Wir sind nach dem Sturm - Staatstheater Hannover
Im Dunkel der Textgrube
20. November 2022. Von A wie Atom bis Z wie Zettelkasten: Es geht praktisch um alles in Kevin Rittbergers neuem Stück, das sich tief ins Bergwerk der individuellen und kollektiven Traumata gräbt. Marie Bues inszeniert den Text-Balrog als wilde Fahrt mit hohem Tempo.
Von Jan Fischer
20. November 2022. Der Erfinder des Drahtseils, so lernt das Publikum in Hannover gleich zu Beginn, erfand das Seil im Harz und hatte viele Vornamen: Wilhelm August Julius Albert hieß der Herr. Das war keine triviale Erfindung: Das Drahtseil war haltbarer als die damals üblichen Hanfseile, der Bergbau wurde signifikant sicherer.
Das ist relevant für "Wir sind nach dem Sturm", geschrieben von Kevin Rittberger, inszeniert von Marie Bues, weil der Abstieg ins Innere – der Erde, der Psyche, beides – ein zentrales Motiv des Stückes ist. Ein steinernes Hexagon mit nach innen abfallenden Kanten bildet die Bühne, wenn man so will also: ein Loch in der Erde. Immer wieder gibt es Projektionen der Fahrt durch einen Tunnel zu sehen. Direkt zu Beginn erzählt eine von Alrun Hofert gespielte Figur, die im Programmheft nur als "Ich" bezeichnet wird, aber wohl ein Atom sein soll, von der Formung der Welt, von der Kontinentaldrift, von den Dinosauriern und der Ruhe unter der Erde und der Schönheit darüber: Das Atom kommt rum, mal ist es Teil einer Eichel, mal Teil eines Gehirns, mal Teil von etwas Müll, mal ein Stück Stein.
Sprungbrett in die Tiefe
Dazwischen gibt es – episodisch lose verknüpft – ein paar Geschichten zu sehen. Die einer Psychologin, die einen Mann behandelt, der versucht, seine Vergewaltigung zu verarbeiten. Ein alter und ein junger Aktivist im Generationenkonflikt. Ein Schauspieler, der in die Therapeutin verliebt ist, sie aber nicht in ihn. Eine Frau, die sich gegen die Strahlung und überhaupt den Rest der Welt in einem selbst gebauten Bunker vergraben möchte. Alles das – und noch mehr – ist dem Text allerdings nur Absprungbrett in die Tiefe.
Diese Reise in die Tiefen des Bergbaus und die der Psyche ist vor allen Dingen eine, die in die Tiefe von Rittbergers Zettelkasten führt, in dem aus Kapitalismus, Kolonialismus, Patriarchat, Generationenkonflikten, Holocaust, der Frage, wie sich Machtstreben und Gewalt überhaupt aus den Menschen bekommen lässt und ähnlichen gesellschaftlichen Wunden und Narben ein Diskursmonster wächst, das seine Wurzeln tief in den Untergrund schlägt und seine Tentakel aufmerksamkeitsheischend in die Höhe streckt. Zwar sind die einzelnen Geschichten lose verknüpft, zwar gibt es immer mal wieder ein kleines Licht im Dunkel der Textgrube: Mal in Form von Live-Musik und Gesang von Johannes Frick, mal als Witz oder faszinierend schimmernder Diamant von Satz wie: "Die Frage: Was ist Aufklärung? Wir müssen sie den Pilzen stellen". Mal als bekanntes Motiv wie das Drahtseil oder ein Stück Bergmannsprache, mal als motivische Verknüpfung, die irgendwas mit Erde und Stein zu tun hat. Rittbergers Text will viel, und er schert sich nicht darum, dass so viel eigentlich nicht geht. Jedenfalls rast er wild durch die Tunnel atemloser Dringlichkeit dahin.
Wilde Fahrt zum Zeigefinger
Rittbergers Text-Balrog von tief unter den Bergen der kollektiven und individuellen Traumata wird, man ahnt es, von Darstellern gesprochen – neben Hofert und Frick spielen auch Lukas Holzhausen, Irene Kugler, Birte Leest und Nicholas Matthews. Sie alle haben wunderbar eklig-zerfressene, unangenehm organisch-hautartige Oberteile bekommen, schreien mal, lachen, spielen oder spielen auch mal, dass sie spielen, wechseln ihre Rollen, Holzhausen liefert einen wütenden Monolog ab, der sogar spontanen Applaus bekommt. Allein, dem Text lässt sich im Dialog nicht ganz so gut beikommen, auch wenn hier und da mal so etwas wie eine Figur durchscheint: Es geht hier eher darum, Archetypen gegeneinander zu setzen, am meisten Persönlichkeit hat da noch das Atom abbekommen.
Allerdings macht es auch Spaß, Rittberger beim Denken zuzuhören, es macht Spaß, die Kostüme anzuschauen, die Hexagon-Stein-Bühne von Shahrzad Rahmani sieht cool aus und wird am Ende noch mit Schwarzlicht beleuchtet, so dass glühende Risse sichtbar werden, davor öffnet sie sich noch einmal nach hinten in eine Spiegelflucht hinein, Stück für Stück bekommt die Inszenierung durch die fortlaufenden Geschichten – voneinander getrennt durch die Geschichte des Atoms – auch einen Rhythmus, eine Struktur, beides erleichtert erst die wilde Fahrt, und dann macht das Tempo Spaß.
Reise ins Innere der Werte
Am Ende aber wird diese Reise ins Innere der Werte rasant ausgebremst, denn dann kommt die Moral: Man trinkt gemeinsam Schnaps und: "Wir sind nach dem Sturm Wir streicheln uns wie 1000 Geschlechter", heißt es da. Nichts gegen eine Utopie mit Schnaps und streicheln und mehr Innerlichkeit. Nichts gegen die Frage, ob die Menschen denn nun wirklich alle diese Maschinen benutzen müssen, sie die haben. Ob es nicht anders, einfacher, besser, entspannter, nachhaltiger, emphatischer geht. Denn das ist, wo alle diese sorgsam gespannten Gedankententakel am Ende hinführen, und dann geht nur noch der Appell an Mutter Erde: "Rüttle mich wach. Halte mich davon ab zu schlafen. Ich werde hören." Und das ist am Ende doch nur: Ein ärgerlicher Zeigefinger, der sich aus dem rasanten Wust erhebt.
Wir sind nach dem Sturm
von Kevin Rittberger
Uraufführung
Regie: Marie Bues, Bühne: Shahrzad Rahmani, Kostüme: Moran Sanderovich, Video: Camille Lacadee, Dramaturgie: Michael Letmathe.
Mit: Alrun Hofert, Lukas Holzhausen, Irene Kugler, Birte Leest, Nicolas Matthews, Live-Musik: Johannes Frick.
Premiere am 19. November 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.staatstheater-hannover.de
Kritikenrundschau
Als eine "kühne, ziemlich großartige Konstruktion" beschreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (21.11.2022) das Stück. "Es ist der richtige und wichtige Versuch etwas, das anders erzählt werden muss, anders zu erzählen." Es sei sein starker Versuch, die Welt im Zusammenbruch mit den Mitteln des Theaters zu beschreiben. Marie Bues bringe all die Geschichten ganz unangestrengt auf die Spielfläche. Lediglich das Kostümbild kommt bei dem Kritiker nicht gut weg.
"Macht und Männlichkeit stehen auf dem Prüfstand – einmal mehr. Darunter macht es das zeitgenössische Theater nicht", bemerkt Stefan Gohlisch von der Neuen Presse (21.11.2022). Handwerklich sei das in allen Gewerken großartig gemacht, erdacht und gespielt. "Es fühlt sich nur an wie Arbeit. Gedankenarbeit, haltlos, ein Abend wie ein einziges Fragezeichen."
"All das ist eine ziemlich wilde Kollage", findet Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (21.11.2022); "sie versucht, Sittenbild einer Zivilisation zu sein, in der der Mensch sich selbst zwischen Machtgelüsten, Umweltkatastrophen und spirituellen Hoffnungen völlig verloren hat." Kevin Rittbergers "Zettelkasten" halte "noch vieles andere bereit". Regisseurin Marie Bues dürfe man hingegen "zugute halten, dass sie das alles irgendwie in eine groteske Optik einbindet", so der Kritiker, der die "letztlich ins Religiöse zielende Auflösung" des Abends "etwas zu billig für eine so weit ausgreifende Frage nach dem Stoff, aus dem die Menschen sind", findet.
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Im letzten Teil der Inszenierung wird mindestens ein Dutzend Mal der Titel des Stückes genannt. Man kennt dieses Verfahren etwa aus der Werbung der oben erwähnten Firma.
Aber warum erscheint es bei einer Inszenierung notwendig zu sein, den Titel – und damit das Thema?, das Anliegen?, den gedanklichen Fluchtpunkt? so plakativ zu betonen?
Könnte es sein, dass im Laufe der Aufführung das Konzept der Inszenierung doch nicht so klar wird?
Kevin Rittbergers Textmaterial wird von den Schauspielerinnen und Schauspielern immer aktiv angegangen, besonders intensiv dort, wo es um Drama, Handlung, Spiel geht. In der Prüfungsszene (Birthe Leest und Irene Kugler) und in den Therapiesitzungen (Birthe Leest und Lukas Haushausen) wird ausdrucksstark gespielt, wird der Text zum Leben erweckt, die Schauspielerinnen und Schauspieler brillieren mit ihren darstellerischen Fähigkeiten in Sprache, Mimik, Gestik, Körper.
Andere Passagen aber, so hat es der Autor wohl vorgesehen, verbleiben stark im Gestus eines vorgetragenen Essays. Sie sind reine Prosa. Durchaus interessante und anregende Gedanken werden formuliert – aber Rittberger gestaltet die Texte kaum rhetorisch, und er hat hier auch nicht zu einer besonderen poetisch ausgeformten Sprache für die Bühne gefunden.
Es stellt sich für mich die Frage, warum die Möglichkeiten, die das Theater bietet, um Gedanken zum Leben zu erwecken, hier so wenig genutzt werden.
Es werden historische Orte angespielt: Wilhelm Alberts Entwicklung des Drahtseils oder die Auseinandersetzung um das letzte noch existierende monumentale Bronzedenkmal eines deutschen Kolonialoffiziers. Mehr als 3 Meter hoch ist die Statue Hermann [nicht Heinrich] von Wissmanns in Bad Lauterberg. Seil und Statue werden an einer Stelle verknüpft, aber diese handlungsstarken Momente hätten noch stärker als Ausgangspunkte genommen werden können, um daraus Formen der Gewalt und deren Einschreibung in die Psyche der Figuren zu vertiefen und so den gedanklichen Fluchtpunkt aus dem Spiel heraus zu verdeutlichen. Die eindrucksvollen „Kostüme“, die verwundeten, aufgerissenen, vielleicht auch schon dem Verfall ausgesetzten Oberkörper der Darstellerinnen und Darsteller bieten dafür bereits viel „Anschauungsmaterial“.
Neben den menschlichen Figuren hat Rittberger ein begleitendes, aber auch kontrastives Ich (Alrun Hofert) entworfen, das, ausgehend von an-organischer Materie als Atom?, als Virus? im Laufe der Erdgeschichte von Pflanzen, Tieren, Menschen aufgenommen und wieder ausgeschieden wird. Als Symbol dessen, dass es für unseren Planeten nicht wirklich wichtig ist, was die Gattung des so genannten Homo Sapiens alles anstellt. Ein starkes, nachdenklich stimmendes Bild, ausgestaltet von einer überzeugenden Schauspielerin.