Die Eine von der Tankstelle

19. Mai 2023. Amerika liegt in Mittelsachsen, Judy Garland jobbt an der Tanke, und eine junge Frau wird nicht nur von der Polizei durch verdörrende Landschaften verfolgt: Svenja Viola Bungartens Eastern war schon in der Grazer Uraufführung durch Anita Vulesica ein gegenwartsdramatischer Erfolg. Robert Gerloff inszeniert ihn jetzt als süßes Gift.

Von Falk Schreiber

"Garland" in der Regie von Robert Gerloff am Oldenburgischen Staatstheater © Stephan Walzl

19. Mai 2023. Lyman Frank Baums poetisches Kinderbuch "Der Zauberer von Oz" beginnt in einem recht prosaischen Setting: in Kansas, im mittleren Westen. Kansas ist eine despektierlich "Flyover-State" genannte Region, eine strukturell stockkonservative Gegend, arm, regelmäßig heimgesucht von Naturkatastrophen, bitterer Kälte im Winter, sengender Hitze im Sommer, ganzjährig starken Stürmen. In Svenja Viola Bungartens "Garland" ist die deutsche Entsprechung von Kansas Sachsen, genauer: die Siedlung Amerika bei Penig im Landkreis Mittelsachsen. Ja, das klingt ausgedacht, aber doch, wenn man "Garland" genauer liest, dann ist das plötzlich alles stimmig. Also: Robert Gerloff inszeniert den Stoff am Staatstheater Oldenburg, und mit einem Schlag sind wir in Amerika, das heißt, in Mittelsachsen.

Die Gesetze des Starsystems

Victor Flemings 1939 veröffentlichtes Filmmusical nach Baums Kinderbuch legte den Grundstein für die Karriere von Judy Garland, einer der größten Hollywood-Diven. Und diese Judy Garland hat es bei Bungarten nach Sachsen verschlagen, wo sie ihre Tochter Lorna Luft sucht, die sie einst ins Kinderheim gegeben hatte – die Gesetze des Starsystems, mit einem Kind ging das nicht, da muss man Verständnis für haben. Jedenfalls: Garland arbeitet in einer Tankstelle an der Bundesstraße, während eine Hitzewelle die Region heimsucht (und dass man dieses Land auch als "gar", also als ordentlich durchgekocht verstehen kann, ist eine böse Doppeldeutigkeit in Bungartens immer mehrfach codiertem Stoff).

Garland 2 Stephan WalzlBegegnung an der Tankstelle: Caroline Nagel als Judy Garland und Hagen Bähr als Polizist Gus © Stephan Walzl

Die Felder verdorren, die Bauern verlieren ihre Lebensgrundlage, die junge Dorothee Sturm zieht die Katastrophen magisch an, und Lorna Luft ist Moderatorin bei einem entsetzlich schlechten Hitradio namens "Radio Garland". Zudem ziehen auch noch zwei ungleiche Brüder durch die Kulisse, ein Polizist und Filmregisseur, auf der Suche nach der flüchtigen Sturm. Mit anderen Worten: ganz großer Pulp in Zeiten von Klimakatastrophe und Wirtschaftskrise, aber immerhin mit Bewusstsein für die Filmgeschichte.

Zitatspiel in Splitscreen-Ästhetik

Und genauso inszeniert Gerloff "Garland" dann auch: als Zitatspiel, das mal Western ist, mal Backwoods-Horror, mal tragische Geschwisterkonkurrenz und mal Late Night Radio Show. Die Szenen trennt er durch Freezes und Blacks voneinander ab, die Bühne (Maximilian Lindner) zitiert mit verschiedenen Spielkabinetten eine Splitscreen-Ästhetik, und wenn die Handlung sich in ihren postmodernen Windungen zu verheddern droht, dann knallt Lorna Luft (Anna Seeberger) einen Jingle rein und fasst nochmal zusammen, was Sache ist. Apropos Jingles: Man hatte schon fast vergessen, was für ein Nervpotenzial das Gitarrenriff aus Midnight Oils "Beds Are Burning" hat. Aber keine Sorge: "Radio Garland" ruft es einem wieder in Erinnerung. Mehrfach.

Garland 4 Stephan WalzlGreat Depression in Mittelsachsen: Hagen Bähr als Polizist Gus und Rebecca Seidel als Dorothee Sturm © Stephan Walzl

Die Inszenierung hat Drive, die Vorlage ist raffiniert, und dass für das Ensemble wenig mehr zu tun bleibt als fröhliches Chargieren, wird mit großer Spiellust wettgemacht. Rebecca Seidel gibt so eine an ihrer zerstörerischen Kraft leidende Dorothee Sturm, Caroline Nagel eine Judy Garland, die längst resigniert festgestellt hat, dass sie im falschen Film gelandet ist. Hagen Bär als Polizist Gus und Tobias Schormann als verhinderter Regisseur Salvatore Brandt geben ein Brüderpaar ab, das auch etwas erzählt von einer Arbeitswelt, die immer mehr Ausschuss produziert. Und Katharina Shakina und Fabian Kulp sind als vor dem Ruin stehendes Bauernpaar die Erdung des Stücks in der sächsischen Realität. Dazu: Videofahrten durch weite Landschaften, Action, eine "Phantom-Truckerin", die als düstere Bedrohung im Hintergrund präsent ist. Alles super.

Stilvoll ausgestellte Trash-Elemente

Oder? Gerloff inszeniert den Stoff vielleicht ein bisschen zu elegant, zu routiniert, er bekommt in den Griff, was bei Bungarten auseinanderstrebt. Die Oldenburger Aufführung erweist sich so als Komödie mit stilvoll ausgestellten Trash-Elementen – kann man machen. Aber wenn man sich die Vorlage genauer anschaut, dann ist "Garland" eben auch ein Abgrund, ein Stück, das gesellschaftliche Verwerfungen mit den Mitteln zerschlissenen Filmmaterials nachzuzeichnen weiß. Davon, dass in der Great Depression, die Kansas beziehungsweise Mittelsachsen erfasst hat, auch eine seelische Depression steckt, bleibt hier nur noch eine Ahnung, wenn Nagel Lana Del Reys "Hope Is A Dangerous Thing For A Woman Like Me To Have – But I Have It" singt. Aber weil sie das mit reizendem Schmelz macht, ist diese Gesangseinlage eben vor allem – schön. Andererseits: Als süßes Gift taugt diese einschmeichelnde Inszenierung eines raffinierten Stoffes natürlich durchaus.

 

Garland
von Svenja Viola Bungarten
Regie: Robert Gerloff, Bühne: Maximilian Lindner, Kostüme: Lara Hohmann, Musik: Imre Lichtenberger-Bozoki, Choreografische Beratung: Zoë Knights, Licht: Philipp Sonnhoff, Dramaturgie: Verena Katz
Mit: Rebecca Seidel, Caroline Nagel, Katharina Shakina, Fabian Kulp, Hagen Bähr, Tobias Schormann, Anna Seeberger
Premiere am 18. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.de

Kritikenrundschau

Robert Gerloffs Inszenierung gelinge es "wunderbar, die Verbindung aus Provinzdrama und Komödie, die ein sehr bedeutendes Element von Bungartens Stück ist, für das Publikum erlebbar zu machen", lobt Jennifer Katona in der Nordwest-Zeitung (24.5.2023). Dabei schaffe der Abend es, "bestens zu unterhalten und inhaltlicher Schwere mit Leichtigkeit zu begegnen". Das Ensemble, vor allem die Caroline Nagel als Judy Garland, zeige "komödiantisches Timing", die Inszenierung sei insgesamt "absolut sehenswert".

 

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