Tote Augen blicken Dich an

16. September 2024. Die Umwelt-Apokalypse zieht auf. Über einer amerikanischen Familie, die sich doch eigentlich ökologisch verantwortlich gegen das Unheil stemmen möchte. Jan Bosse zeigt T.C. Boyles fiebrigen Klimakrisen-Roman "Blue Skies" zur Saisoneröffnung am Thalia Theater Hamburg.

Von Michael Laages

T.C. Boyles "Blue Skies" in der Regie von Jan Bosse am Thalia Hamburg © Armin Smailovic

16. September 2024. Ob wohl schon jemals in den fünfzehn Jahren der Intendanz von Joachim Lux eine neue Saison am eigentlich doch so hoch geschätzten Thalia Theater in Hamburg derart belanglos begonnen hat wie diese? T.C Boyle, dessen jüngster Roman für den Auftakt im Traditionshaus am Hamburger Alstertor ausgewählt worden ist, mag mit "Blue Skies" zwar ein Pandämonium US-amerikanischer Zeitgenossenschaft geschrieben haben – aber welchen gedanklichen Nutzwert das Publikum aus den abgründigen Geschichten in diesem schrillstmöglichen Karikaturen-Kabinett made in USA ziehen könnte, das erschließt sich in der Premiere bestenfalls in Nuancen.

Im Netz kursiert ja gerade die musikalische Parodie auf Donald Trumps abstruse Horror-Geschichte über die Haustierfesser von Springfield – sie dauert nur drei Minuten, ist aber deutlich kompakter als drei Stunden "Blue Skies".

Niedergang einer Familie

Aber der Reihe nach – der Titel von Boyles Roman zitiert einen Swing-Klassiker aus der Werkstatt von Irving Berlin. Nach der Jazz-Ikone Ella Fitzgerald haben ihn ungezählte andere gesungen und gespielt; das Quartett um Pianist Jonas Landerschier präsentiert ihn zu Beginn auf der sich drehenden Thalia-Bühne in eher dumpfer, rockiger Manier, und Merlin Sandmeyer singt dazu.

In der Folge driftet die Band noch durch eine ganze Menge weiterer schöner Jazz-Standards, und Schauspieler Bernd Grawert greift später auch zum Saxophon. In der Hauptsache aber spielt er Frank, den Vater der schrägen Familie, deren Abenteuer und Untergang wir miterleben müssen.

Frank ist Arzt und die einzige halbwegs zurechnungsfähige Figur im Stück. Kurz vor Armageddon im Finale nach drei Stunden meldet sich Grawert auch noch mit einem kleinen Selbstbekenntnis des Autors T.C. Boyle zu Wort: Es gehe ihm nicht darum, den Untergang der amerikanischen Zivilisation zu feiern; das ändere aber nichts an der Analyse letaler Zustände. Und ohnehin sei Musik die Überlebensfähigste und Schönste der Künste.

Bissl schräg drauf: Christiane von Poelnitz und Pauline Rénevier spielen Mutter und Tochter © Armin Smailovic

Auf der Bühne hat sich bis dahin neben der Band eine Bande armer Irrer ausgetobt, angemessen grenzwertig ausgestattet von der Kostümbildnerin Kathrin Plath.

Cat, gespielt von Pauline Rénevier, ist die Tochter von Frank und Ottilie (Christiane von Poellnitz). Cat kauft sich zu Beginn eine potenziell ziemlich lebensgefährliche Schlange, später noch eine; noch später frisst eine die andere, und weil sie gelegentlich frei herum kriecht im Strandhaus, tötet sie auch eins von zwei Kindern. Die hat Cat mit Todd in die Welt gesetzt. Steffen Siegmund markiert Todd, den ärgsten Kotzbrocken im Stück, eigentlich nur Verkaufsmanager für weißen Rum, aber als solcher so gut betucht, dass er sich das Strandhaus und regelmäßige Weltreisen zum Fremdvögeln leisten kann.

Zum Schluss fällt nicht nur das Kind der Schlange, sondern auch das Strandhaus den Termiten zum Opfer. Überhaupt hat die Apokalypse begonnen – mit 46 Grad Normal-Temperatur einerseits und Regenfluten andererseits. In einer besonders gruseligen Vision fährt Mama Ottilie auf einer Autobahn, deren Überflutung so wirkt, als bewege sich das Auto auf einem Strom toter Welse. Und alle schauen die Fahrerin aus toten Augen an.

Der Karren steckt tief im Dreck

Alpträume? Ja. Da aber niemand diese aus allen Rastern und zivilisatorischen Regeln gefallene Bande auf der Bühne für voll nehmen kann, wirkt auch der ökologische Weltuntergang im Theater nur halb so bedrohlich. Die Natur, so heißt es immer wieder, schlägt jetzt zurück, und vor allem die Tiere beginnen sich zu rächen am Menschen. Natürlich kommt das Stück auf die Bühne, weil das Theater davon erzählen will und soll. Aber wie soll das gehen mit diesem Personal?

Mama Ottilie hat die Ernährung der Familie komplett auf Insekten- und also Protein-Food umgestellt; aber wenn wir ihnen dann beim Essen zuschauen, wächst im Nu die Sehnsucht nach Currywurst mit Pommes Rot-Weiß oder einem schönen fettigen Gyros.

Wenn die Erde zum Mond wird: Merlin Sandmeyer auf der Bühne von Stéphane Laimé © Armin Smailovic

Ringsum versuchen eigentlich alle außer Frank, irgendwie doch noch der Verantwortung für den Zustand der Welt gerecht zu werden, die die Generationen vor ihnen nie ernst genommen haben. Der Karren steckt längst viel zu tief im Dreck, als dass aufgeweckte Typen wie Cooper, der Sohn der Familie, noch irgendetwas bewirken könnten zum Beispiel als Insektenforscher. Als Cooper der Öko-Mutter einen Schwarm Bienen schenken will, wird er nicht nur von denen gestochen, sondern auch von einer Zecke gebissen; die Wunde ist schwer infiziert, Cooper stirbt fast und verliert einen Arm. Später trägt Johannes Hegemann einen künstlich schwarzen Arm, aber längst driftet er wie ein Toter auf Abruf durch den Alltag.

Im Strom des Wahnsinns

Die Inszenierung von Jan Bosse lässt sich haltungslos treiben im Strom des allgegenwärtigen Wahnsinns. Stéphane Laimés Bühne dreht sie munter von Spielort zu Spielort, vom Schlangenladen über die Mojito-Bar ins Strandhaus und sogar an einen kleinen Pool; Mutter Ottilies Flug und Autofahrt zur gebärenden Tochter wird mit Videos von Meika Dresenkamps bebildert.

Ja, alle Aufgaben, die die Dramatisierung eines Romans der Bühnentechnik stellt, wurden hier überzeugend bewältigt. Aber wurde irgendwann zwischendrin in der Probenzeit auch mal die Sinnfrage gestellt? Weltuntergang ist ja "in" und "hip" und angesagt; aber im Laufe dreier langer Stunden wächst auch die Sehnsucht nach den viel durchdachteren Herausforderungen in Texten von Thomas Köck, Elfriede Jelinek und vielen anderen, die die Spielpläne seit Jahren mit Öko-Menetekeln überziehen.

War Boyle da wirklich auch noch nötig? Ja, meint das Thalia Theater. Und wenn es sich irrt?

 

Blue Skies
nach dem Roman von T.C. Boyle
Deutsche Bühnenfassung von Christina Bellingen und Jan Bosse
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Jonas Landerschier und Leo Schmidthals, Video: Meika Dresenkamp, Licht: Paulus Vogt, Dramaturgie: Christina Bellingen.
Mit: Bernd Grawert, Johannes Hegemann, Anna Maria Köllner, Christiane von Poellnitz, Pauline Rénevier, Merlin Sandmeyer, Steffen Siegmund; Live-Musiker: Taco von Hettinga, Jonas Landerschier, Leo Schmidthals, Matthias Strzoda.
Premiere am 15. September 2024
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

Jan Bosse inszeniere den Roman als "Mischung aus Satire, Klimadrama, aber auch Familienmelodram", berichtet Katrin Ullmann für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (15.9.2024). Schade findet die Kritikerin, dass er "over the ocean" verbleibt, also im amerikanischen Kontext. Das Ensemble spiele die "schrägen und ziemlich schrulligen Figuren" stark, aber die Kritikerin fühlt sich von der Inszenierung im Ganzen "nicht erreicht", denn die "Überzeichnung der Figuren" gebe dem Abend eine "merkwürdig ironische Distanz".

Bosse zeige die Story "ziemlich schrill und wie auf Speed", berichtet Katja Weise für den NDR (16.9.2024). Eine "Stärke des Abends ist, dass er nicht den Anspruch erhebt, die Dinge, einmal mehr, erklären zu wollen". Es sei "vielmehr erschütternd, wie lässig Boyle die Gesellschaft vorführt". Schade sei, "dass Jan Bosse in der ersten, deutlich längeren Hälfte vor allem auf klamaukige Effekte setzt und die Figuren teilweise fast wie Schablonen wirken. Doch das ausgezeichnete Ensemble schafft auch hier Momente, in denen das Lachen im Halse stecken bleibt".

"Jan Bosse erzählt T.C. Boyles so ätzend böse wie liebevoll komische Dystopie als ausstattungsvernarrte Plagen-Party mit Musikuntermalung, was die mehr als drei Stunden zusätzlich in die Länge zieh", so Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (17.9.2024): Für Menschen mit Angst vor Schlangen, Krabbeltierchen oder Weltuntergängen im Allgemeinen könnte der Abend hier und da eine Herausforderung sein, "formal ist er es nicht". Wer den Roman bereits kenne, werde in dieser knallbunt bebilderten Nacherzählung selten darüber hinaus geführt, wenn auch immer wieder durchaus gut unterhalten.

Jan Bosse mache aus T. C. Boyles Roman eine schlechte Komödie, so die Unterzeile von Till Brieglebs Kritik in der Süddeutschen Zeitung (18.9.2024). Boyles "Schilderung des exponentiellen Wachstums an Katastrophen, vor deren Erscheinen auch Alkohol nicht mehr hilft, scheint zutiefst pessimistisch ". Vielleicht hat dieser ausweglose Ton des Buchs den Regisseur Jan Bosse zu der schlechten Entscheidung geführt, "die Apokalypse als Komödie wirkungslos zu machen". Bei ihm werde vom ersten Moment an der gute Wille lächerlich gemacht und die böse Antwort des Klimawandels zur Show. "Umso länger dieser Abend dauert, umso ärgerlicher wird das Missverständnis zwischen Satire und Komödie."

Kommentare  
Blue Skies, Hamburg: Thalia hat sich geirrt
Thalia hat sich geirrt....war nicht nötig....
Blue Skies, Hamburg: Klimakrise ist jetzt
Extremwetterereignisse nehmen zu. Die Klimakrise ist jetzt. Ein kurzer Hinweis auf die aktuelle Hochwassersituation hätte dem klugen Text womöglich nicht geschadet.
Blue Skies, Hamburg: Verteidigung des Romans
Ohne den Abend gesehen zu haben, muss ich doch hier mal den Roman verteidigen. Der hat bei mir im Lesen schon etwas ausgelöst was die Xte Textfläche von Jelinek, Köck und Co dann doch nicht machen ... Er lässt mich durch die Figuren wirklich spüren wie eine Gesellschaft Post-Klimakatastrophe "funktionieren" könnte, bzw. wie sich eine Familie an diese neuen Umstände anpasst und versucht so lange wie möglich das Beste draus zu machen. Und das hat mich doch sehr berührt, als die immer gleichen Gegenwartsbeschreibungen und Mahnungen.
Blue Skies, Hamburg: Kluger Text
Lieber Ronald Meyer-Arlt, darf ich höflich nachfragen, welchen Gewinn es einem Theaterabend und einem klugen Text bringen soll, wenn man auf etwas hinweist, was jede und jeder weiß und was täglich in den Schlagzeilen steht?
Blue Skies, Hamburg: Theater und Wirklichkeit
Lieber Herr Rothschild,
Klar dürfen Sie nachfragen. Meine Antwort besteht aus zwei Teilen.
Erstens: Ich teile Ihre Ansicht nicht, dass allen die dramatischen Auswirkungen des menschgemachten Klimawandels bekannt sind. Falls das so wäre, würde es auf unseren Autobahnen, in unseren Innenstädten und auf unseren Flughäfen anders aussehen.
Zweitens: Ich finde es gut, wenn sich Theaterkritik zuweilen aus dem Theaterraum hinaus bewegt.
Blue Skies, Hamburg: Verteidigung
Hallo Theaterfans,
Ich möchte mich ‚Palazzo‘‘s Empfindung und Kommentar liebend gern anschließen.
Gestern Abend erlebte ich das ‚schräge Stück‘ voller Begeisterung!
Obwohl auch ich täglich vom ‚Weltuntergang‘ in den Medien höre, ist mir das Stück heftig unter die Haut gegangen…durch diese ‚überspitzte Darstellung’.
Ich habe oft schallend gelacht, denn dies alles kenne ich aus meinem Leben und meinem Umfeld. Verzweifelter Ehrgeiz alles richtig zu machen… Spannende Theatersaison für alle
Meine Empfehlung: 5*****
Blue Skies, Berlin: Klamauk
Zwei Wochen nach der Thalia-Premiere kam in der Kammer des DT Berlin eine "Blue Skies"-Inszenierung von Alexander Eisenach heraus.

Zu viel Klamauk wurde den drei Thalia-Stunden in vielen Kritiken vorgeworfen. Das lässt sich der sehr entschlackten, sich ganz auf den dystopischen Kern konzentrierenden DT-Inszenierung nicht vorwerfen. Eisenach gönnt sich und dem Publikum kaum einen comic relief, der vom Ernst der Botschaft ablenken könnte, obwohl einige satirisch überzeichnete Motive wie die Insekten, die Ottilie (Evamaria Salcher) auf Drängen ihres Sohnes Cooper (Alexej Lochmann) in den verschiedensten Formen zubereitet, dazu einladen würden. Eine echte Würge-Schlange wie noch zu Volksbühnen-Zeiten von Herbert Fritsch gab es leider auch nicht.

Die Live-Musiker Sven Michelson und Niklas Kraft sorgen für den bedrohlichen Hintergrundsound, der ebenso wenig zur Ruhe kommt wie die sich unablässig drehende Bühne. Wie Zombies wirken die Figuren, die herein- und wieder aus dem Bild gefahren werden. Anfangs sind sie zwischen den großen, weißen Sonnensegeln oft erst auf den zweiten Blick auszumachen. Als die Klimakatastrophe voranschreitet, wird dieser Hitzeschutz abgebaut, Daniel Wollentins Bühne wird zur leeren, menschenfeindlichen Ödnis, auf die der Scheinwerfer unerbittlich herunterstrahlt und am Ende auch das Publikum blendet.

Die völlige Konzentration auf das Grundgerüst einer langsam und ausweglos ihrem Untergang entgegendämmernden Gesellschaft ist ein Problem der Inszenierung. Die Figuren machen keine Entwicklung durch, sondern drehen sich trotz aller Eskapismus-Versuche im Kreis. Dies führen Eisenach und sein Team zwei Stunden lang konsequent vor. Die Textmassen, die zu bewältigen sind, werden oft als Botenbericht von den neuesten Extremwetter-Unglücken frontal von den Spieler*innen ins Publikum gesprochen, die gerade im Zentrum der Drehbühne stehen. Schon in seiner Konzeption ist diese Roman-Adaption wenig dramatisch und oft sehr statisch.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/10/08/blue-skies-deutsches-theater-berlin-kritik/
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