Der Kirschgarten - Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Expedition ins Tierreich
27. November. Pralle Früchte, winterliche Frostflocken: Endlich ist der titelgebende Kirschgarten wirklich mal der Protagonist, während die Menschen vor allem ausgediente Bierdosen zum Idyll beitragen. Denn Katie Mitchell macht aus dem Čechov-Klassiker einen konsequenten Abend über unsere Naturzerstörung.
Von Stefan Forth
27. November 2022. Es ist wie bei einer Weltklimakonferenz: Ein paar Leute reden, philosophieren und streiten lange über den Wert der Natur – und hinterher wird im Namen des Fortschritts sowieso alles abgeholzt und zerstört. Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg schiebt die britische Regisseurin Katie Mitchell jetzt zur Abwechslung mal konsequent die Menschen beiseite und rückt diejenigen in den Fokus, deren Lebensraum zuerst dran glauben muss. "Der Kirschgarten" nach Anton Čechov wird zur Expedition ins Tierreich.
Das Gutshaus der Familie Ranjewskaja ist nur von außen zu sehen, als Videoprojektion. Was drinnen passiert, dringt hin und wieder als Gesprächsfetzen, Gemurmel, Partybeats oder Gläserklirren auf die Bühne des Großen Hauses. Nur selten verirrt sich mal ein Redenschwinger, eine verlorene Seele oder ein Liebespaar leibhaftig in den Garten und damit vor den Green Screen, an dem Live-Kameramann Severin Renke versprengte Handlungsmomente einfängt.
Wer bezahlt den DJ?
Überwiegend hält sich das menschliche Ensemble mit großen Skriptbüchern in der Hand im linken der beiden verglasten Tonstudios auf, die Alex Eales auf die Bühne gebaut hat. Die Spieler:innen sind an diesem Abend vor allen Dingen als Sprecher:innen und Geräuschemacher:innen gefragt. Sofern denn die Mikrofonsignale laut geschaltet und nicht nur Lippenbewegungen und mehr oder weniger aufgeregte Mimik zu sehen sind.
Das Auf und Ab der Tonspur ist exakt durchchoreographiert – und so kommt es, dass genau die wenigen Satzteile zu hören sind, die die menschlichen (Psycho-)Dramen im Haus in ihren Grundzügen erklären und vorantreiben. Oft sind es behutsame Überschreibungen aus der mehr als hundert Jahre alten Textvorlage, in denen aus Eisenbahnen Flugzeuge werden und es nicht mehr um die Finanzierung eines Tanzorchesters geht, sondern die Frage im Raum steht: "Wer bezahlt den Scheiß-DJ?"
Genau genommen passiert im "Kirschgarten"-Kern über vier Akte hinweg ja nun auch wirklich nicht besonders viel: Eine verschuldete Gutsherrin kehrt weitgehend mittellos in ihre Heimat zurück und schwelgt perspektivlos in der Vergangenheit, statt ihren Besitz vor der Zwangsversteigerung zu retten. Die alte Zeit hat abgewirtschaftet – und den Vertretern eines neuen Geldadels fällt nichts Besseres ein, als das einstmals berühmte Biotop Kirschgarten plattzumachen und auf dem Grundstück Sommerhäuser für gestresste Stadtmenschen zu bauen, während die nachwachsende Generation um Wahrheit ringt und letztlich auch keine große Hilfe ist. Gemeinsame Zukunftsideen: Fehlanzeige.
Zurück auf Anfang
So gerne, wie wir Menschen um uns selbst kreisen, ist es natürlich schon eine gewisse Zumutung, wenn die genauen (Beweg-)Gründe, Rechtfertigungen und Erklärungen für die Zerstörung von Pflanzen und Tieren an so einem Theaterabend zur Nebensache werden. Ein Triptychon aus Leinwänden zeigt stattdessen in teils überwältigend intensiver Nahaufnahme Bilder eines echten Kirschgartens im Wandel der Jahreszeiten, von halb geöffneten Knospen über pralle Früchte wie aus der Mon Chéri-Werbung bis hin zu hängendem Dörrobst und winterlichen Frostflocken. Bienen fühlen sich in dieser Umgebung ebenso wohl wie Schmetterlinge, Ameisen, Vogelschwärme, Igel, Füchse und Fledermäuse, die die Kamera im Close-Up aufgenommen hat. Das kritische Auge einer Eule wacht über alldem.
Wenn dann auch noch ein heller Vollmond scheint oder die Sonne in einem prallen Orange langsam am Horizont untergeht, könnte die Welt doch an sich ein ganz lebenswerter Ort sein. Allerdings darf man am Ende dann natürlich doch nicht die Rechnung ohne den Menschen machen, der zum Naturidyll in dieser Inszenierung neben leerem Geschwätz vor allem lange Jagdgewehre, ausgediente Bierdosen oder benutzte Kondome beizutragen hat. "Zufrieden? Sowas gibt’s nur in Romanen", fasst Julia Wieninger als Gutsherrin Ranjewskaja die zivilisatorische Sicht auf die Dinge zusammen.
Ein großer Teil der Pflanzen- und Tiermotive taucht in der einen oder anderen Form auch schon in Čechovs Original auf, als Szenenanweisung oder Randbemerkung einer Figur. In ihrer konsequenten Neuinterpretation des Stoffes dreht Regisseurin Katie Mitchell die Perspektive komplett um. "Der Kirschgarten" wird in Hamburg zu einer naturverliebten, suggestiven, klug komponierten Bild- und Klanginstallation. Inklusive Live-Musikensemble im rechten der beiden Tonstudios. Und mit einer klaren, wenig subtilen, dafür umso eindeutigeren Botschaft: "Wenn wir weiter die Natur misshandeln, wird sie kollabieren, und wir mit ihr", wird schon zu Beginn Richtung Zuschauerraum projiziert.
Nach knapp einer Stunde hat dieser Abend mit einiger Lässigkeit und Chuzpe den Bogen durch die vier Jahreszeiten geschlagen und ist bei der winterlichen Zerstörung des Kirschgartens angekommen. Statt nur noch Kettensägen dröhnen zu lassen, drückt die Regisseurin allerdings die Rewind-Taste und lässt das komplette Geschehen noch einmal live auf der Bühne rückwärts ablaufen. In unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Wiederholt sich der Weg zur Katastrophe in Dauerschleife? Hätten die Menschen auf der Bühne an irgendeiner Stelle anders abbiegen können? Was für eine konzentrierte Ensembleleistung – und was für ein Spaß auch in manchen Momenten!
Schlag nach bei Wiki
Handwerklich ist das großartig gemacht. Nur: Nach ein paar Minuten ist das Prinzip klar, und irgendwann verliert sich der Reiz des Rückwärtsgangs. Bei der Premiere verlässt die eine da schon mal vorzeitig den Zuschauerraum, während der andere bei laufender Vorstellung bei Wikipedia die Originalhandlung im Detail nachschlägt.
Und das ist schade. Denn: Katie Mitchell holt den "Kirschgarten" mit großer Entschiedenheit ins Jahr 2022. Ein uneitles, souveränes Ensemble rund um den tragikomischen Paul Behren, der mit kleinen Gesten große Wirkung erzielen kann, und die blickgewaltige Sandra Gerling beweist, wie lebendig Theater auch ohne viele Worte sein kann. Und die Bild- und Musikkomposition schafft kontemplative Räume, in denen man sich verlieren kann. Mehr Installation als Schauspiel. Ein sinnlicher, relevanter Abend ohne großes Geschwätz, der allerdings zeitweise (und besonders im zweiten Teil) zu sehr von seiner eigenen Konsequenz überzeugt ist.
Der Kirschgarten
nach Anton Čechov, mit Texten von Dawn King
Regie: Katie Mitchell, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Clarissa Freiberg, Musik: Paul Clark, Sounddesign: Donato Wharton, Videoregie: Grant Gee, Videodesign: Ellie Thompson, Live-Kamera: Severin Renke, Licht: Anthony Doran, Geräuscheffekte: Ricky Butt, Dramaturgie: Sybille Meier, Mitarbeit Dramaturgie: Martin Györffy.
Mit: Paul Behren, Eva Bühnen, Sandra Gerling, Ute Hannig, Sachiko Hara, Jonas Hellenkemper, Christoph Jöde (in der Premiere krankheitsbedingt ersetzt durch Tilmann Strauß), Alan Naylor, Joël Schnabel, Michael Weber, Julia Wieninger und Tommaso Fracaro (1. Violine), Michael Heupel (Cello), Christian Marshall (Viola), Kalliopi Rizou (2. Violine).
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Kritikenrundschau
Man müsse diesen "Kirschgarten" à la Katie Mitchell nicht mögen, urteilt Katja Weise in ihrer Radiokritik auf NDR Kultur (27.11.22). Aber er sei "in seiner Radikalität beeindruckend konsequent" und lade zum Perspektivwechsel ein; es sei "faszinierend, wie präzise Mitchell diesen Abend technisch durchchoreografiert" habe. Zwei Minuspunkte der Inszenierung aus Sicht der Kritikerin: "Einmal verstanden, gibt es keine weiteren Erkenntnisse." Und: "Die Botschaft, die gleich zweimal, am Anfang und am Ende, zu lesen war, wirkt da fast zu platt: 'Wenn wir weiter die Natur misshandeln, wird sie kollabieren und wir mit ihr.'"
Katie Mitchell mache "aus dem Theaterstück eine Installation und aus der melancholischen Geschichte eine zivilisationskritische Meditation", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (28.11.2022). Dabei "modernisiere" sie nicht nur den Text, sondern "sie dekonstruiert die ganze dramatische Situation auch formal rigoros". Auf Dauer entwickele sich ein "suggestives, visuell eindringliches Spannungspotenzial", auch wenn manches "etwas esoterisch" und "über Gebühr mit tragischer Bedeutung aufgeladen" erscheine. "Sehenswert" sei diese "komplex verdichtete" Installation aber allemal, so die Kritikerin.
Dieser "Kirschgarten" sei Katie Mitchells "bislang wohl radikalste Inszenierung", hält Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (28.11.2022) fest. Der "Formidee" werde hier "mit letzter Konsequenz" gefolgt. Das hinterlasse "einen starken Eindruck". Mit dem Punkt des "Rückwärtslaufens" sei die Idee jedoch "verstanden" und wirke "ein wenig selbstgefällig". Das Konzept gehe dann "auf Kosten des unterbeschäftigten Ensembles" - das allerdings "bewusst", findet Stiekele.
"Ihre Setzung, das Stück aus der Perspektive der Natur zu erzählen, verfolgt Mitchell mit enormer Konsequenz. An diesem Abend ist nichts dem Zufall überlassen, jede Bewegung ist mit höchster Exaktheit choreografiert", so Katrin Ullmann in der taz (29.11.2022). Der Zugriff auf den Stoff sei eigenwillig aber mit Blick auf den Klimawandel sicherlich zeitgemäß. Doch sei dieser Zugriff zugleich auch eine Zumutung. Die Kritikerin schließt: "Man bewundert ein nahezu hermetisches, aseptisches Kunstwerk und wundert sich nicht, dass es einen vollkommen kalt lässt."
Katie Mitchell habe in ihrem didaktischen Abend "keine Zeit mehr", weder für Tschechows "Handlung noch für seine subtil sich entwickelnde Dramaturgie des Zwischenmenschlichen. Sie hat nicht einmal Geduld für einzelne Szenen, Dialoge oder einen Hauch russischer Poesie", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (3.12.2022). "Wie eine mitleidlose Erzieherin mit dem Rohrstock zwingt die Lehrkraft dieser Weltrettungsschule den Uneinsichtigen Ausschnitt um Ausschnitt noch einmal auf die Netzhaut, begleitet von einer tonalen Kakophonie des Unverständlichen und der schrillen Laute von zerbrochenem Glas."
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Trotzdem war es ein Abend, der mir nicht aus dem Kopf geht.
Die Idee mag interessant sein: Der Kirschgarten wird als mit einem gewissen Eigenleben ausgestatteten Symbol für den Umgang der Menschen mit der Natur im 21 Jh. herangezogen. Aber was dieses Stück daraus macht ist erstens unausgereift und langweilig. Die vielen technischen Spielchen lenken vom fehlenden Inhalt ab; dass die Zeit zurückgedreht wird (soll dies Hoffnung vermitteln - die Chance aufzeigen, dass wir das Klima noch retten können? - es wird nicht klar) dauert für eine damit vermeintlich verbundene Botschaft viel zu lange.
Das Schauspiel ist leider, leider nur mäßig und die Auswahl der Erzählung aus dem Originaltext wirkt so willkürlich, wie das Verhältnis zwischen eingespielter Geigenmusik, Redeanteil und Schauspiel ingesamt.
Insgesamt ist diese Inszenierung nicht virtuos, oder tiefgründig, sondern plump und uninspirierend.
Das Hamburger Schauspielhaus sollte sich bis in den tiefsten Grund schämen, seine Zuschauer mit einem solchen Machwerk zu belästigen!
Aber es hat sich offenbar inzwischen schon herumgesprochen: im Zuschauerraum gähnende Leere, nur vereinzelt zaghafter Beifall mit Rücksicht auf die statt Schauspielern angeheuerten Statisten, ansonsten betretenes Schweigen.
Der düpierte Zuschauern enteilt dem kunstlosen Ort, um nicht sobald wiederzukehren.