Des Sandes und der Liebe Wellen

5. März 2023. In seiner "Traumnovelle" konfrontierte Arthur Schnitzler 1926 ein Paar der Jahrhundertwende mit dessen unterdrückter Sexualität. In Frankfurt macht Sebastian Hartmann einen seiner bildstark-nervösen Traumabende draus.

Von Martin Thomas Pesl

"Traumnovelle" am Schauspiel Frankfurt © Birgit Hupfeld

5. März 2023. Sebastian Hartmann hat einen Lieblingssatz, der in vielen seiner Inszenierungen einen Cameo-Auftritt hat: "All that we see or seem is but a dream within a dream." Hartmanns neueste Arbeit ist wie geschaffen, um das Zitat und das ganze Gedicht von Edgar Allen Poe, in dem es vorkommt, richtig zu würdigen. Am Schauspiel Frankfurt adaptiert Hartmann die "Traumnovelle" von Arthur Schnitzler, und natürlich ist da schon der Poe, bevor der Abend richtig losgegangen ist.

Labile, Nervöse, Getriebene

Das Saallicht brennt noch, die Türen sind offen, da springt der erste der neun Spieler:innen in Frack und Zylinder über die Bühne, bläst in eine Trompete. Die anderen folgen, verausgaben sich schon mal heftig tanzend, fordern Zuschauerinnen auf, zu zeitloser Musik vom Band, eine gefühlte Ewigkeit, und in diesem Taumel fällt der Satz mit dem "Traum in einem Traum", später sogar das ganze Poe-Poem.

Es wäre böse, Hartmann zu unterstellen, er habe sich als Vorwand für die Einbettung seines lebenslangen Theatermottos irgendwas mit Traum ausgesucht. Und doch muss die "Traumnovelle" auf ihre vollständige Entfaltung an diesem Abend lange warten. Die brillante Schilderung unterdrückter sexueller Begierden, die die Eheleute Fridolin und Albertine einander gestehen, brachte Schnitzler das ultimative Kompliment von Sigmund Freud ein, er verstehe längst intuitiv, was sich dieser mühsam erarbeiten musste. Stanley Kubrick diente sie als Grundlage für seinen letzten Film "Eyes Wide Shut".

Traumnovelle 5 805 Birgit Hupfeld uSebastian Kuschmann vor Sandberg und Sandharke © Birgit Hupfeld

Annie Nowak referiert immerhin atemlos die Inhaltsangabe, und das gesamte Ensemble reiht sich gelegentlich an der Rampe sitzend auf und versucht diverse Einstiege in die Geschichte, wobei Albertine zwischen den vier Spielerinnen, Fridolin zwischen den fünf Spielern wandert. Sie bemühen sich – und sind genauso erfolgreich – wie eine Gruppe erschöpfter, aber aufgekratzter Besucher:innen gegen Ende des Balls: Einer kollabiert mehrmals, die andere steigert sich in Anfälle von Hysterie. Da begibt sich die Partie lieber an den Flügel ganz weit hinten auf der riesigen Bühne und singt gemeinsam, in schwermütiger Wiener Jahrhundertwendelustigkeit, ein Berliner Lied ("Leuchtreklame" von Milliarden). In den Spieler:innen lauert dabei stets – manchmal mit durchaus komischem Effekt – etwas Labiles, Nervöses, Getriebenes.

Die Sandharke kommt kaum zum Einsatz

Dass sich bei dieser Produktion noch auf den letzten Metern einiges veränderte, verrät die Tatsache, dass der Posten Video noch händisch aus den Programmheften gestrichen wurde. Auch das von Hartmann selbst entworfene Bühnenbild wirkt etwas im Stich gelassen. Zwar stapfen die Spieler:innen viel und mit Inbrunst in die Sandlandschaft auf der zentralen Drehscheibe der sonst nackten Bühne. Die wellenförmige Schranke, die konstruiert ist, deren fragile Ordnung wiederherzustellen, kommt aber kaum zum Einsatz. Schade, erweckt doch das raffinierte Gerät mit seiner wuchtigen Präsenz von Anfang an Erwartungen an die Maschinerie Theater.

Traumnovelle 3 805 Birgit Hupfeld uElegante Gesellschaft: Christian Kuchenbuch, Annie Nowak, Sebastian Kuschmann, Christoph Pütthoff, Caroline Dietrich © Birgit Hupfeld

Die ist dafür in Kostüm und Licht aktiv: Adriana Braga Peretzki stattet das Ensemble mit Extra-Glamour aus, Lothar Baumgarte schockt mit krassen Lichtwechseln. Gemeinsam dienen sie der Traumdramaturgie, die Sebastian Hartmann über seinen Abend legt und die alles möglich macht: einen Vortrag von Holger Stockhaus über Quantenteleportation und geräuschvolle Knutschszenen an der Rampe; ausführlichen chinesischen Gesang und dass jemand auf die Bühne kommt und sämtliche Mitwirkenden erschießt. Diese Bilder dehnen sich oft lange aus, miteinander harmonieren sie selten. Das entspricht zwar der Traumlogik, doch ist, wenn alles möglich wird, eben nicht mehr alles interessant.

Richtig gespenstisch wird es ganz zuletzt

Umso mehr überzeugt der Abend, als gegen Ende doch noch Szenen aus der "Traumnovelle" im Fokus stehen, mehrere gleichzeitig sogar. Da packt Christoph Pütthoff Heidi Ecks in einen Leichensack – Fridolin ist Arzt und trifft zu spät bei einem Sterbenden ein, später spricht ihn eine Sexarbeiterin (Manja Kuhl) an, und am Tag nach einem geheimnisvollen Maskenball versucht er eine Verstorbene zu identifizieren – und all diese Gestalten sind irgendwie auch seine Frau.

Der Wechsel der Rollen einerseits, der sie Verkörpernden anderseits hat mindestens die schlafwandlerische Intensität von Schnitzlers Text. Richtig gespenstisch wird es ganz zuletzt, wenn Albertine (hier: Caroline Dietrich) ihren Sextraum erzählt, der Fridolin so erzürnte. Vor der dunklen Bühne stehend spricht sie, grausam kühl, zum hell erleuchteten Saal. Aber so ist das eben im Traum: Wenn er zwingend wird, läutet der Wecker.

Traumnovelle
nach Arthur Schnitzler
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Caroline Dietrich, Heidi Ecks, Christian Kuchenbuch, Manja Kuhl, Sebastian Kuschmann, Annie Nowak, Christoph Pütthoff, Matthias Redlhammer, Holger Stockhaus.
Premiere am 4. März 2023
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

 Kritikenrundschau

Schon in der Novelle seien "Halluzination und Realität kaum zu unterscheiden", meint Sandra Kegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.3.2023). Doch Sebastian Hartmanns Dramatisierung steigere "die Verwirrung noch, indem sie den Figuren keine individuelle Kontur mehr zugesteht, sondern sie abwechselnd vom neunköpfigen Ensemble (aus dem Heidi Ecks und Christoph Pütthoff hervorstechen) verkörpern lässt". Annie Nowak müsse deshalb "in atemloser Rede den Inhalt zusammenfassen, um den Abend zu verfugen". Es sei insgesamt "schade um einen Text so voller Unsicherheit und schwindelerregendem Sog".

Sebastian Hartmann habe aus der Vorlage "eine Albtraumnovelle" gemacht, "in die er wie üblich persönliche Assoziationen und Zitate der Literatur-, Musik- und Filmwelt mischt", so Sabine Mahr im SWR (6.3.2023). Das gehe "mal mehr, mal weniger gut auf". Hartmann verlasse "Schnitzlers Textpassagen zu oft, um ganz andersartige Angstvorstellungen und Horrorvisionen in die Inszenierung einzubringen". Neben den "erotisch-grotesken Bildern" und "subtilen psychologischen Dialogen" stünden "plötzlich brutale aktuelle Eindrücke vom Krieg vom Sterben und der Verzweiflung im Vordergrund". Mit den Hauptfiguren der Novelle habe das "nur wenig zu tun".

"Der Text, die Textcollage ist bloß Vehikel für die Traumstimmung, die aber nicht aufkommt: kein Traumhyperrealismus, keine irre intensivierten Gefühle", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (6.3.2023). "Das Theater, immer eine Risikoveranstaltung, versucht, sich in Popanz und Routine zu retten, vielleicht mit der Ironie der Verzweiflung". "Wallende Nebel, superlaute Musik, Saallicht, als ein Monolog von Caroline Dietrich noch einmal volle Aufmerksamkeit verlangt. (...) Schwer zu sagen, ob sie im Kreis rennen, weil die verblüffende Ideenarmut einfach keine andere Möglichkeit mehr ließ, oder ob sie außer Atem kommen sollen. Nach pausenlosen 135 Minuten kann man zu Erstem neigen."

"Meist sitzt das Personal herum und redet in diesem zwischen Klamotte und Tragödie oszillierenden Theaterton. Dann springt es hysterisch auf, rennt wie gehetzt im Kreis", schreibt Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (6.3.2023). "Man sieht immer das Gemachte, Theaterhafte, den Betrieb. In keinem Augenblick stellt sich eine Traumillusion ein, nicht einmal ein bezwingendes, die Zuschauer bannendes Bild." Hartmann benutze das Ensemble als seelenlose Textmaschine und Kleiderständer ohne Individualität. "Kurz vor Schluss gibt es eine ekstatisch-bizarre Einlage. Da hat Hartmann den belanglosen, ermüdenden Abend aber längst in den Sand gesetzt", so Kluger. "Nicht wenige brechen vorzeitig auf. Besser als ihn abzusitzen, ist es, Schnitzler zu lesen, Kubrick zu streamen oder mal auszuschlafen."

Ursula May von hr2-kultur (6.3.2023) fand die erste Stunde richtig groß. Im zweiten Teil verliere der Abend jedoch an Schlüssigkeit und Stringenz. Die Kritikerin empfiehlt dennoch den Besuch. Sie lobt "große Momente", ein "imposantes Bühnenbild" und "sehr gute Schauspieler". May rät jedoch dazu, das Stück im Vorfeld zu lesen, ansonsten drohten Verständnisschwierigkeiten.

"Schnitzlers Novelle scheint in Frankfurt weniger lustgetrieben als ein wirklich trauriger Text, der Endzeitstimmung verbreitet und von der Einsamkeit der Menschen kündet und von Dekadenz", schreibt Shirin Sojitrawalla in der taz (6.3.2023). Zuweilen enervierend sei die Inszenierung: "wieder Trockennebel, wieder im Kreis rasen, noch ein Lied und noch einmal vorne an der Rampe sitzen". Dazwischen funkelten aber "irrsinnig tolle Theatermomente".

Kommentare  
Traumnovelle, Frankfurt: Echt Krise
Wie immer in Frankfurt schreien die Schauspieler und dann kommt ohrenbetäubende Musik, damit wir alle merken: es ist hier echt Krise!
Traumnovelle, Frankfurt: Bitte genauer
@sscarpia: na dann ist es wohl einen ausflug wert!
das „wie immer“ hätte ich gerne genauer definiert bekommen, bitte.
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