Wo Milch und Bubbletea fließen

2. Oktober 2022. Die Menschheit macht sich auf, neue Planeten zu kolonialisieren, kommt dabei aber vom Kurs ab und landet zwischen Stein-, Pflanzen- und Wasserwesen. Prinzip Gonzo haben ein Theater-Game entwickelt, bei dem das junge Publikum versucht, die Weltraummission zu retten. Kann das gelingen?

Von Falk Schreiber

"Generation One" von Prinzip Gonzo am Jungen Schauspielhaus Hamburg © Sinje Hasheider

2. Oktober 2022. Vorbei. Die Erde hat keine Zukunft mehr, Kriege, Umweltzerstörung und die Besiedlung mit außerirdischem Ungeziefer haben das Leben immer weiter erschwert. Aber zum Glück wurde in unmittelbarer Nachbarschaft, gerade mal eine 2000-jährige Raumreise entfernt, ein erdähnlicher Planet entdeckt: Alsaria, und auf Alsaria ist Leben wie in der Heimat möglich, nur besser.

Immersiver Kampf durch die Wurmtunnel

Auf Alsaria wächst praktisch alles: Gemüse, Obst, Nachos mit Käsesauße. Man muss nur hinkommen. Im Tiefschlaf machen sich Kolonialist:innen auf ins "Land, wo Milch und Bubbletea fließen", verteilt auf drei Raumschiffe, die zeitgleich von der Erde aus starten. Nur werden sie leider nie ankommen: Irgendwann während der 2000 Jahre kommen sie vom Kurs ab und stürzen auf einen unbekannten Planeten. Der hat zwar wenigstens eine Atmosphäre, und auch die Stein-, Pflanzen- und Wasserwesen, denen man hier begegnet, wirken erstmal recht freundlich. Aber grundsätzlich war die Sache anders gedacht.

Ein bisschen "Alien", ein bisschen "Lost": Das Regiekollektiv Prinzip Gonzo erfindet für das Theater-Game "Generation One" am Jungen Schauspielhaus Hamburg das Science-Fiction-Genre nicht neu. Allerdings handelt es sich bei der Produktion nicht um ein Theaterstück im engeren Sinn, sondern um ein immersives Erlebnis: Die "Generation One", das sind sind die Zuschauer:innen, die sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause in den Weiten des Universums machen, und die Abenteuer, die nach der Bruchlandung durchstanden werden wollen, treten in Form eines Spiels auf. Nichts Kompliziertes, ein bisschen Point-and-Click, man versucht, mit Aliens zu kommunizieren, man macht den Antrieb des Raumschiffwracks wieder flott, und der Höhepunkt an Action ist erreicht, wenn man sich durch sogenannte Wurmtunnel kämpft. Alles machbar, aber, hey: Immersion!

GenerationOne3 Sinje Hasheider uGelb ist die Hoffnung bei der Suche nach einem neuen Zuhause © Sinje Hasheider

Man könnte sich für "Generation One" deutlich Härteres vorstellen, als das Irren durch die Kälte und Dunkelheit des Kosmos, als Konfrontation mit fremden Lebewesen, die einem womöglich Böses wollen. Nur: Die Arbeit ist Kindertheater, gedacht für Zuschauer:innen ab zehn Jahren (und zumindest bei der Premiere sind noch deutlich Jüngere dabei), die sollen nicht verstört werden. Und so begegnet man also einem niedlichen Fisch, einem knirschenden Steinmonster oder einer reizenden Qualle. Alle versuchen, einem zu helfen, und das größte Problem, mit dem man sich auseinandersetzen muss, ist, dass diese Hilfe manchmal vor allem lieb gemeint ist, in Wahrheit aber wenig bringt. Dafür gibt es nach der Hälfte des mit rund dreieinhalb Stunden recht langen Abends was zu essen: Space-Pizzabrötchen, lecker.

Auf in die Polonaise der Verunsicherung!

Inhaltlich kann man der Produktion also eine gewisse Harmlosigkeit nicht absprechen – aber man selbst ist ja auch nicht die Zielgruppe. Dafür haben Prinzip Gonzo bei der Ausstattung keine Mühen gescheut: Bespielt werden nicht nur alle Bühnen des Jungen Schauspielhauses, sondern auch noch die Foyers und Probebühnen der benachbarten Theaterakademie Hamburg, und wenn man zwischen den Räumen wechselt, macht man das über die schon erwähnten Wurmtunnel. Die entstehen, indem man das Gesichtsfeld verschleiernde Brillen trägt und so eine Polonaise der Verunsicherung darstellt. Wie Prinzip Gonzo hier mit sensorischer Deprivation spielen, das ist jedenfalls als Theaterpraxis ziemlich raffiniert.

GenerationOne2 Sinje Hasheider uShake your arms: Begegnung mit dem freundlichen Wesen vom Nachbarplaneten © Sinje Hasheider

Und auch die Darsteller:innen sind großartig. Es spielt nicht nur das (kleine) Ensemble des Jungen Schauspielhauses, auch die inklusive Theatergruppe Meine Damen Und Herren wurde verpflichtet. Und mit welcher Selbstverständlichkeit hier Schauspieler:innen mit und ohne Behinderung miteinander agieren, das hat eine Qualität, die weit über die Frage hinausgeht, wie die Raumfahrt mit Hindernissen nun weitergeht – zumal es erfrischend ist, zu sehen, wie Behinderung hier gar keine Kategorie mehr für das Theater ist.

Asyl bei den Aliens

Aber es ist natürlich nicht alles Form, es gibt auch eine Auflösung auf der inhaltlichen Ebene. Zwar ermöglicht ein immersives Theater-Game dem Publikum in gewissen Grenzen selbstständige Aktionen, am Ende wird man aber zu einem Höhepunkt geführt. Hier: Die Raumschiffe sind repariert, man kann also weiterreisen. Aber gleichzeitig kommt ein Funkspruch von der Erde rein: Die Menschen haben ihre Probleme in den Griff bekommen, man könnte also auch zurückkehren. Und schließlich entschließen sich die Aliens, den Menschen Asyl zu gewähren, falls diese Lust hätten. Ein versöhnlicher Schluss also, bei dem man sich aussuchen kann, was einem das Liebste ist – das Premierenpublikum jedenfalls teilte sich in drei verhältnismäßig gleich große Gruppen auf. Was den grundsympathischen Eindruck dieses Theater-Games noch einmal verstärkt.

 

Generation One
Von Prinzip Gonzo
Regie: Prinzip Gonzo (David Czesienski, Holle Münster, Tim Tonndorf), Bühne und Kostüme: Antonia Bitter, Hanna Roxane Scherwinski, Licht: Ole Dahnke, Ton und Video: Benjamin Owusu-Sekyere, Maximlian Stilke, Julia Weuffen, Dramaturgie: Till Wiebel.
Mit: Jara Bihler, Severin Mauchle, Christine Ochsenhofer, Alicja Rosinski, Nico-Alexander Wilhelm, Dennis Seidel, Friederike Jaglitz, Noa Michalski, Leonie Sauermann, Antonie Zschoch, Ilario Rascher, Olivia Müller-Elmau, Kilian Prigge, Lena Reissner, Alternierend: David Czesienski, Holle Münster, Tim Tonndorf.
Uraufführung am 1. Oktober 2022
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de 

 

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