Frieden oder Folter?

1. April 2023. Eine Cellistin gerät im Gaza-Streifen in Gefangenschaft und spielt nun dort, während in der Zelle nebenan gefoltert wird. Avishai Milsteins "Die Friedensstifterin" befragt die Perspektiven in einem Konflikt, in der alle das Recht auf ihrer Seite glauben. Josua Rösing hat inszeniert. Starker Text, starke Inszenierung, findet unser Kritiker.

Von Simon Gottwald

Avishai Milsteins "Die Friedensstifterin" von Josua Rösing inszeniert am Staatstheater Kassel © Katrin Ribbe

1. April 2023. Es ist eine Idee, die noch keiner hatte: mit der Macht der Musik Frieden zu bringen. Jedenfalls scheint Ali(ce), Cellistin aus Husum, das zu glauben. Darum blickt sie ihrem Auftritt, zu dem das Deutsche Kulturinstitut in Gaza eingeladen hat, auch freudig entgegen. Sie hält an ihrem Glauben an den Einfluss der Kunst auch noch fest, als ihr Ensemble wegen eines nahenden Kriegsausbruchs nach Deutschland zurückkehrt, während sie sich noch am Strand mit Ali (andere Betonung, sehr wichtig!) unterhält.

Sie will Ali mit nach Deutschland nehmen, aber nur, wenn er das will, denn alles andere wäre Kolonialismus. Dass sie in Alis Geschichte vom durch "sie" vergifteten Wasser nur das antisemitische Stereotyp vom Brunnenvergifter erkennen kann, ist jedenfalls bestimmt nicht ihr Fehler. Durch ihre schwere Mittelschichtskindheit in der Provinz ist sie für marginalisierte Gruppen und ihren Schmerz bestens sensibilisiert. Nachdem sie auf offener Straße zwischen den von neuen Bomben hinterlassenen Trümmern, die Konzerthalle und das Deutsche Kulturinstitut sind nicht mehr, Hevenu Shalom Aleichem auf ihrem Cello spielt und sich von Ali nicht retten lässt (schließlich ist sie die Retterin und hat ihr Werk noch nicht vollbracht), gerät sie in die Hände von Terroristen.

Parabel auf die Doppeldeutigkeit

Mit verbundenen Augen muss sie in ihrer Zelle spielen - Bach, Cello Suite no. 1. In einer anderen Zelle wird der israelische Soldat Yari gefoltert, damit er einem Gefangenenaustausch zustimmt. Ohne es zu wissen, beteiligt Ali sich ausgerechnet mit ihrer Musik an der Folter – sie spielt, wie sie später sagt, um ihr Leben. Um ihr Leben musste auch die Mutter der Krankenschwester spielen, die sich nach Alis Rettung um sie kümmert. Das war 70 Jahre vor Alis Gefangenschaft, im Frauenorchester von Auschwitz.

Frieden1 c Katrin Ribbe uWas ist richtig, was ist falsch? Emilia Reichenbach und Johann Jürgens in "Die Friedensstifterin" am Staatstheater Kassel © Katrin Ribbe

Die groteske Pervertierung von Musik in dem Vernichtungslager romantisiert Ali(ce) später: Die Gaskammern konnte die Musik nicht verhindern, aber sie konnte das Leid vor der Ermordung und das der Überlebenden lindern. Das sagt sie voller Überzeugung, obwohl sie Yarin im Krankenhaus kennengelernt hat, der mit Bachs Cellomusik keine Linderung verbindet, sondern nur die Zeit seiner Gefangenschaft und Folter. Er hat gegen seinen Willen überlebt, im Austausch für 1150 verurteilte Terroristen und Mörder.

Für Ali(ce) das Schlimmste ist es aber, dass sie erleben musste, dass Israel, für sie Inbegriff deutscher Schuld, zum Aggressor geworden ist. So sehr widerspricht das Erlebte ihrem Weltbild, dass sie sich als traumatisiert bezeichnet und das, was ihr Ali zuvor über die Zustände in Gaza erzählt wird, fast wortgenau wiedergibt.

Spielen für den Frieden

Schließlich gelingt es Ali(ce), den von ihr so sehnlich gewünschten Musikabend für den Weltfrieden ausrichten zu lassen, aber das Wichtigste fehlt: Ihr Cello wurde nicht rechtzeitig zurückgeholt. Dass sie nicht spielen kann, ist aber keine Tragödie: Den Weltfrieden hat von ihr ohnehin niemand erwartet, nur ein wenig Unterhaltung.

Was wegen des Stoffes zunächst wie ein schwer verdaulicher Theaterabend klingen mag, wird am Staatstheater Kassel zu einer Groteske, die Publikum und Darstellern sichtlich Vergnügen bereitet. Cellomusik verwandelt sich in Trap, Ali(ce)s Spiel auf dem Instrument ist ein Ausdruckstanz, und mehr als einmal diskutieren die Figuren während der Aufführung über Einzelheiten des Textes, der dann gegebenenfalls auch angepasst wird. Regisseur Josua Rösung inszeniert das Stück in fast Brecht'scher Tradition, lässt die Darsteller Regieanweisungen sprechen statt ausführen, die Szenerie beschreiben statt sich mit einem Bühnenbild aufzuhalten, und das funktioniert ausnehmend gut. In einem Stück, das den Zerfall liebgewonnener Illusionen (hier die Guten, dort die Bösen, wir die Bringer von Frieden, dort die sehnsüchtig unserer Harrenden) thematisiert, ist es konsequent,
die Illusion auf der Bühne immer wieder zu brechen.

Starker Text, starke Inszenierung

In dem durchgehend starken Ensemble ist besonders die Leistung von Emilia Reichenbach hervorzuheben, die ihre Rolle der bornierten Intellektuellen bis zur Verausgabung spielt und kleine Pannen mühelos in die Aufführung einbaut. Johann Jürgens ist als Fichte-Jünger und Referent des Ehrenpräsidenten für seine Selbstbeherrschung in Rollen zu bewundern, die ernsthaft zu spielen eine große Herausforderung sein muss.

Die intime Atmosphäre im kleinen Theater im Fridericianum tut ihr Übriges, und so bleibt nur, den Besuch jedem Theaterbegeisterten wärmstens zu empfehlen. Ein starker Text in einer starken Inszenierung: Was wünscht man sich mehr?

Die Friedensstifterin
von Avishai Milstein
Regie: Josua Rösing, Bühne und Kostüme: Michael Lindner, Komposition und Arrangements: Thies Mynther, Dramaturgie Dirk Baumann, Cello: Johann Jürgens.
Mit: Emilia Reichenbach, Jonathan Stolze, Annett Kruschke, Sarah Waldner, Marius Bistritzky, Johann Jürgens.
Uraufführung am 31. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 Kritikenrundschau

"Emilia Reichenbach verkörpert Ali hervorragend, unterstreicht die leichte Naivität, die nicht mit Dummheit gepaart ist", hebt Kerstin Ammermüller in der HNA (3.4.2023) hervor. Das Stück sei "Teil einer Debatte auf Grundlage der Kunst". Dabei würden "Meinungen auf den Prüfstand gestellt", es komme "der viel beschworene Spiegel" zum Einsatz und rege dazu an, "als erstes die eigene Sichtweise zu überdenken". Das Publikum habe die Premiere mit "großem Beifall" quittiert. 

Kommentare  
Friedensstifterin, Kassel: Glückwunsch
Grattis till teateruppsättningen och din regi, Josua Rösing.
Ifrån Roland Hägg med familj
Kommentar schreiben