Das kunstseidene Mädchen - Schauspiel Hannover
Angst in den Knien
22. September 2024. Irmgard Keuns berühmter Großstadtroman über eine junge Frau im Dickicht der Moderne erschien 1932. Mit der Bildmacht, die eines ihrer Markenzeichen ist, hat die Regisseurin Luise Voigt den Stoff jetzt auf die Bühne gebracht.
Von Katrin Ullmann
22. September 2024. Falsche Wimpern, Kurzponys und Wasserwelle. Sauber, glatt und raffiniert. Dieser Abend ist vor allem auch einer der Maskenbildnerinnen. Anorte Brillowski und Cornelia Léon-Viallgrá seien hier deshalb gleich zu Beginn genannt. Sie verantworten an diesem Abend im Schauspielhaus Hannover die unfassbar perfekte, sehr präsente Maske.
Denn über weite Teile der Inszenierung sind die vier Schauspielerinnen Florence Adjidome, Tabitha Frehner, Amelle Schwerk und Moné Sharifi großformatig und in Nahaufnahme zu sehen. Sind Filmdiven aus einem Schwarzweißstreifen der dreißiger Jahre, sind Live-Projektionen auf einer portalfüllenden Gaze. Und doch ist es eine Theaterinszenierung, und zwar eine von Luise Voigt, die "Das kunstseidene Mädchen" auf die Bühne bringt. Einen Roman von Irmgard Keun.
Nacktes Überleben
Er erschien 1932 und spielt Ende der Weimarer Republik. Für Keun (1905–1982) wird er ein großer Erfolg. Die Protagonistin ist Doris, eine junge Frau, tätig als Schreibkraft in einer namenlosen, mittelgroßen Stadt. Sie wird, als sie sich einem #metoo-Übergriff ihres Chefs verweigert, fristlos entlassen und versucht ihr Glück beim Theater. Nach so einigen Lügen, Intrigen und dem Diebstahl eines Eichhörnchenpelzes muss sie fliehen und geht nach Berlin. Dort kommt sie immer mal temporär unter, macht unterschiedliche Männerbekanntschaften, von denen sie sich unterschiedlich lange aushalten lässt. Zu sagen, Doris sei fasziniert von Berlin, wäre ein öder Euphemismus. Im Text von Irmgard Keun klingt das so: "Berlin ist mir ein Ostern, das auf Weihnachten fällt, wo alles voll schillerndem Betrieb ist." Oder so: "Ich liebe Berlin mit einer Angst in den Knien". Hier also will Doris selbständig sein, berühmt und vor allem "ein Glanz" werden. Hier ist sie sexy, naiv und ironisch, staunend und vollkommen unpolitisch. Lange geht das nicht gut und so dreht sich bei ihr bald alles nur noch ums nackte Überleben.
Jazz, Hosenröcke und Zigarettenspitzen
In Luise Voigts Fassung und Inszenierung spielen gleich vier überzeugende Schauspielerinnen jene selbstbewusste und eigenwillige junge Frau. Mit wechselnden, sich ergänzenden Textpassagen verkörpern sie dann vier Biografien und sind doch gemeinsam eine. Sind jeweils eine unter vielen, sind role models ihrer Zeit, genauer von 1931/32. Dort siedelt Voigt den Abend auch ästhetisch an. Zu den falschen Wimpern, Kurzponys und Wasserwellen – siehe oben – kommen Schuten-Hüte und Zigarettenspitzen, kommen Hosenröcke und jede Menge treibende jazzige Sounds. Letztere sind komponiert von Friederike Bernhardt und werden perfekt performt von den drei Live-Musikerinnen Damian Dalla Torre (Tenorsaxophon), Tobias Hechler (Countertenor) und Igor Krizman (Akkordeon).
Beständig begleitet von zwei Live-Kameras sprechen und tanzen die Darstellerinnen, wackeln mit den Hüften, säuseln mit ihren Stimmen und klappern mit den Augenlidern. Behände bewegen sie sich über die drei Etagen eines schief gebauten, düsteren Stahlkonstrukts, das von Industrialisierung und Eisenhunger erzählt (Bühne & Kostüme: Maria Strauch) und damit natürlich auch von der Großstadt. Fast gehetzt rauschen sie durch den Text, flirren durch die sich überschlagenden Ereignisse. Wer jetzt gerade wen verlässt, betrügt oder liebt, geht da schon mal im Tanzrausch verloren. Nur weniges von Keuns prägnanter, eigenwilliger Sprache verfängt. Die Figur des kunstseidenen Mädchens als selbstbestimmter junger Frau bleibt Fassade.
Expressionistischer Schwarzweißfilm
Meist zielt die Spielrichtung in Richtung Live-Kamera. Höchst kunstvoll zaubern diese dann fein komponierte Schwarzweißcollagen auf die Gaze, manchmal zusätzlich überlagert von historischen Bildern: Zirkus und Varieté, Straßenzüge und Menschenmassen, Lichtreklamen, Eisenbahnen und ein Feuerwerk (Video: Stefan Bischoff). Bildästhetisch entsteht ein so eindrucksvolles Werk, dass man auch in den wenigen Momenten, in denen die Darstellerinnen vorn an der Rampe agieren, sie in Schwarzweiß wahrzunehmen glaubt. Es ist eine starke ästhetische Setzung, für die sich Luise Voigt in ihrer Inszenierung entschieden hat. Sie ist sauber, glatt und raffiniert, bestechend, oft verblüffend und technisch versiert. Sie generiert aber auch einen Abend, der visuell fordert und doch wenig berührt; ein Abend, der einen expressionistischen Schwarzweißfilm im Theater erzählt.
Das kunstseidene Mädchen
nach dem Roman von Irmgard Keun
Regie: Luise Voigt, Bühne und Kostüme: Maria Strauch, Musik: Friederike Bernhardt, Video: Stefan Bischoff, Choreografie: Minako Seki, Dramaturgie: Vanessa Hartmann.
Mit: Florence Adjidome, Tabitha Frehner, Moné Sharifi, Amelle Schwerk, Live-Kamera: Miranda Avalos Jaime, Anna-Sophia Leist, Live-Musiker: Damian Dalla Torre, Tobias Hechler, Igor Krizman
Premiere am 21. September 2024
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-hannover.de
Kritikenrundschau
Luise Voigt mache vieles anders. "Und alles richtig", schreibt Stefan Arndt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (23.9.2024) und schwärmt von einer "spektakulären Bühnenversion" des Romans von Irmgard Keun. "Die Inszenierung ist ein ästhetischer Gegenentwurf zum leichtgängig-volkstümlichen Ton des Romans." Durch das Tempo und die Gleichzeitigkeit der Ereignisse gleiche der Roman im Theater einer Partitur, in der viele Stimmen übereinander organisiert sind, schreibt Arndt und zeigt sich auch beeindruckt vom Ende in einem "Ewigkeitsmoment zwischen der lädierten Vergangenheit und einer Zukunft, die hoffnungsfroh erscheint trotz allem".
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Was sind das nur für Stücke, in denen ein Gespräch über Maske und Kostüm schon fast ein Vergnügen ist, weil es ein Schweigen über so viele Ungereimtheiten ermöglicht.
Die verzweifelten Sehnsucht von Doris, nach einem gelingenden, glitzernden Leben im Rampenlicht. Nach Bedeutung. Ihr Scheitern an den Umständen, aber eben auch an der Leere dieses Traums. Dieser Flucht. Das Alles kann durch eine Abbildung eben dieser Oberfläche nicht gegriffen, begriffen werden. Und so bleibt der Abend leer und Behauptung. Und geht sich selbst auf den oberflächlichen Leim.
P.S.: Noch eine Anmerkung: Man hätte den Stoff auch einfach ganz konventionell „runterinszenieren“ können; er ist Abiturstoff und die Vorstellungen werden bald von Oberstufenkursen gechartert. Insofern bin ich dankbar für den Mut, hier mal eine Inszenierung auf die Bühne zu stellen, die ästhetisch herausfordert. Und dabei den Beteiligten auch sichtbar Spaß macht.