Welt ohne Rückgrat

von Dorothea Marcus

Bonn, 25. Januar 2018. Es war wohl eine historische Zäsur. Und es war schon wieder ein 9. November: die Nacht, in der Donald Trump die US-Wahlen gewann. Der Abstand zu jenem mythischen 9. November 1989, an dem die Mauer fiel und der das Ende des Sozialismus markiert, könnte nicht größer sein. Mit der Thematisierung der US-Wahl und seinem Stücktitel markiert Autor Thomas Melle etwas, was er als Zeitenwende ansieht: das Ende des Bürgertums, seine inhaltliche Entleerung unter Beibehaltung alter bürgerlicher Posen.

Einbruch der Vergangenheit

Auf der Bühne von Cora Saller stehen gleich zwei Fernseh-Attrappen, stumm geschaltet. Man sieht, wie die Landkarte der USA zunehmend einfarbig wird: als bei der US-Wahl 2016 Bundesstaat für Bundesstaat an Donald Trumps Republikaner fällt. Davor füttert Sohn Holm Clarenbach seinen Vater, der nur noch Unzusammenhängendes von sich gibt. Und dann wandert auch schon die ganze gediegene Mittelstandsfamilie Clarenbach herein zu ihrem offenbar sterbenden Patriarchen, um sich zu verabschieden: Holms Geschwister Wiebke und Jasper, dessen Frau, die Kinder Laura, Tilmann und Martin.

 Letzte Buerger1 560 Thilo Beu uFassungslos vor dem Gestern und Heute: Wiebke Schütz (Sophie Basse), Holm Clarenbach (Sören Wunderlich), Im Video: Tessa Clarenbach (Sophie Basse) @ Thilo Beu

Zuerst stehen sie da nur ganz statisch und steif vor schwarzer Lamellenwand und plaudern hölzern Banalitäten, doch bald bricht die Vergangenheit ein: 1989, die Mauer öffnet sich. Historische Jubelaufnahmen werden auf das Gaze-Fensterloch in der Wand projiziert, gegengeschnitten mit Aufnahmen der Bonner Familie Clarenbach in der Vergangenheit, die mit offenem Mund auf den Fernseher mit den fernen Ereignissen in Ostdeutschland blickt,  während der Vater sorgenvoll und hektisch zu telefonieren beginnt. Denn die so normal wirkende Familie ist schon vor Jahrzehnten zerbrochen: Der Vater wurde 1990 als DDR-Spion enttarnt und kam ins Gefängnis, die Familie stand plötzlich vor den Trümmern ihres Weltbildes. Dass sich keins ihrer Mitglieder davon je erholt hat, hat ihnen Thomas Melle deutlich eingeschrieben: "Mein Leben ist eine Lüge, obwohl ich gar nicht gelogen habe", sagt Jasper (Holger Kraft) einmal treffend, der pleite und gierig auf das Erbe schielt.

Gescheiterte der Gegenwart

In der Bühnengegenwart fahren bald alle Wände hoch und geben den Blick frei auf düsteres Parkett mit tristem Standardsofa und den Gescheiterten, die in der Gegenwart die Familie Clarenbach ausmachen: Holm ist nie recht aus dem Elternhaus weggekommen und war letztlich derjenige, der den eigenen Vater denunzierte, Wiebke (Sophie Basse) ist eine vereinsamte Techno-Ausgehfanatikerin und Familienhasserin mit rechtsradikalem Sohn (Hajo Tuschy). Der entfaltet auf dem Sessel auch gerne mal wie Björn Höcke die Deutschlandfahne. Die anderen Kinder (Lena Geyer, Daniel Gawlowski) kreisen vor allen Dingen um sich selbst. Ist es bei so viel egozentriertem Mittelmaß nicht geradezu heroisch, als Agent der DDR immerhin idealistisch für eine vermeintliche Utopie eingetreten zu sein?

Letzte Buerger2 560 Thilo Beu uFamilienaufstellung mit Sofa: Jasper Clarenbach (Holger Kraft), Laura Clarenbach (Lena Geyer), Holm Clarenbach (Sören Wunderlich), Wiebke Schütz (Sophie Basse), Tilman Clarenbach (Daniel Gawlowski) © Thilo Beu

Thomas Melle stellt die Frage immer wieder in den Raum, während er die Gegenwartsdarsteller floskelhaft und rückgratlos zeichnet, die Mutter als Trinkerin, den Jungen Holm als Nesthocker. Viele Rückblenden hat Melle in sein Auftragswerk für das Theater Bonn gebaut, der 1975 selbst in Bonn geborene Erfolgsautor, der schon dreimal für den Deutschen Buchpreis nominiert war, mit Bilder von uns fast den Mülheimer Stückepreis gewann und dessen auf die Bühne gebrachter grandioser Roman über seine manische Depression Welt im Rücken am Wiener Akademietheater alle Zuschauerrekorde bricht.

Familienaufstellung mit Ausbrüchen

Regisseurin Alice Buddeberg projiziert diese Rückblenden stets als voraufgezeichnete Videos, jeder Darsteller spielt darin einen anderen Protagonisten als auf der Bühne, das ist einerseits recht verwirrend und andererseits etwas zu vorhersehbar. Schade auch, dass sich die Darsteller jeder Interaktion berauben, wenn die Vorgeschichte aus der Leinwandskonserve entsorgt wird. Aber auch Melles sonst so gerühmte Sprache wirkt in "Der letzte Bürger" zuweilen flapsig, umgangssprachlich und sogar platt bis vulgär – es wird ziemlich oft "Scheiße" oder "geil" gerufen und kräftig gekalauert. Auch wenn in schön bildungsbürgerlicher Attitüde doch auch immer wieder über Beuys oder Houellebecq geplaudert und das Mahler-Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen" gesungen wird.

Steif wie bei einer Familienaufstellung bewegen sich die Protagonisten durch den Raum und lassen die Konflikte, die sich oft am Agentenvater entzünden, untereinander gehässig aufbrechen: Asthmasprays werden zertreten, brüderliche Prügeleien und kreischende Ehezwists ausgetragen, während sich der demente Vater öffentlich das Geschlechtsteil reibt oder seinen Kopf in den Schoß seiner ehemaligen Geliebten Lupo (Ursula Grossenbacher als einzige sympathische Figur des Abends) bettet: der vermeintliche Verräter, der einzige von ihnen, der überhaupt für etwas eintrat, hat sich ins Vergessen geflüchtet.

Terror der Ego-Hipster

Das Bürgertum in sich haben sie alle letztlich verloren: entweder wie die Jungen ans Internet, oder wie die Mittelalten ans zurückgezogen Private. Doch auch wenn an der These etwas dran sein mag, dass mit Vater Clarenbach der letzte engagierte Kämpfer und wahre Bürger ausstirbt und mit der Machtübernahme des Horrorclowns Trump das Unpolitische und Ungebildete vollends übernommen hat, so gewinnt sie hier keine überzeugende Gestalt. Zu geschwätzig wirken die Dialoge, zu holzschnittartig werden von den Darstellern die Konflikte ausgetragen, zu konstruiert die jeweiligen Traumatisierungen abgehandelt. Die Familie Clarenbach und die Zeitenwende vom engagierten Bürgertum zum heutigen Ego-Hipster – so richtig mag das an diesem Abend nicht einleuchten.

 

Der letzte Bürger
von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Alice Buddeberg, Bühne: Cora Saller, Kostüme: Emilia Schmucker, Musik: Stefan Paul Goetsch, Video: Joscha Sliwinski.
Mit: Sophie Basse, Lena Geyer, Daniel Gawlowski, Holger Kraft, Wolfgang Rüter, Birte Schrein, Hajo Tuschy, Sören Wunderlich,
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater-bonn.de



Kritikenrundschau

"Obwohl der Abend nur zwei Stunden dauert wird es einem doch ziemlich lang", berichtet Ulrike Gondorf im Gespräch für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (25.1.2017). Die Inszenierung des Melle-Textes mutet der Kritikerin steril an. "Es gibt wenig Spielanlässe und wenig psychologisches Futter und wenig Plausibilität. Man kann nicht von starken Schauspielern erzählen am heutigen Abend, weil man auch nicht von starken Menschen erzählen kann, die da griffig werden in dieser dramatischen Vorlage und in dieser Inszenierung."

"Die große Politik hat die private Keimzelle Familie zerstört – um diese wenig originelle Perspektive kreist das Stück“, berichtet Nicole Strecker für die Sendung "Mosaik" auf WDR 5 (29.1.2018). Es "klebt dabei in den psychologischen wie politischen Motivationen fest am Klischee". Alice Buddeberg glinge es "weder die vielen losen Enden in Melles überambitioniert ungenauem Stück zu bündeln, noch Charaktere herauszuarbeiten aus den diversen gesellschaftlichen Positionen (…)."

Melles Stück "spielt mit einem klassischen Element des Familiendramas – dem Zerbrechen der Kinder an den Verfehlungen ihrer Eltern. Nur dass dieser Mechanismus hier von der Enkelgeneration wunderbar süffisant enttarnt wird." So schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (1.2.2017). Alice Buddeberg inszeniere die "Uraufführung als beißenden, vielschichtigen und überraschend komischen Drei-Generationen-Clash, in dem die Fetzen fliegen."

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