Unsere Welt neu denken - Schauspiel Bonn
Neues Denken gegen alte Theorie
von Gerhard Preußer
Bonn, 11. September 2021. Wenn es darauf ankömmt, die Welt zu verändern, muss man sie erstmal neu denken. Maja Göpel ist Transformationsforscherin, also Expertin für Weltveränderung. Ihr Angriffsziel ist die einflussreichste Denkrichtung der Gegenwart: die neoklassische Wirtschaftstheorie. Aber Theoriekritik ist als Veränderungshebel unwirksam, solange es beim Disput der Experten bleibt. Popularisierung und Vermittlung sind entscheidend. Deshalb hat Maja Göbel nach ihrem wissenschaftlichen Werk "The Great Mindshift" einen Bestseller geschrieben: "Unsere Welt neu denken", eines der erfolgreichsten Sachbücher des letzten Jahres. Und folgerichtig landet das Buch auch im Theater wie schon Yuval Hararis Kurze Geschichte der Menschheit. Gute Argumente muss man überall verbreiten, aber mit welchen Mitteln?
Missverhältnis zwischen Mensch und Natur
Simons Solbergs Inszenierung des Göpelschen Buches mit zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspielern setzt auf Textrezitation, Emotionalität und Interaktion mit dem Publikum. Anfangs kommt Annika Schilling mit dem Buch auf die Bühne und liest nur die biografischen Daten der Autorin vor. Aber dann folgt ein rasender Ritt durch die Real- und Theoriegeschichte der Menschheit vom Urknall zum Christentum, zu Columbus, Galilei, Adam Smith bis Milton Friedman: alles falsch, alles nur die Gegenüberstellung von Mensch und Natur statt der Integration des Menschen als Teil der Natur, alles nur die wohlstandsfördernden Wirkungen des Egoismus statt der Orientierung an den Grenzen des Wachstums. Hinten laufen die Jahreszahlen vorbei, auf dem Bühnenportal sieht man Bilder und Namen der schuldigen Wirtschaftstheoretiker.
Zwar hält man sich oft an den Wortlaut des Buches, aber Interaktion muss sein, weiß die Theaterdidaktik, damit das Publikum wach bleibt. Das kann jeweils zwischen drei Beispielen wählen: für das Missverhältnis von Mensch und Natur stehen die Krabbenproduktion, die Walmart-Biene und die Hühnerzucht zur Auswahl. Für die Kritik am bedingungslosen Wirtschaftswachstum kann man zwischen dem Easterlin-Paradox( Mehr Wohlstand macht nicht glücklicher), der Rolle der Arbeit im Buddhismus und dem Blick auf die Erde aus dem All wählen. Und je nach der Mehrheit der erhobenen Hände werfen sich die Schauspieler:innen dann in diese oder jene Episode.
Rebound-Effekte überall
Kurz werden auch gelegentlich Rollen oder Typen angedeutet: die brave Hausfrau, die sich in den 20er Jahren verzückt in den Erwerb von Haushaltstechnologie stürzt und feststellen muss, dass sie nur ärmer wird. Und der Mann im goldenen Anzug (Daniel Stock) als homo oeconomicus, der von Adam Smith bis Ronald Reagan alle Bösen verkörpern darf und der für seinen Beweis, dass auch noch ein Unfall auf der A3 das Bruttoinlandsprodukt steigert, die meisten Lacher erntet.
Zur Veranschaulichung des rebound-Effekts, der darin besteht, dass bei Reduktion der Umweltschädlichkeit eines Produkts durch Folgewirkungen der Umweltschaden zunimmt - dass zum Beispiel die Produktion der Batterie eines E-SUVs soviel Co2 freisetzt, wie ein sparsames Benzin-Auto in vier Jahren ausstößt - wird ein alter Golf auf die Bühne gefahren. Die Kauflust der Wirtschaftswunderjahre, der Trente Glorieuses, rollt auf Einkaufswagen daher.
Und wenn die Informationen, Zahlen und Argumente in der Präsentationsgeschwindigkeit nicht mehr zu erfassen sind, bleibt noch die Emotion als Botschaft. Und die wird gesteigert bis zum Kollaps. Alois Reinhardt will eigentlich nur erklären, wie sich der Schleier des Nichtwissens bei dem Philosophen John Rawls auf sie Wohlstandverteilung einer Gesellschaft auswirkt, steigert sich dann aber in ein Zahlenwerk von Prozentzahlen und Billionbeträgen über die global rasant wachsende Ungleichheit von Reich und Arm hinein, bis er erschöpft abbricht. So gelangt Solbergs Öko-Agitprop-Show über die bloße Bebilderung der Thesen Göpels hinaus und wird vom seit eineinhalb Jahren theaterentwöhnten Bonner Publikum bejubelt.
Veränderungskraft beschwören
Etwas versteckt bleibt eine der erfreulichen Spätfolgen des Lockdowns: die Bonner Inszenierung ist vernetzt mit Theatern in Bern, Mainz, Frankfurt, München, Stuttgart und Kiel. Diese Theater haben jeweils kurze Videos zu den Themen des Abends gedreht, die in einem digitalen Programmheft zu sehen sind. So stammte die bei der Premiere vom Publikum gewählte Episode über die Nordseekrabben eigentlich vom Theater Kiel.
Am Ende wird ernst gemacht mit dem neuen Denken. Alle vier Darsteller:innen gehen in sich mit derselben therapeutischen Formel: "Ich verabschiede mich von der Vorstellung ... sie war ein berechtigter Teil meines Lebens ... ich lasse sie gehen mit der Überzeugung, dass ich künftig ..." Die Vorstellung kann sein: die Angst vor dem sozialen Abstieg, die Vorstellung, dass Konsum glücklich mache oder dass Geld der einzige Wert sei. So wird dem Publikum vorgebetet, was es verinnerlichen soll. Die Veränderungsmacht der vielen geläuterten Vorstellungen wird beschworen. Allerdings führt der Weg vom neuen Denken der Einzelnen zur Veränderung der Welt immer noch über die Politik.
Unsere Welt neu denken
Eine Einladung
nach Maja Göpel
Inszenierung und Bühne: Simon Solberg, Musikalische Leitung: Lukas Berg, Kostüme: Katja Strohschneider, Licht: Sirko Lamprecht, Dramaturgie: Jan Pfannenstiel
Mit: Linda Belinda Podszus, Annika Schilling, Alois Reinhardt, Daniel Stock.
Premiere am 10. September 2021
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theater-bonn.de
"In der von Simon Solberg verantworteten Popularisierung des populärwissenschaftlichen Buches nimmt sich Göpels Verständnis von Wissenschaft seltsam idealistisch aus, kritischer gesagt: wie eine Variante magischen Denkens", schreibt Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.9.2021). "Die Schauspieler schreien, und die lebenden Schaubilder illustrieren das Trügerische der Abstraktion des Homo oeconomicus mit den primitivsten Vereinfachungen. Dieser Diskurs erübrigt jede Rückfrage: eine Einladung zur Zustimmung."
Solbergs Team gelinge das Kunststück, aus einem großen populärwissenschaftlichen Essay einen sinnlich überzeugenden Theaterabend zu machen, schreibt E. Einecke-Klövekorn im Bonner Generalanzeiger (13.9.2021). Kurzweilig sei die Inszenierung. Göpel spreche in ihrem Buch die Leser*innen oft direkt an. "Diese dialogische Struktur wird dramatisch ausgebaut und zudem musikalisch erweitert."
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Und gerade im Wahlkampfzeiten sehr wohltuend, kein rumgeiere, sondern klare Aussagen !!
Ein Buch bietet den Leitfaden der Aufführung, in dem die Schauspieler immer wieder blättern (wahrscheinlich das Sachbuch der Autorin Maja Göpel) und dann nach kurz zitierten Sätzen ihre vielleicht staunenswerten Verrenkungen machen. Das Publikum bekommt von den vier Akteuren eine Revue von Belehrungen, teils auch in Form von anthroposophisch anklingenden Predigten, mit Inhalten, wie in einem Volkshochschulkursus aufgedrängt, die jeder 1.Semester-Student der Ökonomie auswendig kennt. Dabei geht es in absurden Zeitsprüngen im Mischmasch und unter Auslassungen durch die Geschichte von Lehrmeinungen sowie von politischen und wirtschaftlichen Tatsachen. Die betreffenden Autoren werden mit Bild und Lebensdaten auf Seitenwänden gebeamt. Nebenbei bemerkt, Marx c.s. gehört nicht dazu. Während der pausenlosen Aufführung mit vier Schauspielern und im Hintergrund einer dreiköpfigen Musikergruppe wird herumgetobt und fast durchwegs sehr laut zum Publikum geschrien. Zwischendurch wird es mit dümmlich-trivialen Fragen mit jeweils drei vorgegebenen Antworten konfrontiert, z.B. gleich zu Beginn, ob man Jazz, Hip-Hop oder Klassik-Musik hören wolle. Eine große Mehrheit der in der Premiere Anwesenden hob die Hand bei „Pop“. Wer ins Bonner Schauspielhaus zu einer Schauspielaufführung gekommen war, war hier fehl am Platz.
PS: Man kann sich nur wundern, warum der Schauspieldirektor und der "Hausregisseur" diese Vorlage, besser Machwerk, gewählt haben. Zunächst sollte man zu Beginn der Spielzeit und vor allem nach der langen Pause erwarten, dass dem Publikum eine Aufführung geboten wird, während der möglichst viele, besser alle Mitglieder des Ensembles auftreten können.
Paul Tostorf
Da hilft wohl nur, weitere bürgerinitiative Foren zu gründen, um Ideen, die konsensfähig, mithin realisierbar sind, miteinander umzusetzen. Und die vorhandenen neuen Ansätze (GWÖ u.a.) zu verbreiten.