Verloren im Zirkuszelt

22. April 2023. Nino Haratischwili hat Aglaja Veteranyis legendären Roman für die Bühne bearbeitet: zweisprachig. Eine poetische, drastische Erzählung über das Fremdsein in Familie und Sprache, eine abgründige Komödien-Tragödie. Und der Schrecken ist immer da.

Von Michael Laages

"Warum das Kind in der Polenta kocht "in der Regie von Nino Haratischwili am Hessischen Landestheater Marburg © Jan Bosch

23. April 2023. Wer jemals flüchten musste, kennt das Drama, diese Mischung aus Hilflosigkeit, Schmerz und Verzweiflung – draußen vor der Tür zu stehen, weil mit der erlebten Erfahrung der eigenen, erlernten Sprache nichts mehr anfangen ist. Der Alltag muss neu erfunden werden – nicht freiwillig, sondern aus nackter Notwendigkeit.

Pandämonium des Fremdseins

So ergeht es dem Mädchen Aglaja, das 1967 mit den Eltern aus dem Rumänien des Diktators Nicolae Ceaucescu in den Westen flieht; der ungarische Vater und die rumänische Mutter landen mit der Familie in der Schweiz. Und diese Familie, Schwestern und Tanten inklusive, ist doppelt fremd: sie fällt stark aus dem bürgerlichen Rahmen, arbeitet, lebt und überlebt im Zirkus. Papa ist Clown, privat aber oft überhaupt nicht lustig - ein Patriarch, der im Suff auch vor sexuellem Missbrauch an einer der Töchter nicht zurückschreckt. Die immerzu betrogene, immerzu leidende Mama hat sich derweil spezialisiert auf eine schwindelerregende, schmerzhafte Nummer, in der sie an den eigenen Haaren hoch hinauf gezogen wird ins Chapiteau, unter die höchste Höhe im Zirkuszelt. Aglaja, das Kind, ist immer dabei; und als es älter wird, beginnt es die eigene Lebensgeschichte zu erzählen – als Pandämonium des Fremdseins.

Lebensprall und zum Verzweifeln komisch

Dass sie im Grunde keine eigene Sprache behaupten kann gegenüber dem Rest der eigenen Welt, ist nur ein Baustein in diesem zutiefst verstörenden, traumatisierenden Kosmos. "Warum das Kind in der Polenta kocht", dieser außergewöhnliche, immer an den Abgründen des Alltags entlang driftende Lebensroman der aus Rumänien stammenden Schweizer Schauspielerin und Schriftstellerin Aglaja Veteranyi, erschien vor bald 25 Jahren; bald darauf, im 40. Lebensjahr, nahm sich die Autorin das Leben: im Zürichsee. Immer mal wieder sind seither Dramatisierungen entstanden. Kein Wunder. Veteranyi erzählt lebensprall und zum Verzweifeln komisch, der Roman blitzt und funkelt nur so in einem Feuerwerk aus hoch poetischen, literarischen Perlen. Und all das ist spektakulär schön – auch weil es gespeist wird aus erlebter Spracherfahrung in der Fremde. Die Geschichte vom Kind das in der Polenta kocht, dem traditionellen Maisgrießbrei, ist eine Drohgeschichte für Kinder – pass‘ auf und benimm Dich, sonst kocht das Kinder in der Polenta!

Kind2 Jan Bosch u"Benimm dich, sonst landest Du in der Polenta": Baia Dvalishvili, Saskia Boden-Dilling, Nata Murvanidze, Anna Rausch, Anke Hoffmann, Anano Makharadze © Jan Bosch

Die aus Georgien stammende Schriftstellerin und Theaterfrau Nino Haratischwili nimmt speziell die Grundstruktur des Fremd-Seins in Veteranyis Werk beim Wort, besser: bei den Wörtern. Sie erzählt die Geschichten um das Kind und die Polenta auch in der ursprünglich eigenen, der georgischen Sprache. Für das Hessische Landestheater in Marburg, deren Intendantinnen Eva Lange und Carola Unser-Leichtweiß Haratischwili schon beim Amtsantritt der Doppelspitze vor fünf Jahren begleiteten, hat sie den Roman vor allem dramaturgisch bearbeitet und übersetzt. Aus Tbilissi und vom "Royal District Theatre" dort hat sie drei Schauspielerinnen und eine Musikerin mit nach Marburg gebracht, die im Gegenüber mit drei jungen Schauspielerinnen aus dem Ensemble Veteranyis filigrane und fragile Familiengeschichte erkunden.

Tatsächlich braucht sie aber für das Nebeneinander der Sprachen Übertitelungen auf Bildschirmen rechts und links der Bühne; anders als wenige Tage zuvor die "bremer shakespeare company", die sich für eine ebenfalls zweisprachige, in diesem Fall türkisch-deutsch realisierte Inszenierung von William Shakespeares "Komödie der Irrungen" ganz auf die innere Logik der Vorlage verlassen konnte. Das Frage-und-Antwort-Spiel der furiosen Komödie erklärte sich hier tatsächlich auch ohne jede Übersetzung. Aber auch Haratischwili in Marburg verdeckt Fabel und Spiel nie durch allzu viel übersetzerischen Zwang; nie gerät das Publikum in Gefahr, durch ständige Seitenblicke auf die Bildschirme Bühne und Szene aus den Augen zu verlieren.

Zwischen Nachtclub, Bar und Bordell

Die Bühne von Julia B. Nowikowa lässt uns für keinen Augenblick in Ruhe; wieder, wie vor kurzem bei Thomas Bockelmanns Inszenierung des Nachkriegsklassikers "Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert, glänzt das kleine Marburger Haus mit außergewöhnlicher Bühnen-Phantasie. Nowikowa hat eine Art liegendes Hamsterrad in den Raum gebaut. In andauernder Bewegung vor und zurück auf der Drehbühne rauschen sechs unterschiedliche Tortenstück-Segmente, alle durch Türen verbunden, an unseren Augen vorbei: mal sehr abstrakte, mal sehr handfeste Räume, eine Art szenisches Cabaret. Und tatsächlich ist ja das Kind Aglaja nach dem Ende der Zirkuszeit (als Papa längst verschwunden war und Mutter mit den "stählernen" Haaren einen Unfall provoziert hatte, der das Ende der Karriere nach sich ziehen musste) in zwielichtigen Etablissements gelandet, zwischen Nachtclub, Bar und Bordell. Und auch als plötzlich ein noch viel zwielichtigerer Filmproduzent Interesse zeigt, geht es natürlich nur um Sex; wie sehr viel später in der Kino-Geschichte auf Harvey Weinsteins Besetzungs-Couch.

Auch deshalb bezieht sich die Marburger "Content-", also Inhalts-Trigger-Warnung an diesem Abend vor allem auf "sexualisierte Gewalt"; und Haratischwili als Regisseurin schont Ensemble und Publikum durchaus nicht. Sie folgt nur konsequent der Autorin Veteranyi, bis in die Momente tiefster sexueller Verstörung hinein. Denn so etwas wie "Liebe" war ja nie wirklich vorgesehen in dieser Zirkusfamilie ohne moralisch gefestigten Wohnsitz. In den schmerzhaftesten Minuten sehnt sich das Mädchen, längst voll von der verzweifelten Sehnsucht der Heranwachsenden, nach doppelter Vergewaltigung. Da geraten zwangsläufig auch die Darstellerinnen an die Grenzen des Sag-, Erzähl- und Zeigbaren.

Kind3 Jan Bosch uAn den Grenzen des Zeigbaren: Saskia Boden-Dilling, Anke Hoffmann, Anano Makharadze, Anna Rausch, Nata Murvanidze © Jan Bosch

Der Schrecken bleibt immer präsent, noch dort, wo das wirklich fabelhafte Ensemble kleine Familien-Panoramen als bunte menschliche Stilleben stellt, mit niedlich gerahmten Porträts hinter dem Wohnzimmer-Sofa. Niemand in dieser Familien-Aufstellung mit Hamster-Bild im Bilderrahmen rechts hat wirklich die Chance auf Glück und Zufriedenheit, jede scheint an den anderen wie an sich selbst zu leiden. Und da nähert sich Haratischwilis Version des Veteranyi-Romans durchaus dem Grundgestus, der auch die eigenen Romane durchzieht, die bislang stets die Freundin und Partnerin Jette Steckel in Hamburg und am Thalia Theater auf die Bühne brachte: "Das mangelnde Licht", zuvor "Die Katze und der General" und zu Beginn "Das achte Leben. Für Brilka".

Eine herausragende Arbeit

Aber der Weg der Autorin Haratischwili begann ja als Regisseurin eigener Stücke – immer wieder an freien Spielstätten in Hamburg, am Deutschen Theater in Göttingen, in Heidelberg, Kassel oder eben jetzt wieder in Marburg. Mitreißend sind die Marburger Ensemble-Frauen Anke Hoffmann, Anna Rausch und Saskia Boden-Dilling; grandios ist das Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Partnerinnen aus Tiflis: Baia Dvalishvili, Anano Makharadze und Nata Marvanidze. Nestan Bagration-Davitashvili wechselt regelmäßig die Seiten neben der drehenden Bühne: vom Klavier- zum Computer-Sound.

Sobald es geht, sagen die Marburger Intendantinnen, soll die Produktion auch nach Tbilissi reisen. Aber auch größere und prominentere deutsche Bühnen könnten sich ja mal um ein Gastspiel dieser herausragenden Arbeit bemühen. Entstanden ist sie in Marburg und dort vorerst nur in dieser Woche bis zum 28. April zu sehen – "Warum das Kind in der Polenta kocht" ist ein Glanzlicht der zu Ende gehenden Saison.

 

Warum das Kind in der Polenta kocht
Nach dem Roman von Aglaja Veteranyi
Fassung und Regie: Nino Haratischwili, Bühne: Julia B. Nowikowa, Kostüme: Camilla Daemen, Live-Musik: Nestan Bagration-Davitashvili, Choreographie Wara Cajias Ponc, Video: Zaza Rusadze, Dramaturgie: Petra Thöring.
Mit: Saskia Boden-Dilling, Baia Dvalishvili, Anke Hoffmann, Anano Makharadze, Nsta Marvanidze und Anna Rausch.
Premiere am 21. April 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.hltm.de

 

Kritikenrundschau

Natascha Pflaumbaum von hr2 (24.4.2023) fand vor allen die "bilinguale Simultanität" geglückt. "Obwohl hier Sprachverlorenheit dargestellt werden soll, werden die beiden Sprachen auf der Bühne doch ziemlich gut ineinander verwoben." Dadurch sehe man, wie gut Theater Sprache miteinander verbinde und das Spiel Menschen miteinander verbinde. "Das fand ich sehr beeindruckend."

"Zwei Stunden über das Fremdsein, das spannende, das unbehagliche, das beinharte und das bedrohliche Fremdsein, zwischen Sprachen, gesellschaftlichen Konstellationen und innerhalb einer Familie“ erlebte Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (24.4.2023). "Es ist verspielt, ohne albern zu sein, wie außergewöhnlich." Und weiter: "'Warum das Kind in der Polenta kocht' ist ein harter Roman und hart auch auf der Bühne. Unendlich zart aber dargeboten." Nur Haratischwili selbst sorge für Stockungen, Pausen, Satzwiederholungen, "aber mit einem Zeitgefühl, das ernsthaft die Dringlichkeit befördert".

"Nino Haratischwili hat Aglaja Veteranyis ohnehin schon drastische Sprache zusätzlich verdichtet." Dass wechselweise Deutsch und Georgisch auf der Bühne gesprochen werde, erscheine sinnfällig, fordere vom Publikum allerdings höchste Konzentration auf einen ohnehin schon intensiven Stoff, so Carsten Beckmann in der Oberhessischen Presse (25.4.2023) über "diese außergewöhnliche Produktion". "Ein dramaturgischer Glücksgriff ist die Bühnenmusik." Fesselnd und in jedem Moment sprachdienlich sei dieser Soundtrack.

Kommentare  
Warum das Kind..., Hamburg: Enttäuschung
Heute haben wir mit großer Erwartung die Regiearbeit der großartigen Schriftstellerin Nino Haratischwili während der Hamburger Lessingtage am Thaliatheater gesehen. Wir haben alle Jette Steckels tolle Adaptionen der Romane von Nino H. in Hamburg erlebt, daher war die Erwartung groß! Aber wie entäuschend ist diese Umsetzung eines sicherlich historisch und künstlerisch wichtigen Werks der Zeitgeschichte! Der Abend ist lähmend lang und beschwerlich, die georgischen Texte sind rechts und links der Bühne kaum zu lesen, wenn man gleichzeitig das Geschehen auf der kitschig hergerichteten Drehbühne verfolgen will. Die Schauspielerinnen geben ihr Bestes, aber es springt kein Funke über, keine Empathie, keine Emotion. Diese Bühnenversion eines sicherlich wichtigen Romans turnt ab durch Überlänge, Überfrachtung der individuellen Geschichte, durch ein unpräzises Bühnenbild und viel Kitsch als Versuch, ein Zirkusmilieu zu imitieren. Mein Fazit: ich habe mir den Roman von Aglaja Veteranyi bestellt und freue mich auf die Lektüre, um irgendwas von dieser spannenden und tieftraurigen Geschichte zu verstehen!
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