Frei - Theater Bremen
Vorgezeichnete Wege
6. Oktober 2024. Lea Ypi, Professorin an der London School of Economics, in Albanien geboren, hat mit "Frei" eine autobiografische Erzählung über ihre Kindheit veröffentlicht. Idealer Stoff für Armin Petras eigentlich, der seine Inszenierung voll auf die Wende- und Transformationszeit fokussiert.
Von Jens Fischer
6. Oktober 2024. Freiheit ist ein Phantom. Das sehnsüchtig machen kann, Fantasien und Handlungen freisetzt oder Angst schürt. Im Albanien des Romans "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" fühlt sich die Protagonistin frei. Also frei von Feinden, Kritikern und Abweichlern des von Diktator Enver Hodscha installierten Kommunismus stalinistischer Prägung. Ein "Freiluftgefängnis".
Das Denken war dort von entsprechender Propaganda, öffentliches Sprechen durch Parolen geprägt, das Leben von Armut und Mangel gezeichnet. Aber privat ist auch Solidarität und Familie als wohlige Heimat zu erleben. Ähnlich den Erzählungen von der DDR. Infolge der dortigen friedlichen Revolution musste sich das isolierte Albanien ebenfalls für die Freiheit der kapitalistischen Schmeißfliegen öffnen. Eine Zäsur. Mit den bisherigen Gewissheiten zerfällt das unvorbereitete Land. Massenflucht. Also eine wunderbare Analogiemöglichkeit am Theater Bremen für Armin Petras, den Regisseur mit Ostvergangenheit.
Nach dem Zusammenbruch eines politischen Systems
Mit liebevollem Humor und ohne zeigefingernden Abrechnungsgestus blickt Ypi auf ihre Schulzeit in der Hafenstadt Durrës zurück, auf die sich die Bremer Fassung konzentriert, aber auch auf das politische Wende-Chaos und die anschließende Flucht in die Freiheit der universitären Geisteswelt – heute ist sie Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics. In der Bremer Dramatisierung spielt Sofia Iordanskaya die Lea und agiert vornehmlich mit niedlich naiver und niedlich schmolliger Mimik.
Die in der Vorlage mitschwingende politische Analyse aus heutiger Sicht findet kaum Niederschlag. Aber deutlich wird, dass Leas Weg vorgezeichnet war als Privilegierte aus einem Intellektuellenhaushalt. Als Kontrapunkt wird ihr mit Freundin Elona (Cristin König) eine zweite Hauptfigur an die Seite gestellt, also in den Vordergrund gerückt: Sie ist wie die Karikatur eines Mädchens aus dem Arbeitermilieu hergerichtet, klagt über den Alkoholiker-Vater, fühlt sich bei Leas Eltern unsicher, sucht Halt und Anerkennung, lässt dann aber die Schule sausen, schnallt sich einen Glitzergürtel um, zieht Glitzerpumps an und migriert mit ihrem Freund nach Italien, wo sie als Sexarbeiterin unterwegs ist. Damit verschwindet sie aus dem Buch.
Petras aber hat noch eine Telefonszene der beiden Frauen hinzuerfunden, in der die auseinanderdriftenden Lebenswege schmerzhaft deutlich werden. Diese Fokussierung einer Verliererin des Umbruchs als Verweis, wie soziale Herkunft das Leben bestimmen kann, ist ein sehr kluger Eingriff der Regie.
Emotionale Kraft
Weniger klug, dass weitere Episoden nicht aus-, nur angespielt werden. Was für eine emotionale und symbolische Kraft hat Leas Bericht im Buch, als sie mit ihrer eingetrichterten Stalin-Begeisterung vor dessen Statue steht – und entdeckt, dass der Kopf fehlt. Abgeschlagen von Demokratiefreund:innen. Auf der Bühne ist die Begegnung kurz gehalten, dafür hüpfen ausdauernd eine Keksfee und Demonstranten mit Hundemaske sowie roter Fahne durchs Bild, aggressiv herumbrüllend. Indirekte Kritik an den DDR-Montagsdemonstrationen? Oder nur ein alberner Versuch, Leas Kinderperspektive zu illustrieren?
Leider geht es so weiter. Das Buch liefert so detailfreudig wie nuanciert einen Einblick in den albanischen Alltag vor und nach dem Zusammenbruch des politischen Systems, die Eindrücke addieren sich zu einer gesellschaftlichen Collage. Aber schon die Anverwandlung der Rollen wirkt eigenartig distanziert. Was möglich gewesen wäre, zeigen die wenigen Momente, in denen Darsteller:innen aus sich heraus und miteinander ins Spielen kommen ums Bewahren oder Verlieren der Würde ihrer Figuren.
Ansonsten wirken die ästhetischen Mittel recht wahllos eingesetzt. Plötzlich gefriert das Ensemble hinter einer Monologisierenden zum Standbild. Plötzlich sprechen alle im Chor. Plötzlich verfällt Lea in den 2024er-Jugend-Jargon. Plötzlich bekommt ihre Mutter eine schier endlose Schluckaufszene.
All das und noch viel mehr bleibt ohne Folgen – auf Regiegagniveau. Nicht besser wird es bei der Nachricht von Hodschas Tod. Leas Mutter stößt Trauerhaarnetze wie eine Kugel zu den Familienmitgliedern, die in asynchronen Tanzbewegungen zusammensinken, was wohl ein Trauerritual sein soll. Dazu haut jemand auf die Bühnenbildinstallation, ein stilisierter Bunker in Holzoptik. Dazu muss das Publikum wissen, dass in Albanien annähernd 200.000 Bunker zur Landesverteidigung gebaut wurden, Zeichen für die Paranoia, anti-marxistisch-leninistische Invasionen stünden bevor.
Zwischen Freiheitsdiskurs und Kapitalismushass
Lustig immerhin, wenn Waren von jenseits der Grenze wie Fetischobjekte verehrt werden und das Ensemble in exotisierenden Outfits die Folklore-Shows für Touristen verhöhnt. Aber auch das ist viel, viel dicker aufgetragen als in der Vorlage. Klischeehaft wirkt es, wenn sich ihr Personal wie ostalgisch verklärte DDR-Bürger immer wieder herzallerliebst umarmt, also gute Sozialist:innen im totalitären Staat zeigt.
Eher zum Fremdschämen ist die Szene mit dem Staatsfinanzensanierer aus den Niederlanden. Er muss mit einem riesigen Stück Käse auftreten, klemmt sich dieses in stimulierender Absicht zwischen die Beine, hängt sich schließlich einen Schwanz an, und bei tierischem Gehoppel jubiliert er: "Ich bin frei". Neben dieser Art von Freiheitsdiskurs scheint dröhnender Kapitalismushass der zweite Grund der Aufführung zu sein. Dagegen ist wenig zu sagen, wäre nicht die komplex differenzierende Vorlage öde verkürzt worden.
Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte
Uraufführung nach dem Memoir von Lea Ypi
Regie: Armin Petras, Bühne: Peta Schickart, Kostüme: Annette Riedel, Licht: Norman Plathe-Narr, Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Sofia Iordanskaya, Robert Kuchenbuch, Cristin König, Susanne Schrader, Fania Sorel, Alexander Swoboda.
Premiere am 5. Oktober 2024
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, eine Pause
www.theaterbremen.de
Kritikenrundschau
Die Inszenierung selbst biete "viele originelle und stark gespielte Momente", berichtet Christine Gorny auf Radio Bremen zwei (7.10.2024). "Andererseits gerät manches zum Klamauk, was wohl grotesk gemeint ist. Und nach der Pause, also nach dem Fall der sozialistischen Diktatur und dem hektischen Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft, verliert die Inszenierung ihren Fokus." Dann werde es "zu fragmentarisch und trotzdem langatmig".
Die Schauspielerinnen eilten "von einer biografischen Anekdote zur nächsten" und offenbarten "einen gewissen Übereifer bei den wohl notwendigen Kürzungen an der Vorlage", schreibt Jan-Paul Koopmann im Freitag (7.10.2024). Im harmlosen Fall mache das die einzelnen Geschichten "nur etwas unverständlich", schmerzhafter würde es hingegen dort, "wo Ypis so scharfsinniger wie empathischer Blick auf die spätstalinistische Gesellschaft unter die Räder kommt". Auch ein grundlegendes Problem hat der Kritiker in der Inszenierung ausgemacht: "Weil der Theaterabend die Nuancen des Lebens im Stalinismus platt bügelt und sie nur in Gestalt einer Groteske zu denken vermag, bleibt nichts anderes übrig, als den sogenannten freien und eben noch blöderen Westen zu denunzieren." Petras’ Kritik "an der wirtschaftsliberalen Alternative zum Sozialismus" bleibe mithin "so platt, dass sie weder der Sache noch der Vorlage gerecht wird".
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In meinem Buch: "Nemetskaja Dewuschka" ( Deutsches Mädchen - aufwachsen in der Sowjetunion) habe ich über diese Kindheit in der Sowjetunion geschrieben und auch über den langen Weg der Integration in den Westen.