Die absolute Teilnahmslosigkeit

12. November 2022. Das Monster "Gedächtnis" will gefüttert werden: 2021 wurde das Stück von Amanda Lasker-Berlin über mediale Zeitzeugenschaft bei den Autor:innentheatertagen Berlin ausgezeichnet und uraufgeführt. Die Dramatikerin untersucht szenisch, wie Filmbilder unsere Erinnerung kapern. Marlene Anna Schäfers Inszenierung zieht unserer Kritikerin den Boden unter den Füßen weg.

Von Cornelia Fiedler

"Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content" in der Regie von Marlene Anna Schäfer am Theater Aachen © Carl Brunn

12. November 2022. Diese vier Erwachsenen sind monströs in ihrem Lachen. Die Schauspielerin Emilia Haag filmt sie schräg von unten mit dem Handy. Sie starren auf uns herab, hahahaha, als hätten wir etwas unglaublich Dummes getan. Sie füllen mit ihren verzerrten Gesichtern die komplette halbtransparente Gaze-Fläche, die in den Aachener Kammerspielen Publikum und Bühne trennt, übergroß und unberechenbar aus Kindersicht, aus unserer Sicht. 

Blick in die leere Erdnussflips-Schale 

Nach ein paar Sekunden Schockstarre dreht sich die Kamera dann aber zum Glück trotzig weg von der weihnachtlich angeheiterten Familie. Sie fixiert erst mal Ochs und Esel, wankt dann im Kleinkinder-Seeleute-Gang weiter zum Sofa, blickt tief in die fast leere Erdnussflips-Schale tappt weiter und findet irgendwo hinter den Weihnachtsbaum ein Spielzeugauto aus den 80ern. Das parkt da so verloren und schief, als hätte jemand Gladbeck gespielt, und die Karre nach dem blutigen Ende der Geiselnahme am Autobahnrand vergessen. 

So oder so ähnlich funktioniert Erinnerung, oder funktioniert eben nicht: Sie wirft auf der einen Seite assoziativ Bilder zusammen, die nicht zusammengehören. Und sie weigert sich auf der anderen, eins und eins zusammen zu zählen, weil das schlicht zu weh tun könnte. So oder so ähnlich so funktioniert auch das Stück "Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content", das 2021 bei den Autor:innentheatertagen Berlin ausgezeichnet und uraufgeführt wurde. Amanda Lasker-Berlin untersucht darin szenisch, wie Filmbilder die Erinnerung, das Empfinden und das Denken kapern. Diese kurze Weihnachts-Filmsequenz bleibt deshalb hängen, weil sie etwas Individuelles, Anarchisches in diesen sonst sehr geordneten Abend bringt. Regisseurin Marlene Anna Schäfer verschneidet darin kühle Erzähltheaterszenen, oft im Nebel und Gegenlicht, mit einer heimeligen Homevideo-Optik – passend zu den harten Kontrasten des Textes.

Ich Wunderwerk1 Carl Brunn uBilder des vermeintlich heimligen Zuhauses: Tina Schorcht, Mario Frauenrath, Emilia Haag, Benedikt Voellmy, Elke Borkenstein © Carl Brunn

Auf der einen Seite hören wir exakte Schilderungen verschiedener ikonografisch gewordener Amateurvideos, die einmal unsere Zeit charakterisieren werden: Wie der Polizist Derek Chauvin den Amerikaner George Floyd tötet, indem er fast zehn Minuten lang auf dessen Hals kniet; wie Derrick Scott unter ganz ähnlichen Umständen zu Tode kommt, und auch dessen angsterfülltes "I can’t breathe" von den Beamten ignoriert und von der Bodycam aufgezeichnet wird.

Bewegtbildern, die unseren Blick auf die Welt prägen

Auf der anderen Seite werden lange Sequenzen eines Weihnachtsvideos geschildert, gefilmt vom Vater der damals dreijährigen Erzählerin. Und weitere private Erinnerungen aus anderen Kindheiten und Jugenden, an das guilty pleasure "Pizza Rentfort" zum Beispiel, mit Brokkoli, Spinat und Sauce Hollandaise. Rentfort ist ein Stadtteil von Gladbeck, jener Stadt, die für lange Zeit mit einem Tiefpunkt des deutschen Journalismus verbunden sein wird: mit der sensationsgeilen Liveberichterstattung zum "Geiseldrama" von 1988, mit Reporter:innen eng an der Seite der Täter. Und schon ist das Stück der 1994 geborenen Roman- und Theaterautorin Lasker-Berlin wieder zurück beim Film und bei der Zeitzeug*innenschaft. Bei Bewegtbildern, die unsere Erinnerung, unseren Blick auf die Welt prägen, ob wir es wollen oder nicht. Bei Filmen, die wir auf Youtube klicken, obwohl, oder weil sie mit einer Trigger-Warnung vor dem titelgebenden "disturbing content", vor verstörenden Inhalten warnen.

Mal Einzeln, mal chorisch schildern die Spieler:innen akribisch Kameraführung, Ton, Perspektiven und Bildausschnitte der Videos. Sie schlüsseln die eigene Seherfahrung auf, das Grauen und die schuldbesetzte Faszination dessen, "echten" Tod, echten Schmerz, echte Brutalität mitzuerleben. Sie stellen die Frage, wer bestimmt eigentlich, was ich sehe, und was nicht.

Ich Wunderwerk3 Carl Brunn uDer Fernseher, das Familien-Lagerfeuer: vorne: Tina Schorcht, Emilia Haag - hinten: Elke Borkenstein, Benedikt Voellmy © Carl Brunn

Dass die Videos beschrieben, aber nie gezeigt werden, bremst die Wahrnehmung aus, schafft Luft zum Denken, wo sonst Emotionen toben. Das wiederum auf der Bühne zu bebildern, ist nicht einfach. Regisseurin Marlene Anna Schäfer vermeidet fast komplett das Nachspielen des Erzählten, schafft aber visuelle Anker: den Uniformierten etwa, der da wortlos im Demo-Nebel steht, die Familie, die sich zusammen aufs Sofa quetscht, die Pistole, die der Vater irritierenderweise beim Pizzabestellen in der Hand hält.
Gerade die Homevideo-Sequenzen mit Plastiktanne und Lichterkette verführen durch ihren lockeren Plauderton zu nostalgischer Identifikation. Das geht solange gut, bis die Weihnachtsfreude implodiert, bis versehentlich ein Übergriff ins Bild gerät. Unkommentiert, ungeahndet, ungesühnt. Und unverstanden, zumindest seitens der Dreijährigen im Bild, die jetzt, mit Mitte Zwanzig ist.

Warme Erinnerung, konsumiertes Grauen

Die plötzliche kognitive Dissonanz, der beißende Widerspruch zwischen warmer Erinnerung und dokumentierter Gewalt, entlädt sich in einem hilflosen, wunderbar irrationalen Forderungskatalog, den Tina Schorcht sich von der Seele brüllt: Wenn dokumentarische Filmbilder so weh tun, dann gehören sie verboten, das ist in etwa die Kurzfassung des minutenlagen Ausbruchs. Und weil das weder Täter:innen noch Opfer verschwinden lässt, gehören diese eben auch verboten. "Ich fordere die absolute Teilnahmslosigkeit", lautet ihr Fazit. Das geht durch Mark und Bein, nicht, weil es so dumm ist, sondern weil es so wahr ist. Weil das bis dahin kluge, aber nicht auffallend tiefgründige Stück, dem Publikum hier final den Boden unter den Füßen wegzieht, indem es jenes Prinzip auf die Spitze treibt, nach dem wir sehr leben: Wissen, und nichts oder wenig tun, Zeug:innen sein, und die Aussage verweigern, das Grauen konsumieren, und es ausblenden im gleichen Atemzug.  

 

Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content
von Amanda Lasker-Berlin
Regie: Marlene Anna Schäfer, Bühne und Kostüme: Christin Treunert, Dramaturgie: Reinar Ortmann, Licht: Eduard Joebges.
Mit: Elke Borkenstein, Emilia Haag, Tina Schorcht, Benedikt Voellmy.
Premiere am 11. November 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www. theateraachen.de


Kritikenrundschau

"Zwischen emotionalen Ausrastern und träumerischen Beschreibungen" bleibe die Inszenierung dem Text treu und entwickele "einen Rhythmus, der für Spannung sorgt", schreibt Sabine Rother in der Aachener Zeitung (online am 13.11.2022). Heraus komme "ein kritisch-poetisches Werk jenseits aller Besserwisserei". "In ihrer Regie bleibt Marlene Anna Schäfer unbeirrt und klar in der Botschaft. Sie zeigt: Theater ist anders als 'passives Konsumieren' im 'kollektiven Bewusstsein', das die Autorin kraftvoll in Szene setzt."

 

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