Verlass ist nur auf die Frauen

23. Februar 2023. Simon Solberg, der regelmäßig Klassiker einer radikalen Verjüngungskur unterzieht, lässt in Bonn das Gynt'sche Ich in weniger als zwei Stunden durch die Welt und damit durch Peers Kopf rauschen. Ein Leben auf der Überholspur – bis zur Vollbremsung am Schluss.

Von Gerhard Preußer

"Peer Gynt" in der Regie von Simon Solberg am Schauspiel Bonn © Thilo Beu

23. Februar 2023. Ein Peer Gynt von heute – was wäre das für einer? Einer, der sich in immer neuen Projekten verausgabt und doch alles wieder stehen lässt, einer, der Großes will und nichts zu Ende bringt, ein Getriebener des Selbstverwirklichungsimperativs, ein Kurator seines Lebens, der sein schönes Leben doch nur aus Versatzstücken des Zeitgeists zusammenmontiert und am Ende feststellen muss, dass er nur bedeutungsloser Durchschnitt war, keine Singularität.

Alle bleibt in Peers Kopf

So einen wollte Simon Solberg in seiner Bonner Inszenierung von Ibsens "Peer Gynt" wohl zeigen. Als Selbstdarsteller tritt er ans Mikrophon und erzählt uns die Geschichte vom Ritt auf dem Rehbock über den Berggrat und haut dabei kräftig auf die Pauke – eine Lügengeschichte, wie Mutter Aase schnell bemerkt; Vater Jon (den es bei Ibsen nur in Erzählungen gibt) pustet dazu einmal in die Tuba. Simon Solberg versteht alles äußere Geschehen, in das sich Peer hineinwirft, als Geschehen in seinem Kopf. So bleiben Mutter Ase, Vater Jon und Freund Mats immer auf der Bühne präsent und kommentieren Peers Lebensschritte. Und Peer spaltet sich in zwei, dann drei miteinander diskutierende Ichs.

Doch Ibsens "Peer Gynt" ist nur nicht nur ein dialogisiertes Gedankenspiel. Es ist ein Stück vollgepfropft mit Aktionen, eine Reise durch die Welt. Auch das muss man auf die Bühne bringen. Dazu hat sich Simon Solberg ein fahrbares Gerüst aus Metallstangen konstruieren lassen, in dessen Nischen die sechs Schauspieler:innen sitzen und verschiedene Figuren verkörpern. Nach der Schwindelei vom Bockritt kommt der Brautraub, und der gibt den Anlass für einen kessen Dialog zwischen Lydia Stäubli als Ingrid und Timo Kählert als Peer. Diese Braut lässt sich nicht einfach rauben und dann verlassen. In schönstem Schweizerdeutsch kehrt sie den Spieß um und schreit: "Peer hat mir Gewalt angetan"; er fragt nur mannsdumm und verständnislos: "Was, meinst du, hab ich im Wald getan?"

Verwirrung der Begriffe

Doch Peers Leben ist lang und die Geduld des Regisseurs wohl nicht, also geht es weiter. Die grüne Trollfrau ist ein Mann (Alois Reinhardt) und wird schnell ziemlich rabiat, wenn sie Peer den entscheidenden Spruch beibringt: Der Mensch sagt "Sei nur du selbst", der Troll aber "Sei nur dir selbst genug". So wird bei Ibsen Pindars berühmte Formel, "Mensch, werde, der du bist" ins Trollige verkehrt. Und die Trollmaxime, nicht über sich hinauszugehen, wird das Lebensmotto Peers, des erfolglosen Selbstsuchers.

PeerGynt1 Thilo BeuDer zweifache Peer (Wilhelm Eilers, Timo Kählert) probiert schon die Kaiserkrone, links daneben Bernd Braun (mit Tuba) und Alois Reinhardt © Thilo Beu

Bevor er zu der Erkenntnis kommt, dass da nichts ist, kein Kern im Innersten des Bewusstseins, muss er noch Projekte schmieden. Er findet Solveig (auch Lydia Stäubli), die Geliebte, und verlässt sie gleich. Kaiser will er werden und das singt er in verschiedenen Versionen. Schließt rappt er seinen Wunsch zu Schlagzeuggedröhn.

Die Episoden in Marokko und in der Wüste verkürzt die Bonner Inszenierung radikal. Nur für ihn als Wüstenpropheten dürfen alle kurz tanzend mit weißen Tüchern wedeln. Die Irrenhaussatire, in der Doktor Begriffenfeld verkündet, dass die "reine Vernunft" (bei Ibsen die "absolute Vernunft", also Hegel, nicht Kant!) gestorben sei und nun alle Irren normal und alle Normalen irr geworden sein, huscht vorbei, ohne dass man begreifen könnte, welche Begriffe Begriffenfeld dabei verwirrt. Der Schiffbruch des alten Peer vor Norwegen ist ein Wassergeplantsche, indem sich drei Peers mit einem Schiffskoch um eine große Trommel balgen.

Nur der Materialwert bleibt 

So reiht die Inszenierung zügig Aktion an Aktion und erst am Ende, im Dialog mit dem Knopfgießer, erreicht sie das gedankliche Zentrum des Stücks. Alle Figuren, die ihm in seinem Leben begegnet sind, treten auf und halten ihm vor, dass er nur sich selbst beachtet und nichts geändert, nicht bewirkt, nicht vollendet hat. Deshalb wird er als "unnützer Knopf an der Weste der Welt" eingeschmolzen. Nur der Materialwert bleibt für eine neue Form.

PeerGynt2 Thilo BeuSolveig (Lydia Stäubl), die Erbauerin und Peer (Timo Kählert), bei dem die Luft raus ist © Thilo Beu

Die Rückkehr zu Solveig bleibt glücklicherweise frei von all dem Kitsch, den Ibsen von Goethe abgeschrieben hat. Solveig hat nicht "geharrt", sondern "gehauen und gebaut". Damit wiederholt sie, was Peer zu ihr gesagt hat, als er für sie eine Hütte im Wald gebaut hat. Diese Solveig ist kein Heimchenweibchen, sondern eine Häuserhauerin. Auch als Peer stirbt, verlässt sie der Mut nicht: "Wenn man nur ein recht kräftiges Gewissen hätte, dann getraute man sich zu tun, was man am liebsten möchte."

Der Peer von heute, er wandelt eilig durch die Welt. Der Zuschauer wackelt mit dem Kopf und versucht zu folgen, bis er am Ende versteht, ach so geht "Verfehlte Liebe, verfehltes Leben" (Heine). Verlass ist nur auf die Frauen, die sind nicht mehr so, wie sie im 19. Jahrhundert angeblich waren.

 

Peer Gynt
von Henrik Ibsen
In einer Bearbeitung von Simon Solberg
Inszenierung und Bühne: Simon Solberg, Kostüme: Katja Strohschneider, Licht: Boris Kahnert, Dramaturgie: Male Günther.
Mit: Birte Schrein, Lydia Stäubl, Bernd Braun, Wilhelm Eilers, Timo Kählert, Alois Reinhardt; Musiker: Philip Mancarella, Sue Schlotte.
Premiere am 22. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-bonn.de

 
Kritikenrundschau

Simon Solberg führt "Peer Gynt" sprachlich, musikalisch und modisch an die Gegenwart heran, schreibt Dietmar Kanthak im Bonner General-Anzeiger (24.2.2023). "Komödie und existenzielles Pathos kommen zu ihrem Recht, theatermärchenhafte Oberflächenreize und lebensphilosophische Tiefe befinden sich in glücklicher Balance" und  Beziehungsstrukturen beobachte die Inszenierung wie unter einem Mikroskop. Fazit: "Bewegt und bewegend zugleich. Ein Vergnügen und eine emotionale und intellektuelle Herausforderung." 

Simon Solberg überhäufe den Stoff mit Effekten, schreibt Thomas Kölsch schreibt in der Rhein-Zeitung (25.2.2023). "Der Text selbst, ohnehin schon ein seltsames Konvolut aus gereimter Morgenstern-Übersetzung und moderner Prosa, wird durch diese Effekthascherei immer wieder in den Hintergrund gedrängt und zur Nebensache reduziert, anstatt auf seine Kraft zu vertrauen und auf die Schauspieler." Immerhin: Der Kritiker lobt Timo Kählert als "überragend".

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