Eines langen Tages Reise in die Nacht - Schauspielhaus Bochum
Sag es nicht, das böse Wort!
28. September 2024. Ein abgehalfterter Schauspieler, seine morphiumsüchtige Ehefrau und zwei alkoholkranke Söhne hauen sich in Eugene O'Neills psychologischem Meisterwerk Lebenslügen um die Ohren. Johan Simons überrascht jetzt in Bochum mit einer erstaunlichen Lesart.
Von Martin Krumbholz
28. September 2024. Sowas hat es auch noch nicht gegeben. Mitten auf der Bühne steht ein putziges Häuschen, festlich erleuchtet, und nach zwei Minuten explodiert es. Peng. Übrig bleibt nicht Asche, aber Schutt. Elsie de Brauw und Pierre Bokma, die das Ehepaar Tyrone in Eugene O'Neills Drama spielen, klauben aus den Trümmern ein paar Sitzgelegenheiten heraus, einen Schaukelstuhl, ein Gartenbänkchen. Auch ein Fläschchen Whisky wurde gerettet. Besonders schockiert scheinen die beiden nicht, eher etwas verdattert. Auch später gibt es immer wieder was aufzuräumen, in der Pause wird der ganze Kladderadatsch sogar systematisch sortiert wie ein Bausatz, den man noch mal verwenden kann.
Geiz, Morphiumsucht, Alkoholismus
Die von Eva Veronica Born gestaltete Bühne steht für die im Stück so genannte "Bruchbude", in die der abgehalfterte Schauspieler James Tyrone, ein schlimmer Geizkragen, seine morphiumsüchtige Frau Mary für die Dauer der Theaterferien verfrachtet hat; die Söhne Jamie (Guy Clemens) und Edmund (Alexander Wertmann) sind wie ihr Vater Schauspieler und schwere Alkoholiker, Edmund hat überdies Tuberkulose.
Regisseur Johan Simons inszeniert nun "Eines langen Tages Reise in die Nacht" wie einen Thriller, bei dem die Aufmerksamen unter den Zuschauern nach und nach checken, was wirklich los ist. Das böse Wort "Fixerin", das kurz vor der Pause das erste Mal fällt, wird zelebriert wie eine Bombe: Alles klar! Dabei ist schon längst alles klar. Der Witz des Stücks besteht nicht wie bei Ibsen oder Sophokles darin, ein Betriebsgeheimnis nach und nach aufzudecken, sondern vielmehr in der bis ins Unendliche gesteigerten Widersprüchlichkeit der innerfamiliären Beziehungen.
Sie lieben sich, ja, und sie hassen sich. Sie sind voneinander abhängig wie von ihren Drogen. Sie sprechen nicht offen aus, dass Mary sich einen Schuss setzen geht, lassen es aber doch durchblicken. Der Vater engagiert für Edmund den billigsten Doktor und will ihn in eine "Sozialklinik" schicken. Die Mutter wollte eigentlich Nonne oder Pianistin werden und ist an dem gutaussehenden Schauspieler hängen geblieben, der ein schlechtes Stück gekauft und damit seinen Ruf ruiniert hat. "Keiner kann was dafür, was das Leben aus ihm gemacht hat", das ist so ungefähr ihr Motto.
Gut geübt im Lügen
Die Aufführung entfaltet wegen dieses konzeptuelle Missverständnisses keinen Sog. Sie ist auf keine erkennbare Steigerung angelegt. Es fehlt, trotz einer nominell guten Besetzung, an Intensität. Einige Spieler kämpfen spürbar mit dem Text (vielleicht war die Probenzeit zu kurz, mehr Striche wären eine Lösung gewesen), was bei anderen Stücken verzeihlicher wäre als gerade hier. Denn der selbstverständliche Textfluss ist die unentbehrliche Basis für die unaufhaltsame Eskalation des Dramas.
Reden können sie alle, das ist nicht ihr Problem. Sie suchen nicht nach Worten, im Gegenteil. Im Lügen haben sie alle eine Menge Übung. Sie machen sich mit Worten fertig, um sich dann, von sich selbst gerührt, in die Arme zu nehmen. (Der Korken steckt etwas zu fest in der Flasche, da müsste die Requisite noch ein wenig nachbessern.)
Ernüchternd und traurig ist es, dass O'Neills psychologisches Meisterwerk in dieser dreieinhalbstündigen Aufführung wie ein ziemlich mittelmäßiges Stück über die Rampe kommt, das keine geordnete Dramaturgie kennt. Nach der Pause, in einer Szene mit Pierre Bokma und Alexander Wertmann, blitzt einmal kurz auf, was es hätte sein können. Da lassen der störrische Alte und der jüngere Sohn, in dem ja ein wunderbares Selbstporträt des Autors steckt, ihre Masken fallen und zeigen plötzlich unverstellt ihren ganzen Schmerz. Da hört man endlich hin.
Folgenlose Verpuffung
Ansonsten: Stückwerk. Elsie de Brauw scheint fast verzweifelt nach einer Haltung für ihre Figur zu suchen. Guy Clemens: mehr oder weniger Schauspielerroutine. Konstantin Bühler gibt mit schöner Aufsässigkeit das zum Butler transformierte Dienstmädchen, das ist ein bisschen verschwendete Potenz. Außerdem lässt Simons kurz einen funktionslosen "Geist" auftreten, der wohl den toten mittleren Sohn darstellen soll. Häufig verrennt man sich hier in scheinbar tolle Einfälle, die folgenlos verpuffen wie der Knalleffekt einer Ohrenstöpsel erfordernden Explosion.
Dass diese holprige Inszenierung am Ende gefeiert wird wie ein Welttheaterereignis – das ist eben Bochum. Unabsteigbar.
Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O'Neill in der Übersetzung von Christian Enzensberger.
Regie: Johan Simons, Bühne: Eva Veronica Born, Kostüm: Katrin Aschendorf, Lichtdesign: Bernd Felder, Dramaturgie: Marvin L.T. Müller.
Mit: Pierre Bokma, Elsie de Brauw, Konstantin Bühler, Guy Clemens, Django Gantz, Alexander Wertmann.
Premiere am 27. September 2024
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
https://www.schauspielhausbochum.de
Kritikenrundschau
Johan Simons arbeite weiterhin an einem "beachtlichen Alterswerk", schreibt Sven Westernströer in der WAZ (30.9.2024). Mit einem "milden Blick" beobachte er "die Mitglieder der Familie Tyrone, die sich von früh bis spät inmitten von Besäufnissen, Geständnissen und Bekenntnissen heillos selbst zerfleischen". Auch das zu Beginn zerfetzte Haus sei "ein Regietrick, der erstaunlich gut funktioniert, denn so haben die Figuren dauernd etwas zu tun". Während das in der ersten Hälfte noch "vor sich hin" plätschere, sei das halbstündige Rededuell zwischen Vater und Sohn im zweiten Teil schlicht "eine Wucht", so Westernströer.
Simons blicke "mit Zärtlichkeit auf die Figuren", findet Ronny von Wangenheim in den Ruhrnachrichten (29.9.2024): "Wenn sie immer wieder die Bretter und Pfeiler ordnen und zusammenlegen, scheint auch die Hoffnung durch, das Leben wieder neu aufbauen zu können." Gleichzeiti hätten "ein paar Striche" der Inszenierung gut getan. Das Durchhalten lohne sich aber besonders für das Ensemble, das besonders im "zweiten Teil, in dem dann doch ungeschönte und bittere Wahrheiten ausgesprochen werden", glänze.
Johan Simons räume die bürgerliche Fassade des amerikanischen Traums gleich am Anfang ab, "zwischen den Trümmerteilen sucht sich fortan jeder sein Plätzchen", so Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (1.10.2024). In die Figuren werde hinein gehorcht, sie berappeln sich, "um mit eigensinnigen Lebensbeschreibungen und kursiven Rechtfertigungen eine Hoffnung auszudrücken". Das gelinge mit bittersüßem Humor und einer leichten Melancholie. "Das Ensemble bietet immer wieder tragische Miniaturen" und Simons' Bühnenrealismus klopfe O'Neills Text auf seine Menschlichkeit ab.
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Doch der Reihe nach: bislang wird mir nicht nachgesagt, dass ich ein großer Fan des Holländers gewesen bin. Zu erratisch bisweilen der Spielplan, zu eigenwillig manche Inszenierung. Immer jedoch waren seine Ideen und Projekte gut geeignet, sich daran kreativ zu reiben.
Der gestrige Abend aber verdient kein polemisches Herabsetzen. Sven Westernströer nennt es in der WAZ eine 'packende Deutung'. Ich gehe einen Schritt weiter: Es ist ein Meisterwerk!
Warum? Das Stück wurde von 0'Neill Anfang der 30er Jahre geschrieben, spielt wohl in den 10er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und wurde in den 50er Jahren erstmals aufgeführt. Und gestern Abend fühlte es sich neu und frisch an, als wäre es gerade erst erfunden worden.
Das Geheimnis? Johan Simons zeigt einen ungeheuren Respekt vor diesem unnachahmlichen Text. Wenig Abweichungen, keine drastischen Streichungen (wie der Kritiker hier unverständlicherweise fordert). Keine Mätzchen. Keine Marotten (mehr). Einige tragende Ideen, die die Inszenierung unvergesslich machen. Man muss nicht alle mögen. Aber sie schaffen eine Unverwechselbarkeit.
Und dann ist da dieses TEAM aus Schauspielern, welches diesen Text so formidabel präsentiert und transformiert. Bezeichnend für den inneren Zusammenhalt, dass sie sich dem prasselnden Schlussapplaus nur gemeinsam hingeben. Die Tyrones lassen sich nicht auseinander dividieren.
Champions League!
Entweder verstehen die Bochumer Zuschauer unter einem emotionalen"Schauspielerfest" etwas anderes als der Bochumer WAZ- Theaterkritiker, oder aber die Theaterbesucher haben hier von Simons Theaterphilosophie in der heutigen Zeit die "Nase gestrichen voll": Ein Theater des Scheiterns der menschlichen Existenz! -"Reflexionen aus einem beschädigten Leben" (Adorno)!
Simons zeigt in 0``Neillls Familientragödie zwar Krüppelexistenzen, besonders im zweiten Teil nach der Pause, aber eine Ergriffenheit beim Zuschauer kam nicht so recht auf; der Schlußapplaus war höflich an dem Abend, mehr aber auch nicht!
So liegt das Problem wohl bei Simons Regietheater: Dieser geschichtslose Nihilismus "erschlägt" das zu emanzipierende Subjekt im Bochumer Theater!!
Eine Trümmerlandschaft auf der Bochumer Bühne ist eben kein "Theater für alle, die sonst nie ins Theater gehen." (J. Simons)!