Wer die Hosen anhat

4. Dezember 2022. Oscar Wildes Komödienklassiker liefert eine Steilvorlage, die Geschlechterverhältnisse auf den Kopf zu stellen und Hosen gegen Reifröcke, Männer- gegen Frauenrollen zu tauschen. Christian Weise hat es in Kassel ausprobiert. Mit verblüffenden Ergebnissen und vor einer frivolen Tapete.

Von Kirsten Ammermüller

"Bunbury – Ernst ist das Leben" in der Regie von Christian Weise am Staatstheater Kassel © Isabel Machado Rios

4. Dezember 2022. Was bedeute Geschlechtsidentität und welche Rolle spielt stereotypes Verhalten bei der Zuschreibung einer geschlechtlichen Norm? Oscar Wilde war auch in diesen Fragen seiner Zeit voraus. Seine Komödie "Bunbury", die er selbst als seine wohl beste bezeichnete, wurde 1895 in London uraufgeführt. Wildes Kritik der Oberflächlichkeit gegenüber der englischen Oberschicht erreicht hier einen Höhepunkt. Im Mittelpunkt stehen die beiden Dandys Algernon und Jack. Beide haben sich, um ab und zu den gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entfliehen, ein Doppelleben erdacht: Der Stadtmensch Algernon gibt vor, seinen kranken Freund Bunbury auf dem Land pflegen zu müssen, während Jack, der auf dem Land lebt, behauptet, sich um seinen Bruder Ernst in der Stadt kümmern zu müssen. Als die beiden jungen Frauen Gwendolen und Cecily ins Spiel kommen, sind beide gewillt, ihr Lotterleben an den Nagel zu hängen und halten jeweils um die Hand der Damen an. Es gibt nur einen Haken: Beide Frauen haben sich in den Kopf gesetzt, nur jemanden mit dem Namen Ernst könne bei Ihnen die wahre Liebe entfachen. 

Obrigkeitsbeschimpfung hat ausgedient

So weit, so gut. Mit den so angelegten Wegen um Verwechselung, Missverständnissen und rettenden Einsichten teilte Wilde vergnüglich gegen den englischen Adel aus, verpackte seine Kritik jedoch gekonnt subtil. Christian Weise liest das Stück anders. Obrigkeitsbeschimpfung taugt nicht (mehr) als Komödie. Vielmehr interessiert den Regisseur das Momentum festgeschriebener Rollenbilder. Mit einem aufwendigen, aber wirkungsvollen Trick, hebelt er gängige Klischees aus, stellt die Frage nach Geschlechtsidentität auf den Kopf: Die männlichen Rollen sind weiblich besetzt und umgekehrt. Aus Jack wird Jaqueline Worthing, Algernon wird zu der bezaubernden Algernine Moncrieff. Aus der schönen Gwendolen wird Honourable Gwendo Fairfax und Cecily wird zu Cecil Cardew.

Bunburry 2 Isabel Machado Rios uKeine einfachen Wahrheiten: Jonathan Stolze, Sandro Šutalo, Johann Jürgens und Iris Becher © Isabel Machado Rios

Damit gelingt dem Regisseur ein Kunstgriff: Männlich gelesene Personen, die vermeintlich weibliches Verhalten an den Tag legen – Schmachten, leicht devotes Auftreten, die Kleider zurecht streichen –, und weiblich gelesene Personen mit deutlich männlichen Verhaltensmustern – breitbeinig sitzen, dominantes Auftreten, der Griff in den Schritt. Der Text, welcher in der deutschen Fassung von Elfriede Jelinek stammt, wurde ebenfalls konsequent umgedeutet.

Der echte Ernst

Zu Beginn treffen Jacqueline und Algernine bei Tee – es wird sehr viel Tee getrunken – und Sandwiches zusammen. Schnell ist die Richtung klar: Vor einer Kulisse mit einer Tapete, die Szenen zeigt, die an das freizügige Decamerone erinnern, unterhalten sich die beiden Damen über ihre amourösen Ansinnen. "Eine Frau muss immer ihren Bunbury bei sich haben", so Algernine und urteilt weiter über die Ehe: "Was soll an der Ehe denn romantisch sei? – In einer Ehe sind drei genau richtig." Aus dem Mund der männerjagenden Frauen, wohlgemerkt verkörpert von männlich gelesenen Schauspielern, äußert komisch.

Und so nimmt das Stück seinen Lauf. Gwendo erhält seinen Heiratsantrag, indem Jacqueline vor ihm niederkniet und ihn anschließend auf Händen trägt. Algernine lässt sich von Cecil umgarnen. Am Ende gibt es dank des Hauslehrers (oder -lehrerin) Prism doch noch einen echten Ernst und abseits des Geschehens ein gebrochenes Herz – die Oberfläche lässt absichtlich nur wenig davon in den Vordergrund treten.

Rokoko-Pop vor frivoler Tapete

Erzählt wird das ganze in einer knallbunten, opulenten Optik. Einem Mix aus Rokoko-Pop und visualisierter Freizügigkeit. Erwähnte Tapete ziert die rückwärtigen Wände, ähnliche bildliche Darstellungen finden sich im Muster der überwiegend in Pink und Grün gehaltenen Kostüme wieder. Und dann die Perücken! Im gleichen Farbspektrum aufgetürmte Barockkunstwerke. Über all dem prangt in großen grünen Lettern der Satz: "The Truth Is Rarely Pure And Never Simple" ("Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach") – ein Satz aus dem Stück, der wie eine Antwort auf die subtile Fragestellung nach der Geschlechteridentität gelesen werden kann. Eine überdrehte, dafür aber bis ins Detail stimmige Inszenierung einer Komödie, die auch heute noch aktuelle Fragen zulässt und auf vergnügliche Weise zu vermitteln vermag.

Bunbuy (Ernst ist das Leben)
Von Oscar Wilde
Deutsche Fassung von Elfride Jelinek nach einer Übersetzung von Karin Rausch
Regie: Christian Weise, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Paula Wellmann, Live-Musik: Falk Effenberger, Dramaturgie: Dirk Baumann, Licht: Brigitta Hüttmann, Bühnenmeister Robert Dühr, Mitarbeit Kostüme: Sandra Maria Paluch.
Mit: Johann Jürgens, Jonathan Stolze, Iris Becher, Annalena Haering, Lisa Natalie Arnold, Marcel Jacqueline Gisdol, Clemens Dönicke und Sandro Šutalo.
Premiere am 3. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten 

www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

Andreas Wicke von hr2 (6.12.2022) hält das Stück für angestaubt und fragt sich, warum man es überhaupt auf den Spielplan setzt. Der Kritiker hatte ferner den Eindruck, dass "eine gewisse Ratlosigkeit im Umgang mit diesem Text durch sehr viel Farbe, ein opulentes Bühnenbild, üppige Kostüme und viel Musik überspielt wurde". Das Ensemble schlage sich zwar gut. Überzeugen konnte den Kritiker dieser Abend allerdings nicht.

 

Kommentare  
Bunbury, Kassel: Plump und plakativ
Werte Kirsten Ammermüller, (...) Dass sie „diese Perücken“ entzücken, sei Ihnen gegönnt, aber ich war in den letzten 20 Jahren oft und gerne im Staatstheater Kassel, und habe tatsächlich schon andere, hübschere und sogar höhere gesehen, in Kassel. Tolle Maskenabteilung. Ganz im Ernst. Aber das sie den „Kunstgriff“ des angeblich irgendwas neu oder anders denkenden oder lesenden Regisseurs als solchen, nämlich als Kunstgriff und so mit als Kunst bezeichnen, frappiert mich doch wirklich. Also dieser „Trick“, der weder künstlerisch neu noch originell ist oder irgendwie bereichernd für die ja wirklich wichtige Debatte ist, zumindest hier bedeutet: Männer in Frauenkostümen reproduzieren weibliche Stereotype und die Frauen dürfen das umgekehrt genauso. Das ist intellektuell genauso lange spannend wie der Satz selber, (...) und das ist wirklich das Gegenteil von subtil, ich fände die Wortwahl plump oder plakativ passender. So lange Stereotype ständig unreflektiert reproduziert werden, und das passiert leider an diesem zu langen Abend, kann man nicht nur der Debatte nichts hinzufügen, sondern vertieft in Wahrheit Gräben und Vorurteile. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind anständig, aber das sie jemand anderen spielen als sich selbst spiele , ist wirklich nicht neu, in manchen Gegenden wird das Theater und Schauspielei so definiert. Ihre Kritik ist leider (...) genauso (wenig) tiefgründig wie der Abend. Und das tut bei einem so klugen Autor wie Wilde schon weh.

(Anm. Redaktion. Einige Wendungen, die ins persönliche lappten, wurden aus diesem Kommentar entfernt.)
Bunbury, Kassel: Vergleich
Hatte heute Gelegenheit, die von der selben Autorin verfasste Premierenkritik in der HNA zu lesen. Auch wenn das Urteil (logischerweise) gleich ausfällt und es in der Formulierung einige Überschneidungen gibt, fallen doch auch einige markante Unterschiede auf. So werden in der HNA-Kritik sämtliche SchauspielerInnen lobend erwähnt, in der nk hingegen mit keinem einzigen Wort. Da mir diese Tendenz bei nk nicht zum ersten mal auffällt, hier meine Frage: handelt es sich bei diesem Unterschied um einen redaktionellen Eingriff, oder hat die Autorin in ihrer nk-Version selbst auf die Erwähnung der Spielenden verzichtet?
Der Abend ist bei allen Regie-„Ideen“ (über deren Tiefgang und Qualität sich natürlich streiten lässt) vor allem ein Abend, der von kraftvoll und leidenschaftlich agierenden SchauspielerInnen getragen wird, und ich persönlich fand es ärgerlich, dass das der nk keine Erwähnung wert war.

(Sehr geehrte:r Rabulais, es gibt bei nachtkritik.de keine Redaktionsdoktrin und insbesondere keine, die die Wahrnehmung von Schauspieler:innen betrifft. Welche Informationen, Beschreibungen, Wertungen in einen Text finden, ist den Autor:innen überlassen.
MfG, Georg Kasch / Redaktion)
Bunbury, Kassel: Vergleich 2
Vielen Dank für die schnelle Antwort. Dass es in der nk-Redaktion keine Doktrin zum Verschweigen von SchauspielerInnen gibt, habe ich mir schon gedacht. Es hätte sich ja auch um eine Kürzung handeln können. Nun ja. Bleibt für mich die Frage, warum die Autorin in der einen Kritik SpielerInnen (sehr positiv) erwähnt und in der anderen nicht. Zufällig entsteht ein solcher Unterschied eher nicht.
Es geht mir hier übrigens nicht um die Befriedigung irgendwelcher darstellerischer Eitelkeiten. Aber es fällt mir einfach auf, dass es in den nk-Kritik der letzten Zeit hauptsächlich um Regiekonzepte und „Haltungen“ geht und immer weniger um das, weshalb es das Theater überhaupt gibt: die SchauspielerInnen.
Bunbury, Kassel: Nur mäßig unterhaltsam
Ich hatte mich auf eine unterhaltsame Komödie gefreut. Für mich war der viel zu lange Abend sehr anstrengend und nur mäßig unterhaltsam. Im Gegensatz zu mindestens einem Zehntel des Publikums der ausverkauften Vorstellungen, die vorzeitig das Theater schimpfend verließen, habe ich bis zum Schluss durchgehalten. Den abschließenden Applaus gab es meines Erachtens nur aus Respekt zu den Schauspielern. Leider war im Vorfeld bei Kartenkauf nicht ersichtlich, dass es sich um eine derart veränderte Inszenierung handelt - dann hätte wohl so mancher, auch ich, darauf verzichtet. Schade um das schöne Stück und um meine Zeit, mein Geld.
Bunbury, Kassel: Geschlechterbilder
Ich habe den Abend nicht gesehen. Aber das Konzept, die Geschlechter zu tauschen, stammt wohl von Christian Weises Inszenierung „Wie es euch gefällt“ am Nationaltheater vor zwei Jahren. Dort geht es auch viel um Geschlechterbilder und in dem Stück war der Geschlechtertausch ein herausragender Eingriff, der auch das „in between“ der Geschlechter thematisierte, mit queerem Sänger und großartigen Schauspielern und Schauspielerinnen!
Das war ein wirklich großer Abend, aber was einmal gelingt lässt sich vermutlich nicht einfach selbst immer wieder kopieren. Leider läuft der Abend nicht mehr, sonst würde ich den enttäuschten raten, nach Weimar zu kommen. Da hat es hervorragend funktioniert.
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