Gewissensbissig am Familienabgrund

6. Mai 2023. Eine Zufallsgemeinschaft, durch den Unfalltod eines Jungen verbunden, zusammengerauft auf Zeit: Dieses Häuflein Sinn und Vergebung Suchender versammelt Dea Loher in "Das letzte Feuer", für das sie 2008 den Mülheimer Dramatikpreis erhielt. Anja Behrens inszeniert in Hannover ein geradezu modellhaftes gesellschaftliches Schuldpanorama.

Von Jens Fischer

"Das letzte Feuer" von Dea Loher in Anja Behrens' Regie am Staatsschauspiel Hannover @ Kerstin Schomburg

6. Mai 2023. Das wird angemessen ungemütlich. Schließlich geht es um Existenzielles, verhandelt in einem urbanen Irgendwo, heute. Nicht weniger als von Schicksal und Erlösung erzählen will die poetisch-lakonische Prosa Dea Lohers. Ein sinnfälliger Spielort für die Verlorenheit in den Wirren der Welt ist die kahle Bühne, die Christian Albrechtsen für Anja Behrens' Inszenierung am Schauspiel Hannover errichtet hat. Sie bietet reichlich Platz für kleine Geschichten großer Gefühle sowie all die gewissensbissigen Auseinandersetzungsqualen bei Schuld- und Sinnfragen.

In schuldhafte Verstrickungen getrieben

Zusammengerauft auf Zeit, wie es in Lohers Stück "Das letzte Feuer" heißt, schreiten acht in sich gekehrte Wesen an die Rampe. Ein Todesfall hat die kaschierten Bruchstellen ihres unerfüllten Lebens bloßgelegt und sie aus der Banalität des Alltags in schuldhafte Verstrickungen katalysiert, die es in gemeinsamer Rückschau aufzuklären und in Richtung Sühnemöglichkeiten zu analysieren gilt. Wobei auch mal zusammen gesungen, meist aber leise weinend individuell, nie chorisch gesprochen wird. Das Oktett kämpft schließlich nicht kollektiv gegen die äußere Leere, sondern erkundet vielstimmig miteinander die innere Leere.

Die anfangs klinisch blaue Lichtstimmung wird daher schnell ins Graue heruntergedimmt. Das Geschehen aber mit geheimnisumwitternden oder unheilverkündenden Sounds aufgepumpt. Regisseurin Anja Behrens zeigt zwar wenig Gespür für den Humor des ernsten Textes, entwickelt aber geradezu modellhaft das Schuldpanorama einer Gesellschaft der Vereinzelten und lässt dabei mit schöner Selbstverständlichkeit die Figuren lebendig werden. Als Verirrte, Suchende, sich erneut Verlierende.

Nur kurzfristig besänftigende Wirkungen

Da trumpft gleich mal die von Terrorpanik adrenalisierte Polizistin Edna (Alrun Hofert) auf. Berichtet wird von ihrer Autoverfolgung eins möglichen Attentäters. Aber es handelt sich nur um den vollgekoksten Olaf (Max Koch), der einen ungefragt ausgeborgten PKW zu Schrott fährt, während Edna einen auf die Straße rennenden Jungen überfährt. Die beiden wie auch Augenzeuge Rabe (Hajo Tuschy), Autobesitzerin Karoline (Miriam Maertens) und die Eltern des achtjährigen Edgar sind es nicht, fühlen sich aber mitverantwortlich für den Tod. Entsprechende Bekenntnisse und Zuweisungen wechseln einander ab. Der Umgang damit erscheint höchst unterschiedlich.

Feuer2 Kerstin Schomburg uLohers Schuldverstrickte: Miriam Maertens, Birte Leest, Fabian Dott, Alrun Hofert, Max Landgrebe, Verena Reichhardt © Kerstin Schomburg

Olaf verstummt und verharrt den Rest der Aufführung am dunklen Bühnenrand. In tränenfeuchter Trauer zerbricht die Ehe von Edgars Eltern, Susanne und Ludwig Schraube (Birte Leest und Max Landgrebe). Die demente Großmutter Rosemarie fragt beide täglich nach dem Verbleib des Enkels, so dass kein Verdrängungs- oder Verarbeitungsmechanismus greifen kann. Schließlich wird sie von ihrem Sohn in einer tragischen Vermischung von Liebe und Gewalt ertränkt. Bis dahin gestaltet Verena Reichardt die hilflose Suche Rosmaries nach Erinnerung zur Welt- und Selbstkonstruktion berührend authentisch mit kurzen, sie selbst erschütternden hellen Momenten und ständig weggelächelten Gedächtnisstörungen.

Der aus einem Krieg traumatisiert zurückgekehrte Rabe versucht den Schmerz, dem Unfall nur zugeschaut und nicht verhindernd eingegriffen zu haben, mit dem Schmerz zu betäuben, seine Fingernägel bis auf die Knochen abzufeilen. Später freundet er sich mit Susanne (Birte Leest) an. Zuneigung und Nähe haben für die beiden allerdings nur kurzfristig balsamische Wirkung.

Eiskalt suizidale Stimmung

So düster die Situationen, so ästhetisch apart sehen sie aus. Die Regie arrangiert das Personal stets sehr hübsch im Raum und lässt es in wechselnden Koalitionen zuschauen, wenn ein, zwei oder drei Schauspieler aus der Gruppe heraustreten und für entscheidende Momente der Geschichte ihr Innerstes nach außen kehren. Jeder will jemand anders sein als er ist oder einfach für immer verschwinden – klammert sich aber immer wieder in höchst physischen Interaktionen an einen Leidensgenossen. Edna springt in haltloser Einsamkeit Olafs Freund Peter (Fabian Dott) an und fast um. Wenn Ludwig lustvoll an die Brust seiner Geliebten Karoline fasst, rinnt Blut durch seine Finger, um auf ihre Mastektomie zu verweisen. Allein gelassen monologisiert Ludwig, sich manisch selbst umarmend. Irgendwann versammeln sich alle um eine Badewanne und versuchen ihre Schuld abzuwaschen. Solche Übersetzungen von Emotionen in szenische Aktionen wirken grell bis plump.

Feuer3 Kerstin Schomburg uMax Koch und Alrun Hofert © Kerstin Schomburg

Final kippt die Inszenierung ins opernhafte Pathos. Völlig verzweifelt ist die Seelenlage und Sehnsüchte richten sich auf das Glück reanimierter Normalität oder lieber gleich den Selbstmord. Da zeigt die Regie Mitgefühl, lässt Gott nicht länger tatenlos zusehen, sondern goldene Lianen herabschweben, gefolgt von einem Kletterfelsen: zwei Pfade gen Himmel. Die aber niemand nutzt. Vielmehr wird beschrieben, wie sich Rabe, rasend vor Selbsthass und Verunsicherung, mit Benzin übergießt und anzündet: das letzte Feuer der Versehrten. Zu sehen ist es nicht, kitschig grellrot erglüht die Szenerie.

Dea Lohers komplex gesponnener Text ist weiterhin so überzeugend, wie es die Erinnerung an die Uraufführung 2008 am Thalia Theater nahelegt. Anja Behrens setzt auf die eiskalt suizidale Stimmung, findet aber in der Bildsprache und inhaltlichen Auseinandersetzung keine anregend neuen Ansätze. Das Ensemble zeigt jedoch mehrfach in der vehement trostlosen Erzählung, was in diesen groß gedachten und tief verletzten Wesen an wundersam Zärtlichem und punktuell Hoffnungsvollem steckt. Ein unangemessen disparater Abend also.

Das letzte Feuer
Von Dea Loher
Regie: Anja Behrens, Bühne und Kostüme: Christian Albrechtsen, Musik: Emil Assing Høyer, Dramaturgie: Friederike Schubert.
Mit Fabian Dott, Alrun Hofert, Max Koch, Max Landgrebe, Birte Leest, Miriam Maertens, Verena Reichhardt und Hajo Tuschy.
Premiere am 5. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de


Kritikenrundschau

"In Hannover sollte das Stück ursprünglich schon in der Spielzeit 2020/2021 gezeigt werden und musste wegen der Pandemie verschoben werden. Es ist wie eine Fügung: Trauer. Isolierung und unverarbeitetes Leid sind noch einmal ganz nahe gerückt", schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (8.5.2023). "Mag sein, dass deswegen das Ensemble durchweg eine grandiose Vorstellung hinlegt. Es ist persönlich, und das ist es auch fürs Publikum." "Dieser Theaterabend ist eine einzige Meditation über den Schmerz, mit teils tödlichem Ausgang und keinem Platz für Erlösung. Und doch hat er etwas seltsam Therapeutisches."

"Einen starken Regiezugriff" bescheinigt Anja Behrens Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (8.5.2023). "Organisch geht in dieser Inszenierung alles ineinander über. Die Regisseurin präsentiert ein Wortkunstwerk in einer besonderen Sprache, aber gleichzeitig eine berührende Geschichte von Menschen, die leiden." Das Ensemble sei "grandios. Die Schauspielerinnen und Schauspieler präsentieren die Spielarten des Leides, von denen die Autorin vielleicht etwas zu reichlich aufgeschichtet hat, ganz nachvollziehbar, ganz organisch, ganz uneitel." "'Das letzte Feuer' ist eine Zumutung", so Ronald Meyer-Arlt. "Aber eine großartige."

 

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