, eine dem ständigen Theoretisieren gegenübergestellte poetisch-sinnliche Entsprechung. Das freilich wäre im sterilen Weiß der Forschungsstation auf dem Planeten Solaris kaum aufgegangen. Vier Räume hat Ausstatterin Marie-Luce Theis auf die Drehbühne gebaut. Wenn sie nicht im besagten gnadenlosen Weiß strahlen, leuchten sie rot oder blau. Diese Färbung rührt von den beiden Sonnen des fernen Planeten her. Merkwürdig erscheint vor allem dessen "Ozean": eine gallertartige Masse, ein Subjekt mit magischen Fähigkeiten der Inkarnation von Gedanken und Erinnerungen an bereits Verstorbene. 

Ersticken an der Welt

"Solaris" war zumindest im Osten ein Klassiker, auch wenn das Buch erst zu Beginn der 1980er Jahre die Zensurhürden in der DDR übersprang. Zehn Jahre zuvor hatte es Andrei Tarkowski bereits verfilmt. Dass es jetzt wieder aufgegriffen wird, zeugt vom Weitblick des genialen Autors. 1961 startete mit Juri Gagarin der erste Mensch zu einem Raumflug, die Welt befand sich in einer Kosmos- und Wissenschaftseuphorie, die Menschheit schien an ihre unbegrenzten Fähigkeiten zu glauben. Kybernetik lautete eines der Zauberwörter. Die Hoffnung war noch nicht korrumpiert.

Staatstheater CottbusSOLARISNach dem Roman von Stanisław LemSzenenfoto mit Thomas Harms (Sartorius)(Foto: Frank Hammerschmidt)Lämpchen und Schaltflächen, wie sie zum Science-Fiction-Standardrepertoire im Theater gehören: Thomas Harms im Bühnenbild von Marie-Luce Theis und und Blanka Rádóczy © Frank Hammerschmidt

Lem aber verwies damals schon auf Grenzen, auf Agnostik geradezu. Er unterstellt, dass wir "zerstören müssen, was wir nicht begreifen". Bevor uns das Verb "klonen" geläufig wurde, warf er die Frage nach der Einmaligkeit des Individuums auf. Mit etwas Anlauf kann man in dem rätselhaften Ozean auf Solaris sogar ein göttliches Prinzip erkennen. Die Wissenschaftler auf Solaris sind übrigens keine Kolonisatoren des Weltraumes, sondern sehr irdisch und menschenbezogen. "Es genügt unsere eine Welt, und schon ersticken wir an ihr", lautet eine sehr heutige Textpassage, die leider in der Aufführung fehlt.

Sind wir bei Star Trek oder im Winterurlaub?

Die Bühnenfassung erleichtert es dem Publikum kaum, solche Essenzen herauszufiltern. Man erfasst aber gut, dass schon hundert Jahre vergeblich am Rätsel des Solaris-Ozeans geforscht wird. Ein Mann, der sich alsbald als Hauptfigur Kris Kelvin erweist, und drei uniforme Schreibtischdamen, die sich erst später als die Inkarnationen seiner verstorbenen Freundin Harey herausstellen, veranschaulichen dies, indem sie Papierberge sichten und sorgsam zusammenlegen, um sie dann gegen eine Wand zu knallen. Ein Running Gag, eine ebenso originelle Idee wie die, Harey dreifach zu besetzen.

Jeder versteht auch sogleich, dass Kris Kelvin der Ankömmling auf der Station ist. Johannes Scheidweiler spielt ihn sehr plausibel als den unbescholtenen neugierigen Studententyp mit langen Haaren, "der reine Tor", wenn man so will. Dieser sympathische, ehrliche Sucher trifft auf die neurotischen Wissenschaftler Snaut und Sartorius, kauzig bis heimtückisch gespielt, erst im wissenschaftlichen Disput lockerer. Teils roboterartig-eckige Bewegungen bedienen auch ein Klischee, sollen aber wohl die depressive, kalte Grundstimmung auf der Station illustrieren.

Staatstheater CottbusSOLARISNach dem Roman von Stanisław LemSzenenfoto mit Johannes Scheidweiler (Kelvin) und Alexandra Weis (Harey)(Foto: Frank Hammerschmidt)Keine Chance für die Liebe: Johannes Scheidweiler und Alexandra Weis auf dem Planeten Solaris © Frank Hammerschmidt

Auch gelungene, anrührende Momente können den zwiespältigen Eindruck nicht ganz korrigieren. Zu ihnen zählen die Begegnungen Kelvins mit der reinkarnierten Harey. Liebe aber hat hier keine Chance. Die Kostüme erinnern eher an Winterurlaub denn an Star Trek. Von solchen Standards sind Musik und Geräuschuntermalung erfreulicherweise weit entfernt, wobei Patrick Schäfer auch die Basswiedergabequalitäten im Cottbuser Jugendstiltheater testet.

Und ewig kreist die Drehbühne

Die bewusste Langsamkeit, ja Statik der Inszenierung fördert die Konzentration im leider nicht vollbesetzten Zuschauerraum nicht gerade, weshalb die Drehbühne eifrig rotieren muss, um Bewegung zu simulieren. Die Vermittlung des äußerst dichten und anspruchsvollen Originaltextes aber überfordert wahrscheinlich jede Bühnenfassung.

Viel wird berichtet, sozusagen als Klammertext erzählt, ohne dass etwas geschieht. Das kennt man auch aus der Klassik, aber die Fülle der Lem'schen Extempores kommt hier als philosophische Vorlesung noch obendrauf. Der Text ist auch nicht von jenen bestehenden oder von Lem genial abgeleiteten Fachbegriffen entfrachtet, in die der Autor so verliebt war. Da muss man durch und kann eben nicht wie im Buch noch einmal eine Seite zurückblättern – oder das Nichtverstandene durch sinnliche Eindrücke kompensieren.

 

Solaris
nach Stanislaw Lem
Bühnenfassung von Blanka Rádóczy und Natalie Baudy
Regie und Bühne: Blanka Rádóczy, Bühne und Kostüme: Marie-Luce Theis, Komposition: Patrick Schäfer.
Mit: Johannes Scheidweiler, Sophie Bock, Marina M. Blanke, Alexandra Weis, Thomas Harms, Amadeus Gollner.
Premiere: 9. April 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-cottbus.de

 
Kritikenrundschau

Der Roman ist für Blanka Rádóczy "Spielmaterial für Gedankenexperimente über die Kraft der Fantasie, die Grenzen des Denkens, die Schaffung einer Welt als Wille und Vorstellung", so Frank Dietschreit im rbb-Kulturradio (11.4.2022). Der "Ozean" werde in experimentelle Töne übersetzt, "wir hören, wie er blubbert, grummelt, krächzt, piepst und dröhnt" und "die Figuren vollführen absurde Bewegungsrituale, als würden sie von Computern ferngesteuert". Man habe aber den Eindruck dass die Spieler "nicht wirklich wissen, worüber sie da eigentlich reden, was das ganze soll". Die herausgehauenen Textbausteine "fallen in ein tiefes schwarzes Loch und zerschellen dort als fernes Echo einer hirnrissigen Theaterbemühung". Fazit: "Keine einzige Figur, die einen interessiert, keine einzige Szene, die einen nicht langweilen würde. Kein Erkenntnisgewinn und kein Unterhaltungswert. Nur ein gähnender Abgrund sinnlosen Geplappers über Original und Fälschung, Wirklichkeit und Wahnsinn."

Die erste Szene ziehe wirklich in den Bann, schreibt Ute Grundmann in der Märkischen Oderzeitung (11.4.2022). "Da ist, im schönen Bühnenbild von Marie-Luce Theis und Blanka Rádóczy, schon viel von Lem drin", die Monotonie einer Maschinenwelt, die alle gleich macht, deren akribische Arbeit aber bedeutungslos, weil niemand sie achtet und schätzt. Doch je mehr sich Blanka Rádóczy auf Lems Inhalte einlasse, desto stärker verfliege der anfängliche Bann. "So dominieren lange Textpassagen ohne Handlung und Handlung ohne Text. Ein Miteinander der Figuren, ob im Streit oder im Konsens, entsteht nur selten."

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