Schlag's dir aus Kopf und Körper

19. Oktober 2024. Ein hartes, poetisches Buch über die erste Generation türkischer Arbeitsmigrant*innen ist Deniz Utlus Debütroman "Die Ungehaltenen" aus dem Jahr 2014. Schon einmal hat ihn Hakan Savaş Mican auf die Bühne gebracht, 2015 am Maxim Gorki Theater. Nun zeigt er ihn in gemeinsam mit dem Autor in dessen Geburtsstadt Hannover, unter einem neuen Titel. Und mit neuem Zugriff?

Von Frank G. Kurzhals

"Archiv der Sehnsüchte" nach Deniz Utlus Roman "Die Ungehaltenen", von Hakan Savaş Mican inszeniert am Schauspiel Hannover © Katrin Ribbe

19. Oktober 2024. Den Grundkonflikt in der Arbeitsmigration brachte Max Frisch bereits 1965 auf einen kompakten Nenner: "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen." Am Schauspielhaus Hannover bringt der Regisseur Hakan Savaş Mican mit seiner Adaption des Romans "Die Ungehaltenen" von Deniz Utlu nun eine zeitgemäße Perspektive in die Diskussion ein. "Ich glaube, Migration macht einen erst mal krank, die Frage ist, wie man damit umgeht. Sie hinterlässt Spuren und Narben und das übertragen Eltern, ob sie wollen oder nicht, auf ihre Kinder und diese geben sie wieder weiter."

Von Sehnsüchten und Zwängen

Knapp zehn Jahre, nachdem Mican den Debütroman des in Hannover geborenen Utlu erstmals für das Maxim Gorki Theater inszeniert hat, widmet er sich ihm nun erneut, aber unter einem neuen Titel. In Zusammenarbeit mit dem Autor ist aus der Romanvorlage ein "Archiv der Sehnsüchte" geworden. Assoziationsreich ist die Auflistung von Lebenshoffnungen und deren Scheitern, eine Dokumentation von schweren Verletzungen und Narben, die übersehen werden, obwohl sie offensichtlich sind. In Hannover zeigen Mican und das Ensemble einen klassischen Konflikt zwischen den Sehnsüchten des Individuums und den Zwängen der Gesellschaft, am Beispiel von Arbeitsmigranten der ersten Generation aus der Türkei.

Elyas (Cino Djavid), der jobbt, sich in Kreuzberger Kneipen herumtreibt und der Begegnung mit seinem sterbenden Vater ausweicht, steht in der Inszenierung immer wieder gegen die einzeln oder zusammen als Chor auftretende Masse oder Gesellschaft, die fordert und verlangt, dass er Jura bis zum erfolgreichen Examen zu Ende studiert; dass er seinen Onkel versteht, der die Welt, oder zumindest die Türkei, revolutionieren wollte; dass er seinem Vater mehr Empathie entgegenbringt, denn der hat sich, heißt es nach seinem Tod, für den Sohn in einer Autofabrik zu Tode gearbeitet; oder dass er seine Mutter nicht so ignoriert, die sich in seinen Vater verliebte, obwohl sie doch so viel bessere Chancen gehabt hätte. Stella Hilb spielt die so resolut wirkende Mutter immer wieder auch mit leisen Tönen.

Hoffnung um Hoffnung ins Archiv sortiert

Ansonsten geht es in der Inszenierung eher plakativ zu, angereichert mit Humor und Witz, zumindest in der ersten Hälfte der zwei Stunden, in denen Elyas in der Vergangenheit seiner Familie forscht, von den Familien-Mythen genervt ist und sich dann dazu entscheidet, diese ganzen Geschichten in ein fiktives Archiv aufzunehmen. Gespiegelt wird sein Erleben durch die Ärztin Aylin (Yasmin Mowafek), die lustvoll mal schnippisch, mal sensibel auf Anfeindungen durch blöde Biodeutsche regiert. Durch einen Zufall lernt Elyas sie kennen, verliebt sich in sie und folgt ihr nach Istanbul, wo Jahre zuvor ohne ihn seine Mutter den Vater begraben hat.

Archiv der Sehnsuechte 3 CKatrinRibbe u189Auf Abstand: Elyas mit Familie im Bühnenbild von Alissa Kolbusch © Katrin Ribbe

Aber mit dem Befüllen eines Archivs ist das so eine Sache. Es wird auf der Bühne schnell ein wenig langatmig, Wiederholungen bleiben Wiederholungen, auch wenn sie unter einem anderen Buchstaben abgelegt werden. Hoffnung um Hoffnung sortiert Elyas ein: Wie sein Vater und Onkel (beide Figuren werden von Max Landgrebe gespielt) die eigene kleine Welt verändern wollten; wie sie leben und nicht leiden wollten; eine neue Heimat gewinnen oder die alte wiederzuerobern dachten.

Wut auf Welt und Familie

Konsequenterweise ist auch die Bühne zu einem archivarischen Raum geworden. Bühnenbildnerin Alissa Kolbusch hat Generationen von Möbelstücken verteilt, die für die Generationen der Migranten stehen. Elyas' Vater / Onkel arbeiteten bei der Automarke Ford, sie waren sogar bei den ersten wilden Streiks dabei, also wird ein Auto kopfüber langsam von dem Bühnenhimmel abgeseilt, bis die Stoßstange fast den Bühnenboden berührt und Elyas seine Verzweiflung und seinen Zorn über Familie und Welt an der Karosserie mit einem Baseballschläger loswerden kann.

Archiv der Sehnsuechte 4 CKatrinRibbe u501(K)ein versöhnlicher Abschied: Elyas (Cino Djavid) am Grab seines Vaters © Katrin Ribbe

Ein wenig psychedelische Beleuchtung und eine glitzernde Diskokugel, zu Anfang viel Theaternebel und immer wieder Gesang zu eingängiger Musik begleiten die Stationen der Protagonisten Aylin und Elyas zwischen Berlin, Hannover und Istanbul. Für die Station Hannover ist als Hintergrundbild die Fassade des Ihme-Zentrums ausgewählt worden, eine Betonwüste, die mal eine Wohnutopie sein wollte und mittlerweile zu einem Unort geworden ist. Wer das Ihme-Zentrum als Wohnort angibt, hat gesellschaftlich schon verspielt, vermittelt das – so wie Elyas und seine Familie mit dem ursprünglichen Herkunftsort Türkei?

Am Grab seines Vaters, der in seinem Geburtsdorf an der Schwarzmeerküste beerdigt wurde, hält Elyas einen letzten langen Monolog. "Als Kind habe ich manchmal Würmer gegessen. Du hast sie mir aus dem Mund geprügelt, weißt du noch? Jetzt essen die Würmer dich."

Archiv der Sehnsüchte
nach dem Roman "Die Ungehaltenen" von Deniz Utlu
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Miriam Marto, Komposition: Jörg Gollasch, Musikalische Leitung: Lukas Fröhlich, Video: Sebastian Lempe, Dramaturgie: Elvin İlhan.
Mit: Cino Djavid, Yasmin Mowafek, Max Landgrebe, Stella Hilb, Servan Durmaz, Live-Musik Lukas Fröhlich, Almut Lustig.
Premiere am 18. Oktober 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

staatstheater-hannover.de

Kritikenrundschau

"Ein Buch, viel Musik und eine vielschichtige Inszenierung“, die von Cino Djavid „mit seinem nuancenreichen Spiel" getragen werde, sah Stefan Gohlisch für die Hannoversche Allgemeine Zeitung (21.10.2024). "Galliger Humor, gerechter Zorn und echte Traurigkeit fügen sich in pausenlosen zwei Stunden zu einer Erzählung von 70 Jahren Zuwanderungsgeschichte, staatlich gebrochenen Integrationsversprechen und persönlichen Lebensdramen: Haltlosigkeit im Strudel enttäuschter Erwartungen kennt eben nicht nur, wer eine Migrationsgeschichte hat."

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