Corpus Delicti - In Hannover denkt Lars-Ole Walburg Juli Zehs Gesundheits-Dystopie ins Konkrete
Die Zukunft ist so richtig schwarz
von Jan Fischer
Hannover, 15. März 2014. Alle die, die vor dem Theater einen Weißwein oder Rotwein oder Sekt trinken, die Raucher auch, die bis zum zweiten Gong "nochmal kurz vor der Tür" die frische Tabakluft genießen: In Juli Zehs Dystopie "Corpus Delicti" stünden sie sofort vor Gericht. In der schönen, neuen Welt des Jahres 2057, die Zeh beschreibt, ist Gesundheit, der perfekte Körper in einem perfekten Geist oberste Bürgerpflicht. Alkohol und Tabak sind streng verboten. Körperwerte werden regelmäßig staatlich überwacht, Sport ist verordnet, Partner werden nach "immubiologischen" Kriterien ausgewählt. Zehs Stück verfolgt den Prozess von Mia Holl, die an dem System zweifelt und verzweifelt, das ihren Bruder unrechtmäßig verurteilt und in den Selbstmord getrieben hat – und ihr nun nicht einmal Trauer erlaubt. In der perfekten, gesunden Welt ist kein Platz für solche geistigen Unregelmäßigkeiten. Für ihre Trauer wird Mia vor Gericht gestellt und schlussendlich zur Märtyrerin. Rebecca Klingenberg spielt sie in Hannover mitreißend von der grauen systemkonformen Maus bis zum heldenhaften, elektroschockinduzierten Schreikrampf.
"Corpus Delicti" – ursprünglich eine Auftragsarbeit der Autorin für die Ruhrtriennale – ist in den letzten Jahren durch die Theater gereicht worden. Es ist vordergründig ein Stück über Gesundheitswahn und verordnete Fitness, bis zu dem Punkt, an dem der Staat seinen Bürgern das Recht nimmt, sich nach ihrer eigenen Facon zugrunde zu richten. Es ist hintergründig ein Stück über die staatliche Überwachung, Kontrolle und Bevormundung, ein Stück über den Platz des Individuums in einem solchen totalitären Konstrukt, in bester Science-Fiction-Tradition von Orwell bis Demolition Man textlastig in die Zukunft überhöht.
Comichafter Ansatz
Die Inszenierungsideen, die der Text schon provoziert hat, reichten von steril und minimalistisch bis zur Orwell'schen Schreckensvision mit einem gigantischen Überwachungsbullauge auf der Bühne. Der Regisseur und Intendant des Schauspiels Hannover, Lars-Ole Walburg, hat sich für die Übertreibung entschieden: Anfangs dominiert eine gigantische graue Mauer die komplette Bühnenbreite. Der schmierige Journalist Heinrich Kramer lässt sie einstürzen, dahinter kommt eine nicht minder gigantische Leinwand zum Vorschein, auf der permanent Videos gezeigt werden – mal Einspielfilmchen, mal filmen die Figuren sich gegenseitig. Ein nach beiden Seiten offener, sich drehender Zylinder, der Mias Apartment ist, macht den Reigen der großen Bühnenbildteile komplett. Die Überhöhung reicht ins Spiel hinein: Der schmierige Journalist ist so richtig schmierig, die Denunziantinnen sind so richtig nervig, der Staatsanwalt ist so richtig gemein, der Pflichtverteidiger ist so richtig naiv, die Richterin ist so richtig Sauberfrau.
Angesichts der Komplexität des Stoffes und der diskursiven Textwand, die "Corpus Delicti" ist, ist die Überhöhung wahrscheinlich auch eine gute Idee – ohne Lars-Ole Walburgs leicht comichaften Ansatz käme wohl kaum mehr als eine dogmatische Predigt mit eigenartigen Sätzen wie "Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Optimalkörper darstellen soll" dabei heraus. So aber wabert das Stück zwischen Ernst und Komik hin und her und fällt nur in den allzu dozierenden Passagen ein wenig ab.
Publikum im Kameraauge
Lars-Ole Walburg wagt dann tatsächlich noch einen Schritt über Zehs Utopie hinaus – Moritz Holl, Mias zu Unrecht inhaftierter und toter Bruder tritt aus dem Bühnenraum heraus in das angeleuchtete Publikum und spricht es direkt an. "Das ist doch alles schon passiert", sagt er. Zehs Vision über den Idealkörperwahn wird mit der NSA-Affäre und der aktuellen Diskussion über staatliche Überwachung verknüpft. "Werden wir uns fragen, warum wir nichts unternommen haben, als wir noch konnten?", wird Mia später im Stück fragen, während die Kamera das Publikum filmt und das Bild riesig an die Leinwand hinten auf der Bühne projiziert wird.
So steht über dem Abend die Frage, wieviel staatliche Bevormundung eine demokratische Gesellschaft verkraften kann, und wieviel individuelle Freiheit nun eigentlich schon unwiederbringlich verloren ist – jetzt, hier, aktuell, in dieser Gegenwart.
Corpus Delicti
von Juli Zeh
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Nina Gundlach, Musik: Christof Littmann, Video: Andreas Deinert, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Rebecca Klingenberg, Sarah Franke, Lisa Natalie Arnold, Hagen Oechel, Sebastian Schindegger, Sebastian Grünewald, Rainer Frank.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspielhannover.de
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In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (17.3.2014) findet Jutta Rinas, dass Lars-Ole Walburg "viele eindrucksvolle Szenen" gelingen. Zehs Stück sei "philosophisch tiefgründig konstruiert", "eine Art Gedankentheater". Es sei deshalb kein Wunder, dass auch Walburgs Regiearbeit insgesamt einen eher intellektuellen, spröden Charme habe. "Dies ist kein Theater, bei dem man mit den Figuren mitfühlt." Es sei ein Theater, das der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten wolle und dabei durch seine gedanklichen Brechungen, Ironisierungen wirke. "Immer wieder macht Walburg (…) klar: Dieses Theater geht auch uns etwas an – um wenig später jeden Gedanken daran zu zerstreuen, dass Theater könne etwas ändern."
Walburg tue gut daran, Zehs Figuren als Karikaturen zu zeichnen, "wie er generell den moralischen Tonfall der Vorlage immer wieder gekonnt Richtung Farce kippen lässt", schreibt Stefan Göhlisch in der Neuen Presse (17.3.2014). Und: "Walburg hat es mit Brechungen." Was den Rezensenten aber durchaus beeindruckt zu haben scheint: Dass Mia Holl am Ende der Gesellschaft, in der sie lebt, das Vertrauen entzieht, "wird ihr nicht gut bekommen", schreibt Göhlisch und schließt: "Eine solche Gesellschaft wird niemandem gut bekommen. Zeit, dass sich was dreht."
"Was diese Pop-Revue mit unserer gesellschaftlichen Realität zu tun hat, bleibt im Dunkeln", findet hingegen Alexander Kohlmann in der tageszeitung (18.3.2014). Der Programmheftverweis auf Edward Snowdens Enthüllungen "offenbart einen peinlich-undifferenzierten Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und das deutsche Rechtssystem. So wie überhaupt der ganze Abend wirkt wie eine große gesellschaftskritische Attitüde, die sich die Mühe spart, sowohl in der Fiktion im Stück als auch in der Wirklichkeit ins Detail zu gehen, es uns dafür aber mit viel Musik hübsch unterhaltsam macht." Das sei flacher, künstlerischer Mainstream.
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Genau, es wabert.
Bloß nicht festlegen, immer alles in der Schwebe halten.
Da schaut man sich dann das behauptete Theater Theater an und fragt sich am Ende des Abends, müde von den Audiokommentaren der Regie, die man im Ohr zu haben glaubt, gar nichts mehr.
Entsprechend erschöpft auch der Anfangsapplaus.