Schlachteplatte mit singendem Herrenschuh

17. März 2023. Dauer-Trouble im Hause Wotan: In Braunschweig erkundet man in dieser Spielzeit Wagners "Ring"-Kosmos. Für die Uraufführung des neuen Stücks von Caren Erdmuth Jeß arrangiert Alexandra Holtsch dessen Figuren zwischen Großkitsch, Feminismus und Klimakrise neu. Ein kleines Stück Wahnsinn.

Von Jan Fischer

"Die Walküren" am Staatstheater Braunschweig © Joseph Ruben Heicks

17. März 2023. Die Adidas-Twins Sieglinde (Saskia Taeger) und Siegmund (Valentin Fruntke) haben Trouble: Sieglinde ist schwanger von ihrem Bruder. Ihr Vater Wotan (Georg Mitterstieler) möchte das Kind am liebsten tot sehen, ihre Halbschwester jedoch, die Walküre Brünnhilde (Lina Witte), will es lieber den anderen Walküren bringen, damit die von ihrem Berg herunter kommen. Also läuft das Geschwisterpaar in seiner Adidas-Kluft (Siegmund in grün, Sieglinde in rot) und mit dem Schwert Nothung im Gepäck vor ihnen davon.

Runter vom Berg

"Die Walküren" ist der dritte Teil der Reihe "Ausweitung des Ringgebiets", mit der das Staatstheater Braunschweig sich in dieser Spielzeit spartenübergreifend an Wagners "Ring des Nibelungen" abarbeitet. Im Oktober gab es "Das Rheingold" und "Siegfried – eine Bewegung", im Juni folgt die "Götterdämmerung". Für "Die Walküren" hat das Theater die Autorin Caren Erdmuth Jeß bauftragt und mit Alexandra Holtsch eine Regisseurin und Musikerin auf den Regiestuhl gebeten. Was dann passiert, ist ein eigenes, kleines Stück Wahnsinn.

Jeß legt in ihrem Text den Fokus auf die Walküren, die auf ihrem Berg in exakt 12.357 Metern Höhe herumsitzen und ihn – bis auf Brünnhilde – nicht verlassen können, aber sehr wohl das Treiben der inzestuösen Bande aus Göttern und Halbgöttern betrachten. Brünnhilde will sie – aus einem Akt schwesterlicher Liebe heraus vielleicht – aus ihrem Bergexil befreien, und dafür braucht sie das Kind der Adidas-Twins. An weiteren Figuren laufen noch Fricka (Saskia Petzold) herum, die eigentlich nur dabei ist, weil sie Bock auf Blut und Gewalt hat, Hunding (Klaus Meininger), Gärtner der Weltenesche, der seine Bienen isst, sie als Waffe einsetzt und Honig schwitzt, sowie Wagners seidener Hausschuh, gesungen vom Bariton Hubert Wild.

Großkitsch und Kakao

Eigentlich legt Jeß aber den Fokus auf den Wagnerschen Irrsinn, den Großkitsch, den sie gnadenlos überhöht und auch ein wenig durch den Kakao zieht – andererseits aber auch auf alles Mögliche andere. Oft brechen aus dem Text feministische Themen hervor, alle Frauenfiguren in der Inszenierung versuchen sich auf irgendeine Art und Weise – und gegen den Widerstand der Männer – unabhängig zu machen. Es geht viel um Gewalt, die überall brach liegende Natur hat sicher was mit der Klimakrise zu tun. Dazu kommt eine veritable Schlachteplatte organisch-schlabberiger Metaphorik und Motivik, von Cervixschleim und Pferdeeingeweiden über parasitäre Fadenwürmern in den Augen des Zwillingspaares bis hin zu psychedelischen Pilzen: Alles ist Brachland, aber durchsetzt vom wild Wuchernden. Und dazwischen geistert eben noch Wagners golden-seidener Hausschuh herum, der mal mit den Walküren singt, mal erklärt, es müsse sich zwar niemand mit Wagner beschäftigen, aber "er hat gutes Selbstmarketing betrieben" und "schon schweinegeile Sachen komponiert". "Ich sage euch eins", sagt er, "arbeitet euch nicht an Wagner ab, arbeitet euch an eurer Rezeption ab."

Besetzung:Regie und Komposition: Alexandra Holtsch; Bühne und Kostüme: Sabine Mader;Musikalische Leitung Orchester: Burkhard Bauche;Musikalische Leitung Chöre: Hubert Wild;Dramaturgie: Katharina Gerschler;Sieglinde: Saskia Taeger;Siegmund: Valentin Fruntke;Hunding: Klaus Meininger;Wotan: Georg Mitterstieler;Fricka: Saskia PetzoldBrünnhilde: Lina Witte; Walküren/Erdmuth: Julius Ferdinand Brauer, Naima Laube; Ana Yoffe;Richard Wagners Seidenhausschuh: Hubert Wild;Ein mystischer Abgrund, sondern Orchester auf Bühnenhöhe © Joseph Ruben Heicks

Irgendwann singt er auch mal den Walkürenritt mit hausschuhlastigem Text. Dazu dann wiedeurm Musik: Mal eingespielte Wagner-Loops in elektronischer Verfremdung, mal kleinere Themen, die von Pauke, Oboe, Fagott, Klavier, Cello und Posaune von der Seite live gespielt werden. Das alles findet vor zwei Kulissen statt, einem Bergpanorama (ein silbriger Vorhang) und eine Kulisse für sonstiges (ein großes Rad, das meist mit einem rötlich glänzenden Stoff bespannt ist).

Fettgefütterte Dekonstruktion

Jeß und Holtsch dekonstruieren Wagner gemeinsam: Die eine als Autorin, die das rohe Gerüst von Wagners "Die Walküre" so lange mit Überhöhungen traktiert, bis das lose Fleisch abplatzt und Neues auf das rohe Skelett gezogen werden kann: neue Themen, neue Ideen, Memes von "Breaking Bad" über Louis de Funès bis zu Eugène Delacroix. Holtsch – die auch für die Komposition verantwortlich ist – macht ähnliches mit der Musik: Da sind immer wieder diese kleinen Erinnerungen an Wagners Musik, aber nur in reduzierten Themen oder versuppt hinter Elektrogedröhn.

Das Ergebnis – und das ist clever und erstaunlich an "Die Walküren" – ist aber ein ähnliches: Hier wird die Geschichte einer Zeitenwende erzählt, eines Umbruches, des Versuchs einer Art neuer Ordnung. Dazu gehört natürlich auch, den Wagner-Mythos ordentlich zu zerlegen, aber das ist eigentlich erst der Anfang: Es ließe sich hier sicher ins Detail gehen: Nothung als Strommast, während Wotan als Waffe eine Benzinpumpe trägt. Hunding, der über die Macht seiner Bienen spricht, die kaputte Natur. Brünnhilde, die von Wotan vergewaltigt wird, die unterdrückten Frauenfiguren. Das und vieles mehr an kleinen und großen Bildern und Referenzen steckt in "Die Walküren", das sich in Braunschweig einerseits als fettgefütterte Dekonstruktion mit aktuellen Themen zeigt, andererseits aber auch: Oft sehr lustig ist.

Die Walküren
von Caren Erdmuth Jeß
Uraufführung
Regie und Komposition: Alexandra Holtsch, Bühne und Kostüme: Sabine Mader, Musikalische Leitung Orchester: Burkhard Bauche, Musikalische Leitung Chöre: Hubert Wild, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Saskia Taeger, Valentin Fruntke, Klaus Meininger, Georg Mitterstieler, Saskia Petzold, Lina Witte Julius Ferdinand Brauer, Naima Laube, Ana Yoffe, Hubert Wild
Premiere am 16. März 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

staatstheater-braunschweig.de

 

Kritikenrundschau

"Respektlos verquirlt" sei diese Überschreibung, schreibt Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (20.3.2023). "Das Erstaunliche an dem Abend ist aber, dass er Spaß macht! Es mag daran liegen, dass die Regisseurin Alexandra Holtsch den skurrilen Ideen der Autorin ebenso skurrile Einfälle beigesellt. Und dass Jeß bei aller wahllos ins Kraut schießenden Rätselhaftigkeit und lose verstreuten Bedeutungsschnipseln manchmal Sprachwitz aufblitzen lässt. Und es liegt an einem komödiantisch kreglen Ensemble – zwischen potenziell mörderischen Charakteren und Karikaturen, zwischen Auftrumpfen und unfreiwillig komischer Vergeblichkeit.“ Der Kritiker resümiert: "Insgesamt ein im Wortsinne fragwürdiges, oft ratlos machendes, aber irgendwie doch auch kurzweilig-knalliges Theatertheater."

Der mythologische Stoff werde stark ins Groteske und Absurde übertragen, schreibt Gerhard Eckels vom Online-Magazin Opernfreund (17.3.2023). Der Kritiker hatte seinen Spaß an einem Abend, der immer verrückt werde. "Das überaus temporeich präsentierte Stück, das Wagners ‚Walküre‘ vergnüglich auf die Schippe nimmt, aber auch überdeutlich kritisiert, wie die Menschheit mit ihrer Erde umgeht, war bei seiner Uraufführung durchweg kurzweilig."

"Auch eine gehörige Portion Jux und Dollerei der eher etwas albernen Sorte gönnt sich diese Phantasie über „Die Walküren", schreibt ein angetaner Michael Laages in der Deutschen Bühne (17.3.2023). Caren Erdmuth Jeß nutze Wagners mythisches Material als eine Art Motiv-Steinbruch. "Wer sich halbwegs auskennt im 'Ring', kommt gut mit. Aber natürlich fügt sie (wie in irgendeinem asozialen Medium) auch eine Art Kommentar-Spalte ein." Mit 'Die Walküren' sei die stets überraschende Autorin Jeß ein starkes Stück weiter gekommen auf dem Weg zum ganz großen Wurf.

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