Barocco - Thalia Theater Hamburg
Proletarier aller Länder, vergnügt euch
26. Mai 2023. Ein "musikalisches Manifest" legt Kirill Serebrennikov als neue Arbeit am Thalia Theater Hamburg vor und widmet es all denen, die von politischen Systemen unterdrückt werden. Lässig durch die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte springend, öffnet der Abend neue Assoziationsräume und spendet Trost durch Schönheit.
Von Stefan Forth

25. Mai 2023. Der schöne Künstler sitzt in Handschellen am Klavier. Gekettet an einen gelangweilt rauchenden Sicherheitsschergen in dunkler Uniform und schwarzer Sturmhaube. Und doch spielt dieser hellweiß leuchtende Pianist mit nur einer Hand so kraftvoll virtuos, als hinge sein Leben davon ab. Und womöglich tut es das ja auch. Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov hat seine neueste Exilinszenierung "Barocco" am Hamburger Thalia Theater all denen gewidmet, die von politischen Systemen unterdrückt werden.
Best of Barock
Der Mann am Klavier ist der fantastische musikalische Leiter dieses Abends, Daniil Orlov, der ein Großaufgebot aus Streichquintett, Band, Chor und diversen Gesangssolist*innen auf der Schauspielbühne zusammenarrangiert hat. Die Grundlage für den schmachtvoll emotionalen Sound dieses überbordenden Projekts bilden Kompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts von Monteverdi über Händel und Telemann bis Rameau und Purcell – eine Art Best of Barock aus Zentraleuropa. Das Thalia Theater hat dazu eine Playlist bei Spotify eingestellt.
Lebenslust und Todesnähe, Schmerz und Begehren, Sehnsucht und Verzweiflung sind also dauerpräsent, und immer wieder stürzt sich die Inszenierung mit breiten Pinselstrichen ins Pathos, hat auch Mut zu Kitsch und Camp. Unter dem Schönen und Extravaganten lodern aber eine ganze Menge Feuer. Nicht umsonst ziehen sich Geschichten verzweifelter menschlicher Selbstverbrennungen wie ein glutroter Faden durch diesen Abend, der Künste, Genres und Epochen collagiert wie bunte Perlen auf einer Schnur.
Die Bedrohung ist real. © Fabian Hammerl
Zwischen Tanz, Arien und Videoprojektionen kommt immer wieder die Rede auf den Prager Studenten Jan Palach, der sich Anfang 1969 aus Protest gegen die Unterdrückung seiner Heimat durch die Sowjetunion in Flammen setzte. "Ich dachte, Dein Opfer würde uns alle retten – aber nein, nein", sagt Victoria Trauttmansdorff als Palachs Mutter in einer der stillen Szenen des Abends. Und diese Hilflosigkeit angesichts des Zustands der Welt ist wohl ein Grund dafür, dass die Inszenierung bewusst lose Enden ausstellt und eher nach Trost als nach Debatte sucht.
Lässigkeit und Chuzpe
Umso mehr stürzt sie sich ins Spiel. Lustvoll fliegen die Perücken und Klamotten über die Bühne, ebenso wie revolutionäre Codes und Slogans. Ganz nach dem Motto: "Proletarier aller Länder – vergnügt Euch." Und: "Die Überwindung der Langeweile wird entweder endgültig sein oder gar nicht!" Die das rufen, könnten in ihren französischen Béret-Mützen und engen braunen Pullis, an Mini-Straßen-Barrikaden lehnend, gut aus einer Pariser Studenten-WG von 1968 stammen. Hinter ihnen, in der Mitte der requisitenarmen Bühne voller Menschen, tanzen bildschöne Hedonisten in Paillettenoutfits der 90er, während sich in der allerletzten Reihe eine Kette von Statisten gebildet hat: In ihren weißen T-Shirts mit Aufdrucken wie "There is no Planet B" gehören sie wohl zur Letzten Generation.
Die Lässigkeit und Chuzpe, mit der der Gesamtkunstwerker Serebrennikov durch die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte springt, mit der er Assoziationsräume öffnet und wieder schließt, ist absolut faszinierend. Die Musik ist dabei der zentrale Kitt, der vor allem unterschwellig suggestiv wirkt und vordergründig meist wenig bedeuten will. Mit der russischen Sopranistin Nadezhda Pavlova hat sich der Regisseur eine bekannte Konzertsängerin ins Team geholt, die noch dazu spielen kann. Auch Serebrennikovs langjähriger Weggefährte Odin Biron überzeugt durch stimmliche wie körperliche Präsenz.
Flucht in die Schönheit
Die Entdeckung des Abends ist der junge brasilianische Straßensänger Jovey. Der Regisseur hat ihn in Berlin getroffen. Jovey bringt eine strahlende Leichtigkeit auf die Bühne, die der Inszenierung gut tut. Bei ihm wärmt das Feuer einer Mülltonne, während er singt. Da ist einer, eine Figur natürlich, die die Hoffnung auf ein gutes Ende noch nicht aufgegeben hat. Gleichzeitig erzählt dieser Jovey von Narben und Verbrennungen, die fast verheilt seien – und von den vielen Geflohenen in Berlin, "die ihr früheres Leben vergessen wollen", Ukrainer und Russen, Brasilianer wie er selbst.
Die Flammen sind eingehegt, für den Moment. © Fabian Hammerl
Also: wieder nix mit intakter Welt. Bleibt das Lachen im Angesicht der Verzweiflung, das der grandiose Spaßmacher Tilo Werner in einer wunderbar witzigen Zauberclownszene mit Publikumsanimation zelebriert. Oder die Flucht in die Schönheit. Im Barock oder in der Popkultur.
Hang zum Weiterziehen
In einer leise berührenden Szene lassen zwei Ventilatoren eine graue Plastiktüte über die Bühne tanzen. Dahinter, auf Stellwände projiziert, Lichtreflexe, die Schneeflocken sein können. "Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie fast nicht ertragen kann. Und mein Herz droht dann daran zu zerbrechen", sagt dazu der Schauspieler Felix Knoop – so wie im US-amerikanischen Film "American Beauty", den die Inszenierung hier zitiert, eine Verneigung vor der Erhabenheit im alltäglichen Leben. Und dann tanzt im Thalia Theater eine Frau in Weiß mit der Plastiktüte zu Vivaldis Arie "Vedrò con mio diletto".
Solche Brückenschläge öffnen und verbinden Welten. Manchmal führen sie allerdings auch weg von Schmerzpunkten. Stellenweise hat die Inszenierung einen gewissen Hang zum Weiterziehen, wenn's wehtut. "Barocco" bezeichnet ursprünglich eine unregelmäßige, unebene Perle, wie jetzt an allen möglichen Stellen zu lesen ist. Eine Perle, die gerade wegen ihrer ungewöhnlichen, irritierenden Form einen besonderen Wert hat. Ein paar weniger Abrundungsarbeiten, stattdessen ein paar mehr Auf- und Tiefenbohrungen hätten dem Abend gutgetan. Dann wäre aus der Inszenierung ein noch größeres Schmuckstück geworden.
Barocco
von Kirill Serebrennikov
Regie, Bühne und Kostüme: Kirill Serebrennikov, Komposition und musikalische Leitung: Daniil Orlov, Choreografie: Ivan Estegneev, Evgeny Kulagin, Video: Ilya Shagalov, Licht: Sergej Kuchar, Sounddesign: Hendrik Glax, Sven Baumelt, Mitarbeit Bühne: Elena Bulochnikova, Mitarbeit Kostüme: Clara Strasser, Dramaturgie: Joachim Lux.
Mit: Odin Biron, Yang Ge, Jovey, Felix Knopp, Svetlana Mamresheva, Daniil Orlov, Nadezhda Pavlova, Victoria Trauttmansdorff, Tilo Werner; Tänzer*innen: Steven Fast, Yorgos Michelakis, Polina Sonis, Davide Troiani/Mark Christoph Klee, Tirza Ben Zvi/Larissa Potapov; außerdem Live-Musiker*innen, Chorsänger*innen und Statist*innen.
Premiere am 25. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
Kritikenrundschau
"Auf beeindruckend gewagte Weise verbindet Serebrennikov, wieder einmal, realpolitischen Protest mit lebensbejahend überbordender künstlerischer Fantasie", schreibt Joachim Mischke im Hamburger Abendblatt (27.5.2023). Hin und wieder schramme der Abend knapp am Kitsch vorbei. "Doch immer wieder bekommt das Stück die Kurve zurück zum Thema." Dabei sei der Abend auch "Maßarbeit für Spielerinnen und Spieler ist, die so viel mehr können als nur ihren Text abliefern". Mischkes Fazit: "Pflichtstück".
Der Untertitel "Musikalisches Manifest" bezeichne, was dieser starke Abend ohne durchgehende Handlung, aber mit dem Brennen für die Freiheit als durchgehendem Motiv sei, so Stefan Grund in der Welt (26.5.2023). "Der durchweg abwechslungsreiche Abend wechselt rapide zwischen Totentänzen und Selbstverbrennungen, schönen Bildern mit Momento-Mori-Geschrei 'Ein jeder muss sterben' und ist doch dem Leben in Freiheit verpflichtet, das als Sehnsucht gegen alles Leid steht." Am Ende gebe es stehenden Jubel.
"Es ist ein mitreißender, finsterer, aber auch ein bisschen verrückter Abend, den der russische Regisseur Kirill Serebrennikow da in Hamburg veranstaltet", formuliert es Wolfgang Höbel im Spiegel (26.5.2023). Herausgekommen sei ein "buntes, nur manchmal pathetisches, auch konfuses Durcheinander von Parolen und Statements, Clownseinlagen und tollen Gesangsauftritten", "eine Beschwörung von Tod, Schmerz und Schönheit, die offensichtlich als Aufruf zum Widerstand verstanden werden soll." Natürlich könne man die allgegenwärtige Feuersymbolik ein bisschen aufdringlich finden. "Man darf es aber auch freundlicher formulieren: Hier scheint mal ein Regisseur wirklich zu brennen für sein Verständnis von aufrichtiger Haltung und Kunst."
Weniger überzeugt wirkt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (26.5.2023): Während ein begeisterndes Gesangsensemble um die russische Sopranistin Nadezhda Pavlova und den Countertenor Odin Biron die Emotionen mit tragischen Arien überwältige, litten die politischen Spielszenen "an einem Grundproblem von Serebrennikovs Regiestil, dem Hang zum Plakativen und Pathetischen". So sei "Barocco" "weniger ein erhellendes Manifest über die Dinge, die notwendig zu tun sind, als eine schematische Protest-Revue, die von beglückender Barockmusik in tollem Vortrag vor dem tödlichen Schlag gerettet wird".
"Der Abend ist bewegend, großartig und aufrüttelnd, er lässt ein zwar musikalisch reich beschenktes, aber auch sehr bedrücktes Publikum zurück", schreibt Wiebke Hüster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.05.2023). Das Körperliche, die musikalisch phrasierte Bewegung sei konstitutiv für das Organisationsprinzip des Abends als einer prachtvollen assoziativen Entfaltung. "Serebrennikows Choreographen Ivan Estegneev und Evgeny Kulagin gelangen vom selben Ausgangspunkt zu ganz anderen, viel inklusiveren, anschaulicheren Körperbildern. Während der Probenarbeit trainieren sie Musiker, Streichquintett, Schauspieler, Sänger und verhelfen ihnen zu neuem, authentischem Ausdruck auf der Bühne: Wie dreht sich jemand um, wie atmet er?"
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